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Wenn ein Notfall besteht

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Um die Ausbreitung des Virus einzudämmen oder wenigstens zu verlangsamen, ergriffen Staaten auf der ganzen Welt außergewöhnliche Maßnahmen, um ihre Bürger*innen an ihr jeweiliges Zuhause zu ketten. Mit verschiedenen Abstufungen hinsichtlich ihrer Strenge wurden Lockdowns umgesetzt. Die europäischen Restriktionen verboten etwa den Kontakt mit mehr als einer anderen Person (Deutschland), das Verlassen des Hauses ohne Berechtigungsschein (Frankreich), das Verlassen des Hauses ohne Elternteil bei unter 18-Jährigen (Polen), die Ausreise aus der Heimatregion (Italien) oder das Picknicken im Park, Kneipen- und Restaurantbesuche sowie den Empfang von ausländischen Gästen (die meisten Länder). Bis Anfang April hatte sich die Mehrheit der menschlichen Spezies zu der einen oder anderen Variante eines Shutdowns verpflichtet. Und niemals zuvor war das spätkapitalistische business as usual so dermaßen außer Kraft gesetzt.

Alle Bemühungen richteten sich auf die Bekämpfung der Pandemie, wobei zwischen »systemrelevanten« und »nicht systemrelevanten« gesellschaftlichen Funktionen unterschieden wurde. Das palastartige Luxusgeschäft Harrods in London wurde letzterer Kategorie zugerechnet; hatte es selbst während der Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg noch geöffnet gehabt, musste es am 20. März 2020 seine Pforten schließen. »Starbucks ist nicht systemrelevant«, beteuerte währenddessen eine Barista in Philadelphia, die eine Arbeiterpetition zur Schließung aller Läden in den USA unterzeichnete. Italien, ein gepeinigter Vorreiter, befahl, den Betrieb aller »nicht systemrelevanten« Fabriken und Unternehmen einzustellen, und nahm lediglich Verkaufsstellen wie Supermärkte, Apotheken und Postämter davon aus. Noch nie hatte man von einem solchen Prinzip gehört: Während manche Produktions- und Handelsformen menschlichen Grundbedürfnissen zugutekommen, sollen andere über keinen legitimen Anspruch auf ungehinderte Einnahmequellen verfügen und können daher umgehend außer Betrieb gesetzt werden.

Folglich hieß das, dass manche Dinge zu produzieren wichtiger war als andere. Eine jener Branchen, die zu diesem Zeitpunkt am offensichtlichsten systemirrelevant war, war die Automobilindustrie, und zwar nicht zuletzt, da jedwede Fabrik Gefahr lief, dem Virus als Treibhaus zu dienen. Mitte März schalteten deshalb die Autogiganten der Welt, von Volkswagen über Honda bis zu Fiat Chrysler, ihre regulären Fertigungsstrecken ab und schickten die Arbeiter*innen nach Hause. Die Just-in-Time-Produktion war ohnehin bereits unterbrochen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Automobilherstellung mit ihrer unübertroffenen Fähigkeit, Robotertechnik, Maschinenbau und Fertigungskompetenzen zugunsten der Ausführung neuer Aufgaben zu mobilisieren, Bauelemente in alternativer Kombination zu montieren und in kürzester Zeit modernste Handelswaren zu produzieren, ein Wunder technologischer Gewandtheit darstellt – man erinnere sich etwa an die Umrüstungen während des Zweiten Weltkriegs. Und so ging es dieses Mal zwar nicht um Panzer und Bombenflugzeuge, sondern um Dinge wie Beatmungsgeräte: Maschinen, die Luft in die Lungen pumpen und Sekrete absaugen, um lebensbedrohlich erkrankte Patient*innen mit Sauerstoff zu versorgen. Dem US-Präsidenten Donald Trump gefiel diese Idee zunächst keineswegs – »wir sind kein Land, das auf der Verstaatlichung seiner Unternehmen beruht«, erklärte er –, und auch die U.S. Chamber of Commerce sprach sich vehement dagegen aus. Schlussendlich aber sah sich selbst Trump dazu gezwungen, den Defense Production Act in Anspruch zu nehmen, der es dem Präsidenten erlaubt, privaten Unternehmen zu gebieten, während einer Krise essenzielle Güter bereitzustellen. GM und Ford fingen an, stillliegende Betriebsanlagen von überflüssigen Gerätschaften zu befreien, die benötigten Bauteile herbeizuschaffen und herauszufinden, wie man Beatmungsgeräte en masse produzieren könne, und zwar in einem Tempo, das jenem der explodieren Pandemie gleichkam. GM gelobte sogar, Profit nicht mehr als oberste Maxime zu verfolgen.

Nachdem sie ebenfalls in das Loch der systemischen Irrelevanz gefallen waren, stellten Modemarken wie Prada, Armani, Yves Saint Laurent und H&M einen Teil ihrer Produktionskapazitäten auf Güter um, nach denen der Gesundheitssektor ausdrücklich verlangte: medizinische Overalls, Gesichtsmasken, Schutzanzüge. Keine kurz geschnittenen Bolerojäckchen oder Wildlederstiefel mit Leopardenmuster mehr. Von Kalifornien bis Dänemark rüsteten Branntweinbrennereien ihre Wodka- und Whiskyproduktion auf die Herstellung von Handdesinfektionsmittel um. Es kam zu wohldurchdachten Verlagerungen der Arbeitskraft: In Schweden wurden Flugbegleiter*innen der mit einem Startverbot belegten Scandinavian Airlines zu Pfleger*innen umgeschult und in die Krankenhäuser gekarrt, was Berichten zufolge zu landesweiten Begeisterungsstürmen führte. Nicht länger zollfreies Parfüm und regalweise Schmuck – jetzt ging es primär darum, Leben zu retten.

