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3Definition der Lese-Rechtschreib­störung

Lernziele

■sich den Zusammenhang zwischen den Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung auf neurobiologischer Ebene, den daraus resultierenden Schwierig­keiten in der Sprach- und Informationsverarbeitung sowie der Oberflächensymptomatik bewusst machen

■Schwierigkeiten bei der Worterkennung und dem Wortschreiben als Kernsymptome der Lese-Rechtschreibstörung kennen

■Auswirkungen der Lese-Rechtschreibschwierigkeiten auf die Gesamtentwicklung, insbesondere die schulische Lernentwicklung kennen

Auf der Grundlage der internationalen Klassifikationssysteme der ICD 10 (Dilling et al. 2011) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (2007; Warnke 1993) sowie den Publikationen von Lyon et al. (2003) und Tunmer / Greaney (2010) wird diesem Buch folgendes Verständnis der Lese-Rechtschreibstörung zugrunde gelegt.

Unter der Lese-Rechtschreibstörung wird eine Lernstörung verstanden, die sich durch Probleme beim Erwerb und der Anwendung der indirekten Lese­strate­- gie (= phonologisches Rekodieren) und / oder der automatisierten Worterken­nung sowie beeinträchtigter Rechtschreibung charakterisieren lässt. Sie kann aus Defiziten in der phonologischen Informationsverarbeitung infolge neurobio­­- lo­gischer Fehlentwicklungen resultieren und geht oft mit Spracherwerbsstörungen einher. Die Lernstörung tritt unabhängig von kognitiven Fähigkeiten auf und ist nicht die Folge unangemessenen Unterrichts. Sie kann sich negativ auf das Lese­- verständnis, die kognitive, die sprachliche sowie die sozio-emotionale Entwick­lung auswirken.

Die Begriffe Lese-Rechtschreibstörung, Legasthenie, besondere Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (Beschluss der KMK-Konferenz 2007), Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, (Entwicklungs-)Dyslexie und Schriftspracherwerbsstörungen werden in diesem Lehrbuch synonym verwendet.

Schriftspracherwerbsstörungen

Insbesondere der zuletzt genannte Begriff soll deutlich machen, dass es sich beim Lesen- und Schreibenlernen um eine Entwicklungsaufgabe handelt, die in die gesamte sprachlich-kognitive Entwicklung des Kindes eingebettet ist und insbesondere in engem Zusammenhang mit (meta-)sprachlichen Kompetenzen steht. Die Verwendung dieser Terminologie impliziert zudem, dass Schrift ein System darstellt, mit dem Sprache visuell abgebildet wird, weshalb Kinder mit sprachlichen Beeinträchtigungen eine besondere Risikogruppe für die Ausbildung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten darstellen.

Lese-Rechtschreibstörung – eine Lernstörung

„Unter der Lese-Rechtschreibstörung wird eine Lernstörung verstanden …“

spezifische vs. allgemeine Lernstörung

Für das Störungsbild wurde in der Definition bewusst die Formulierung „Lern­störung“, nicht aber „spezifische Lernstörung“ gewählt. Mit dem vorangestellten Adjektiv, das üblicherweise auch in der englischsprachigen Literatur Verwendung findet (Specific Reading Disability), um die Störung von einer allgemeinen Lese-Rechtschreibschwäche (Garden Variety Poor Reader) abzugrenzen, soll betont werden, dass es sich bei den Betroffenen um Kinder mit mindestens durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten handelt, die sich außer beim Lesen und Schreiben unauffällig entwickeln und nicht durch weitere schulische Lerns­chwierigkeiten auffallen. Dass diese Aussage zu pauschal ist, konnte bereits die Legasthenieforschung in den 1970er Jahren deutlich machen. So machten Untersuchungen mit Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen deutlich, dass diese durchaus nicht in allen Teilbereichen der Intelligenz unauffällige Leistungen erbringen, sondern insbesondere in Subtests mit hohen sprachlichen Anforderungen oftmals im unterdurchschnittlichen Bereich abschneiden (Valtin 1973; Angermaier 1974). Da schriftsprachliche Fähigkeiten spätestens ab der dritten Klasse in allen Unterrichtsfächern eine zentrale Rolle spielen, ist zudem zu erwarten, dass sich eine Lese-Rechtschreibproblematik negativ auf die Leistungen in anderen Unterrichts­fächern auswirkt.

geringe praktische Relevanz des Diskrepanz­kriteriums

Das zentrale Argument gegen die Differenzierung zwischen einer spezifischen Störung und ­einer allgemeinen Lese-Rechtschreibschwäche auf der Grundlage der Diskrepanz zwischen der Intelligenz und schriftsprachlichen Kompetenzen ist die implizite Annahme, dass es sich dabei um zwei Beeinträchtigungen mit unterschiedlichen Ätiologien handelt, die unterschiedlicher Förderung oder Therapie bedürfen. Dagegen betonen Hurford et al. (1994), dass Defizite im Bereich der phonologischen Informationsverarbeitung bei beiden Gruppen gleichermaßen zu identifizieren und kausal mit deren Schriftspracherwerbsproblematik assoziiert sind. Zum anderen seien phonologisch orientierte Fördermaßnahmen für beide postulierte Subgruppen gleichermaßen effektiv.

