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1.5.1 Der philosophische Anti-Theater-Diskurs

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Aussagen zu Theater finden sich in Platons Staat und in den Gesetzen; bei ­Aristoteles sowohl in der Poetik als auch in der Politik und besonders in der letzten Fassung seiner Rhetorik. Bevor Aristoteles in der Poetik dem Unwirklich-Unmöglichen, aber Wahrscheinlichen den Vorzug vor dem Wirklich-Möglichen, aber Unglaubhaften gibt und damit zumindest den ästhetischen Schein der Tragödie rehabilitiert75, hatte ­Platon diesen Schein noch ganz auf das Moment des Trügerischen und Betrügerischen reduziert. Platons ästhetisches Ideal der musischen Künste weist den bemerkenswerten Widerspruch auf, dass einerseits eine radikale Ablehnung aller nachahmend-darstellenden Künste erfolgt, andererseits aber die Forderung erhoben wird, der freie Bürger solle sein ganzes Leben in Feiern, Spielen und Tänzen verbringen. Denn „wir selbst sind Dichter eines Dramas, welches, so weit wir vermögen, das schönste und beste werden soll“. Der Lebensprozess ist der Kunstprozess, weshalb es keines weiteren Kunstprozesses bedarf. „Unsere ganze Staatsverfassung besteht nämlich in der Nachahmung des schönsten und besten Lebens, und eine solche soll eben nach unsern Begriffen das wahrhafte Drama sein.“76 Eine Tragödien-Kunst braucht es nicht, weil das Leben im Idealstaat sie übertreffen wird. Auf die gleiche Weise wird später Tertullian argumentieren: Demnächst wird das Jüngste Gericht ein solch gewaltiges Schauspiel bieten, dass es sowieso alle Schauspiele übertrifft, die daher überflüssig sind.77 Je stärker also eine Kunst zu einem weltanschaulichen Konzept in Konkurrenz tritt, desto heftiger wird sie abgelehnt. Dieser Grundsatz steht über allen vorgeschobenen Begründungen. [<< 57]

Platon will pädagogisch diejenigen äußeren Formen des menschlichen Verhaltens – Posen, Gesten, Rhythmen, Intonationen – herausarbeiten, die den Menschen sofort einen bestimmten ethischen Impuls, ein bestimmtes sittliches Erlebnis vermitteln; er will durch Äußeres auf das Innere in jedem Menschen einwirken und es formen. In seiner Beschreibung des Tanzes in den Gesetzen ist die Nachahmung unmittelbar mit dem Lebensprozess verflochten und wirkt als dessen Ritualisierung. So bestehe zum Beispiel kein Unterschied zwischen dem Kriegstanz, der alle beim Kampf auftretenden Bewegungen genau nachvollzieht, und dem allgemeinen Leben der Griechen etwa zur Zeit Homers. Diese Nachahmung ist ein notwendiges Mittel, um das Ethos zu schaffen, ohne welches die Kriegstaten jener Zeit unmöglich gewesen wären. Sie ist Bestandteil des kollektiven Erlebens. Schön ist daran allein der Zweck: Die Bewegungen des Tanzes, die das Verhalten des Menschen im Kampf, seinen Mut, seine Gewandtheit und seine Ausdauer beim Erreichen seines Zieles imitieren, müssen von allen in der entsprechenden Tradition Erzogenen unmittelbar als schön empfunden werden. Ähnlich fixiert und sozialisiert der Friedenstanz die Gesten und Posen von Menschen, die entweder nach eben erst überstandenen Mühsalen und Gefahren des Lebens zum Glück gelangt sind oder das früher schon vorhandene Glück mehren. Die „schönen Tänze“ werden nach zwei Gattungen unterschieden und erhalten einen geziemenden Namen, die kriegerischen den der Pyrrhiche und die friedlichen den der Emmeleia.