In der Notfallsituation wurden die Grenzen des Privateigentums eingerissen, als handelte es sich bei ihnen um Strohhütten während eines Hurrikans: Spanien verstaatlichte auf einen Schlag alle privaten Gesundheitseinrichtungen und wies Unternehmen mit potenzieller Kapazität zur Herstellung medizinischer Ausstattung an, sich den Staatsvorhaben anzupassen, während Großbritannien beinahe so weit ging, sein Eisenbahnsystem zu nationalisieren. Italien wiederum übernahm die nationale Fluggesellschaft Alitalia, schließlich stürzte kein anderer Bereich der Kapitalakkumulation mit einem dermaßen ohrenbetäubenden Krach zu Boden wie die Luftfahrt. Bis Anfang April war die Hälfte aller Flugzeuge weltweit in den Hangars verstaut, London Heathrow schloss eine seiner Start- und Landebahnen und Boeing seine Fabriken, der Massenflugverkehr wurde ins Zeitalter v. C., vor Corona, verbannt. Auch die rücksichtslos verschwenderischste aller Sportarten, die Formel 1, lag brach. Der Autosalon Genf wurde abgesagt. Das alljährlich stattfindende riesige CERAWeek-Treffen der Öl- und Gasmanager in Houston fiel aus: Plötzlich wies das fossile Kapital Lähmungserscheinungen auf. Als dann die Nachfrage einbrach, stellten Ölproduzenten den Betrieb ihrer Bohrinseln und Bohrlöcher ein, da die Preise nicht einmal mehr die Kosten insbesondere der nicht konventionellen Produktion deckten. Fracking näherte sich dem Stillstand. ExxonMobil kündigte an, seine Erschließungen im Permbecken im Südwesten der USA, dem Eldorado des Schieferöls und -gases, zu verlangsamen; insgesamt wurden zwei Drittel der für das Jahr 2020 geplanten Investitionen in eine neue Infrastruktur für die weltweite Öl- und Gasförderung auf Eis gelegt. »Nicht nur ist dies der größte wirtschaftliche Schock unseres Lebens, sondern auch kohlenstoffbasierte Branchen wie etwa die Ölindustrie stehen im Fadenkreuz«, kommentierte Goldman Sachs die Lage. »Dementsprechend ist Öl unverhältnismäßig stark betroffen.« Andere Analyst*innen sprachen davon, dass der Ölsektor mit der schwersten Krise seit einem Jahrhundert konfrontiert sei, was praktisch nichts anderes hieß als die schlimmste Krise seiner Geschichte.

Und dementsprechend stark gingen die Emissionen zurück. China, Ursprung des Ausbruchs und Schauplatz der größten Kohlendioxidschwaden der Welt, war das erste Land, in dem der Himmel aufklarte. Im Februar 2020 ging die Verbrennung von Kohle dort um mehr als ein Drittel zurück, diejenige von raffinierten Ölprodukten geringfügig weniger; ein Unternehmen vermeldete den Rückgang des Benzinabsatzes um 60 Prozent und jenen der Dieselverkäufe um 40. Inlandsflüge brachen innerhalb von zwei Wochen um 70 Prozent ein. Als Ganzes betrachtet, nahmen Chinas CO2-Emissionen in einem einzigen Monat um ein Viertel ab, ein rasanterer Rückgang als alles, was je zuvor beobachtet worden war – wobei das letztliche Ausmaß der Senkung gleich allem anderen auch nach wie vor im Ungewissen liegt –, jedoch einer, der sich zwangsläufig wiederholen würde, solange die Pandemie und die Gegenmaßnahmen ihre Bahnen um den Globus zogen.

All das war beherrscht von einer Rhetorik des Krieges. Staatsoberhäupter führten sich auf wie Oberbefehlshaber*innen auf einem Kriegspfad – »Wir befinden uns im Krieg«, verkündete Emmanuel Macron; »Wir befinden uns im Krieg und kämpfen gegen einen unsichtbaren Feind«, so Donald Trump; »Wir befinden uns im Krieg, und Beatmungsgeräte sind unsere Munition«, so Bill de Blasio, Bürgermeister des US-amerikanischen Epidemie-Epizentrums New York. Parallelen zum Zweiten Weltkrieg drängten sich unwillkürlich auf: »Nennen wir es Kriegsmobilisierung«, schrieb die Los Angeles Times anlässlich der einsetzenden Produktionsumstellung. Die Zeit normaler Politik war abgelaufen, da nun selbst die Unwilligsten dazu verdammt schienen, sich der Situation zu fügen. »Wenn ein Notfall besteht und es wirklich wichtig ist, dass wir zum Kern der Sache vordringen, und zwar unverzüglich, werden wir tun, was zu tun ist«, räumte Trump ein. Zehn Tage, bevor er selbst positiv auf das Coronavirus getestet wurde und sich in die Selbstisolation sowie schließlich ins Krankenhaus zurückzog, berief der britische Premierminister Boris Johnson eine Pressekonferenz ein, auf der er feierlich verkündete: »Gleich jeder Regierung in Kriegszeiten müssen auch wir handeln«, und zwar mit »einem tief empfundenen Gefühl der Dringlichkeit«. Dem Schicksal ins Auge blickend, bekannte er: »Ja, dieser Feind kann tödlich sein, aber er ist ebenso besiegbar. Und wir wissen, dass wir ihn, insofern wir den wissenschaftlichen Ratschlägen Folge leisten, die man uns nun erteilt, besiegen werden.« Manch eine glaubte, sich plötzlich in einem mittelmäßigen, kaum realistischen Fernsehdrama wiederzufinden.

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