Auch Tunmer / Greaney (2010, 231) berichten von zahlreichen vergleichbaren Forschungsergebnissen und kommen zusammenfassend zu der Schlussfolgerung,

„[that there] is a considerable amount of research indicating that groups of poor readers formed on the basis of the presence or absence of IQ-achievement dis­cre­- ­pancies do not reliably differ in long-term prognosis, response to intervention, or the cognitive skills (e. g., phonemic awareness, phonological recoding) that underlie the development of word recognition.”

Forschungs­ergebnisse

Fletcher et al. (1994) verglichen 200 spezifisch und allgemein leseschwache Kinder hinsichtlich der Funktionen der phonologischen Informationsverarbeitung, der sprachlichen und der visuell-motorischen Leistungen. Die Ergebnisse zeigten, dass sich die beiden Gruppen hinsichtlich dieser Variablen nicht differenzieren ließen. Vergleichbar konnten Brandenburg et al. (2013) bei Kindern mit Lese- und / oder Rechtschreibstörungen spezifische Defizite im Bereich des Arbeitsgedächtnisses nachweisen, die bei Kindern mit durchschnittlichen und unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten gleichermaßen ausgeprägt waren. Für den deutschsprachigen Raum stellen Klicpera / Gasteiger-Klicpera (1993, 165) fest, dass sich zwischen „diskrepanten und nicht-diskrepanten Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ kaum Unterschiede nachweisen lassen. Sie sind der Überzeugung, dass eine Differenzierung in zwei Subgruppen auf der Grundlage des Diskrepanzkriteriums zwar möglich, aber von keiner praktischen Relevanz ist (vgl. auch von Suchodoletz 2005).

Verzicht auf das IQ-Diskrepanz­kriterium in der DSM-5

Folgerichtig verzichtet die DSM-5 bei der Diagnose der Dyslexie vollständig auf das IQ-Diskrepanzkriterium und konzentriert sich bei der Feststellung der Lernstörung auf die Symptomatik (u. a. Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit, Leseverständnis, Rechtschreibfehler), den zeitlichen Faktor (mindestens sechs Monate), die negativen Auswirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit und die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der aufgrund des Alters bzw. der Klassenstufe erwarteten Leistung von mindestens einer Standardabweichung (Schulte-Körne 2014).

Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (2015) kommt in ihren Leitlinien zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass sich zwischen Kindern und Jugendlichen, bei denen die Diagnose einer Lese-Rechtschreibstörung aufgrund einer Alters- oder Klassennormdiskrepanz gestellt wurde und Kindern und Jugendlichen, bei denen die Diagnose auf dem IQ-Diskrepanzkriterium basierte, keine relevanten Unterschiede feststellen lassen.

Die der Arbeit zugrunde gelegte Definition bezieht sich sowohl auf Kinder mit diskrepanten als auch mit nicht-diskrepanten Lese-Rechtschreibschwierigkeiten.

Dass die intellektuellen Fähigkeiten nicht hauptverantwortlich für die Ausbildung der Lernstörung sind, wird in der Definition auch durch die Formulierung „tritt unabhängig von den kognitiven Fähigkeiten auf“ deutlich gemacht.

Neurobiologische Ursachen

„… kann aus Defiziten in der phonologischen Informationsverarbeitung infolge neurobiologischer Fehlentwicklungen resultieren und geht oft mit Spracherwerbsstörungen einher.“

Was die Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung angeht, herrscht dahingehend Einigkeit, dass diese im neurobiologischen Bereich anzusiedeln sind (Kap. 5). Sie führen auf sprachlich-kognitiver Ebene zu Schwierigkeiten im Bereich der phono­logischen Informationsverarbeitung und über dieses Bindeglied zu den Symptomen einer Lese-Rechtschreibstörung.

ICD-10

Auch die ICD-10, die u. a. Lese-Rechtschreibstörungen im Bereich der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) klassifiziert, geht davon aus, dass, „diese Störungen von Beeinträchtigungen der kognitiven Informationsverarbeitung herrühren, die großenteils auf einer biologischen Fehlfunktion beruhen“ (Dilling et al. 2011, 270).