„Alle diese Dinge nun soll der Gesetzgeber in Mustern darlegen und der Gesetzverweser aufsuchen, und wenn er dergestalt alles Nötige aufgefunden, so soll er den Tanz mit der musischen Kunst in Verbindung setzen und so für alle Feste, ja für jedes Opfer den angemessenen Gesang und Tanz verordnen und so diesem Allem eine feste und geheiligte Ordnung geben, dann aber in der Folge sich weder mit dem was zum Tanze, noch mit dem was zum Gesange gehört die geringste Veränderung mehr erlauben, sondern die Gemeinde soll im gleichen Genusse der gleichen Freuden stets unverändert dieselbe bleiben und alle Bürger und in möglichster Gleichheit ein gutes und glückseliges Leben führen.“78

Kreativität ist genauso ausgeschlossen wie freie Zeit, über die die Bürger nach Gutdünken verfügen könnten. Die von oben erlassene Ordnung ritualisiert die in Festen und Reigentänzen hingebrachte Zeit ebenso wie Tanzbewegungen und Gesänge. Der Zwang zur Teilnahme verkehrt Freizeit in ihr völliges Gegenteil. Man entfernt alles [<< 58] nicht pädagogisch Wertvolle, das der Eigengesetzlichkeit und der Selbstgenügsamkeit eines Genusses dienen oder gar zur Muße verführen könnte. Dies erstreckt sich sogar auf Tragödie und Komödie.79 Für Platon stehen tragische Dichter und Schauspieler auf der einen und Gesetzgeber und Gesetzesbewahrer auf der anderen Seite: „Dichter in dem gleichen Fache“, aber „Nebenbuhler“ und „Mitbewerber“ bezüglich „des schönsten Dramas“.80 Da die tragische Kunst aber nur einen Trug, etwas Zeitliches und Vergängliches darstellen kann, vermag sie auch nur eine trügerische, falsche und illusorische Schönheit darzustellen, obwohl sie sie hartnäckig als wahr hinzustellen versucht. Die Gesetzgeber und Politiker des idealen Staates dagegen geben die eigentliche Wahrheit, die allgemeine Gerechtigkeit wieder; sie wirken nicht mit im trügerischen Theater, sondern auf der Bühne des Lebens (Lebenstheater), wo jedes ihrer Werke zum faktischen Sein wird. Darstellende Künstler, darunter auch die Dichter, laufen jedoch der Menge nach. Vor ihrem Werk sind alle gleich, ungeachtet ihrer persönlichen Fähigkeiten, und sie urteilen auch so. Wenn Sokrates im Staat den enormen psychologischen Einfluss der öffentlichen Meinung auf jedes einzelne Individuum schildert, wird Theater auch wegen seines Charakters einer Massenkunst abgelehnt, die zum Mitgenießen fremder Leidenschaft und zum Mitleiden führt. Überhaupt hält er Katharsis für gefährlich, weil sie im normalen Leben die Selbstkontrolle aufhebt. Die Tragödie ist absolut zu verwerfen, zur Komödie folgt die Einschränkung, dass es ohne das Lächerliche unmöglich sei, von dem Ernsten einen richtigen Begriff zu erlangen. Soweit sie nur auf das Lächerliche angelegt ist und in Sprache und Gesang, in Tanz und sonstigen Darstellungsmitteln zu diesem Zwecke die „Darstellung unschöner Körper und Gemüter“ zeigt, könne man ihre Darstellung „Sklaven oder gemieteten Fremdlingen“ überlassen. Man soll zwar wissen, wie Komisches zustande kommt, um das Ernste zu schätzen, aber Lächerliches selbst auszuführen muss man vermeiden.81

Die musischen Künste, insbesondere Tanz und Theater, besitzen schon lange etwas, was die Staatsutopie eines einzelnen Denkers rationalistisch umzusetzen sich erst anschicken will. Diese Künste – seien sie nun beliebt oder nicht, gehören sie zu den menschlichen Grundbedürfnissen oder nicht – sind proteisch, unausgerichtet, sie mäandern. Sie bilden das Gegenteil eines zielgerichteten Entwicklungsprojekts, stören oder verhindern es eher durch ihre Vielgestaltigkeit, weshalb sie auszugrenzen sind. Dafür wird ein eigener Wahrheitsdiskurs entworfen. [<< 59]

Dichter und Darsteller lügen. Die philosophische Rückschau aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. auf den Ablösungsprozess von der oralen Kulturstufe mündet in einem Paradox: Dichtung ist Fiktion mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad. Der Dichter teilt nicht unbedingt mit, „was wirklich geschehen ist“, wie es der Geschichtsschreiber tut, sondern eher, „was geschehen könnte“, „das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“.82 Fiktion ist nun aber genau das, was bisher als „Die-Unwahrheit-Sagen“ oder eben als „Lüge“ bezeichnet wurde. Lügen die nachahmenden Künstler, Dichter und Darsteller? Auf jeden Fall kann das tatsächlich Geschehene, wenn Dichtung Fiktion ist, nicht ihr Maßstab sein. Zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert diskreditiert die kritische Weltsicht der sich herausbildenden Philosophie und Geschichtsschreibung zunehmend die Dichtung, die man einem Legitimationszwang unterwirft. Durch die physische Anwesenheit des museninspirierten Sängers und den behauptenden Gestus des Rhapsoden schien anfangs die Wahrheit des Gesagten gewährleistet zu sein. Doch zwischen Homer und Aristoteles wandelt sich die Gesellschaftsstruktur, verbreitet sich die Schrift, löst sich die orale Kultur weitgehend auf, bricht sich wissenschaftliche Rationalität Bahn. Der durch die Musen inspirierte Dichter – oder der vom Fuchs inspirierte Äsop – rücken unwiederbringlich in die Vergangenheit. Lesende und Schauende differenzieren zunehmend zwischen faktischer und künstlerischer Wahrheit, die in der Mimesis (Darstellung) von Dichtung und Theater zu finden ist.

Auf den Bühnen werden die dramatischen Dialoge kontrovers geführt. An ihnen sind mehrere Sprecher beteiligt. Wer also hat Recht? Wer vertritt die Wahrheit? Den Dialog wörtlich zu nehmen hätte bedeutet, den Schauspieler mit dem dargestellten Helden zu identifizieren. Dies verhindern aber jene Spezifika der Präsentation, die an eine reflexive Einstellung des Publikums appellieren: das Tragen von Masken, das Spielen sämtlicher Frauenrollen durch Männer, die verfremdende Theatermaschinerie. Sie entrücken die Vorgänge dem, was unmittelbar als wahr anzunehmen ist. Ein Feuerwerk phantastischer Einfälle der Alten Komödie erhebt Irrationalität geradezu zum Prinzip. Vor allem aber: Wie wahr kann eine Dichtung sein, die immer neue tragische Stücke über die immer gleichen mythischen Stoffe zeigt, wobei sich die Innovationen nicht nur wie bei den Rhapsoden in neuen Akzenten und Sichtweisen erschöpfen, sondern auch neue Handlungselemente und neue Figuren erfunden werden?

Je mehr das Wahrheit-Lüge-Schema philosophisch zum Maßstab erhoben wird, desto unüberbrückbarer erscheint der Kontrast zwischen Dichtung und wissenschaftlicher [<< 60] Prosa. Wissenschaft fördert Erkenntnis, Dichtung höchstens Vergnügen. Letztere lügt, Geschichtsschreibung berichtet Wahres. Die Verschiebung erfolgt im 5. Jahrhundert, als in dichter Folge Dramen erscheinen. Tragödien- und Komödienwettbewerbe finden statt, Theater avanciert zur festen Institution der griechischen Polis. Die Theorie spricht von Lüge und die Praxis ignoriert dies. Platon schließt die Dichter aus seinem Staat aus, obwohl sie sich gerade im perikleischen Zeitalter so intensiv um die Verbesserung des Gemeinwesens verdient machen. Später erkennt Aristoteles die Bemühungen der Dramatiker an, aber erst zu einer Zeit, als Drama und institutionalisiertes Theater ihre gesellschaftliche Bedeutung schon einbüßen.

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