Teilleistungsstörung

Vergleichbar definiert die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugend­psychiatrie das Störungsbild als „eine an die Entwicklung der Hirnfunktion gebundene zentralnervös begründete Teilleistungsstörung“ (Warnke 1993, 1). Im Zusammenhang mit dem ersten Bestimmungsmerkmal sei darauf hingewiesen, dass die angenommenen neurobiologischen Abnormitäten nicht mit einer Intelligenzminderung gleichzusetzen sind. Warnke et al. (2002) veranschaulichen diese Aussage durch einen Vergleich mit der „Unmusikalität“ eines Menschen. Auch bei diesem Phänomen handele es sich um eine Besonderheit der zentralnervösen Informationsverarbeitung, ohne dass hier eine Intelligenzminderung angenommen wird. Bei den für die Lese-Rechtschreibstörung angenommenen neurobiologischen Veränderungen handelt es sich Tunmer / Greany (2010) zufolge um Fehlentwicklungen, die keinen allzu großen Einfluss auf andere kognitive Funktionen ausüben.

Symptomatik der Lese-Rechtschreibstörung

„… die sich durch Probleme beim Erwerb und der Anwendung der indirekten Lesestrategie (= phonologisches Rekodieren) und / oder der automatisierten Worterkennung sowie beeinträchtigter Rechtschreibung charakterisieren lässt.“

Vergleichbar den in der Definition genannten Symptomen charakterisieren Lyon et al. (2003, 2) die Dyslexie als „difficulties with accurate and / or fluent word recognition and by poor spelling and decoding abilities.” (vgl. auch Tunmer / ­Greany 2010).

Symptomatik-Lesen

In der ICD-10 wird die Symptomatik der Lese-Rechtschreibstörung folgendermaßen operationalisiert (Dilling et al. 2011, 275; vgl. auch Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie 2007):

„In den frühen Stadien des Erlernens einer alphabetischen Schrift kann es Schwierigkeiten geben, […], die Buchstaben korrekt zu benennen, einfache Wortreime zu bilden und bei der Analyse oder der Kategorisierung von Lauten […]. Später können dann Fehler beim Vorlesen auftreten, die sich zeigen als

■Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen.

■Niedrige Lesegeschwindigkeit.

■Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text und ungenaues Phrasieren.

■Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in Wörtern.

Ebenso zeigen sich Defizite im Leseverständnis z. B.

■in der Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben.

■in der Unfähigkeit, aus Gelesenem Schlüsse zu ziehen oder Zusammenhänge zu sehen.

■im Gebrauch allgemeinen Wissens als Hintergrundinformationen anstelle von Informationen aus einer Geschichte beim Beantworten von Fragen über die gelesene Geschichte.“

Im Bereich der Rechtschreibung fallen betroffene Kinder im Anfangsunterricht v. a. durch Schwierigkeiten mit dem Erwerb des phonologischen Prinzips als Grundstrategie des Schreibens auf, während im Laufe der Grundschulzeit lautgetreue Schreibweisen, die aber von der korrekten Orthographie abweichen, zu den zentralen Charakteristika gehören. Von der ICD-10 wird hervorgehoben, dass die Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung in der späteren Kindheit üblicherweise größer sind als die beim Lesen: „Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher. Diese persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn im ­Lesen einige Fortschritte gemacht werden“ (Dilling et al. 2011, 274).

Symptomatik Schreiben

Zwischen der ICD-10 und der dieser Arbeit zugrunde gelegten Definition fallen zwei wesentliche Unterschiede auf. Die ICD-10 zählt Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis zu den Symptomen der Lese-Rechtschreibstörung, während diese im vorliegenden Buch als Konsequenz der Lese-Rechtschreibstörung interpretiert werden. Diese Annahme resultiert aus den empirisch belegten Hypothesen des Simple View of Reading (Kap. 2.3), welcher das Leseverständnis als Produkt aus Worterkennung und Hörverständnis betrachtet. Demnach sind Schwierigkeiten im Leseverständnis entweder das Resultat spezifisch schriftsprachlicher ­Defizite im Bereich der Worterkennung und / oder der Beeinträchtigungen in der semantischen bzw. grammatischen Verarbeitung von Sprache; es handelt sich aber nicht um ein originäres Symptom der Dyslexie.

Kernproblematik: automatisierte ­Worterkennung

Ferner wird in der vorliegenden Definition explizit auf Schwierigkeiten mit der automatisierten Worterkennung Bezug genommen, ein Aspekt der in den Aussagen der ICD-10 so nicht zu finden ist, auch wenn die Formulierung „niedrige Lesegeschwindigkeit“ als Hinweis auf diese Problematik zu interpretieren ist. Die explizite Betonung von Problemen mit der Automatisierung schriftsprachlicher Kompetenzen resultiert aus Forschungsergebnissen der 1990er und 2000er Jahre, die deutlich machen konnten, dass sich lese-rechtschreibschwache Kinder, die eine relativ transparente Schriftsprache erlernen, zwar zu Beginn ihrer Schullaufbahn durch Schwierigkeiten beim Erlernen der indirekten Lesestrategie charakterisieren lassen, diese Unsicherheiten aber relativ schnell überwinden können, sodass sie spätestens ab der dritten Klasse eine ähnlich hohe Lesegenauigkeit aufweisen wie durchschnittlich lesende Kinder. Das zentrale, häufig bis ins Jugendalter persistierende Problem sind Defizite im Bereich der Automatisierung des Leseprozesses, die neben einer verringerten Lesegeschwindigkeit auch durch eine mangelnde Prosodie beim lauten Lesen offensichtlich wird (Wimmer 1993a; Holopainen et al. 2001; Serrano / Defior 2008). Da in diesem Fall ein Großteil der Aufmerksamkeit auf die Lesetechnik gelenkt werden muss, führt dies zu den eben beschriebenen negativen Konsequenzen im Bereich des Leseverständnisses. Hinzu kommt, dass bei einer beeinträchtigten Lesegeschwindigkeit auch schnell die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (Kap. 5.2) überlastet wird.

Die Frage, ab wann man von „Problemen“, „Defiziten“ oder einer „therapiebedürftigen Lernstörung“ sprechen kann, beantwortet die ICD-10 (Dilling et al. 2011) damit, dass die Lese-Rechtschreibleistung in einem normierten Test mindestens zwei Standardabweichungen unter dem Niveau liegen müsse, das aufgrund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre. Im Gegensatz dazu wird an dieser Stelle davon ausgegangen, dass eine Leistung von mehr als einer Standardabweichung unter dem Mittelwert in ­einem normierten, validen Test, der die Worterkennung und/oder die Rechtschreibleistung erfasst, ein ausreichendes Kriterium für das Vorliegen einer Lese-­Rechtschreibstörung ist. Aufgrund der Annahme, dass Beeinträchtigungen im Bereich des Leseverständnisses eine Folge von Defiziten in der Worterkennung oder des Sprachverständnisses darstellen, sollten Überprüfungen des Leseverständnisses allein nicht zur Feststellung der Diagnose Lese-Rechtschreibstörung herangezogen werden.

Umschriebene Spracherwerbsstörungen

„… geht oft mit Spracherwerbsstörungen einher.“

Komorbidität mit Spracherwerbs­störungen

Sowohl in der vorliegenden Definition als auch bei Lyon et al. (2003), der ICD-10 und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (2007) wird die häufig anzutreffende Komorbidität mit lautsprachlichen Defiziten betont.

Von Komorbidität spricht man, wenn zusätzlich zu einem Krankheits- oder Stö­rungsbild weitere Krankheiten oder Störungen auftreten, die als Folge einer Grunderkrankung oder als diagnostisch abgrenzbares Symptom der Grunderkrankung interpretiert werden können. In Verbindung mit Lese-Rechtschreibstörungen bezieht sich die Aussage auf das gehäufte gemeinsame Auftreten lautsprachlicher und schriftsprachlicher Beeinträchtigungen.

Definition Spracherwerbs-störungen

Die im Zusammenhang mit Schriftspracherwerbsstörungen am intensivsten erforschte sprachliche Beeinträchtigung ist die Umschriebene Spracherwerbsstörung (USES), die mit einer Prävalenz von 6–8 % zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter gehört.

Bei einer Umschriebenen Spracherwerbsstörung (Developmental language disorder, DLD) handelt es sich um eine spezifische Problematik bei der Aneignung und der Anwendung linguistischen Wissens. Die sprachliche Beeinträchtigung lässt sich dabei nicht durch sensorische, organische, mentale oder gravierende sozio-affektive Defizite erklären (Kauschke et al. 2019). Auf der anderen Seite kann die sprachliche Beeinträchtigung jedoch weitreichende Auswirkungen auf die psychosoziale und schulisch-kognitive Entwicklung betroffener Kinder und Jugendlicher haben.

Was die sprachliche Symptomatik angeht, werden bei betroffenen Kindern Schwierigkeiten auf der phonetisch-phonologischen, der syntaktisch-morphologischen, der semantisch-lexikalischen sowie der pragmatischen Ebene offensichtlich.

Kinder mit USES als Risikogruppe

Aufgrund ihrer Schwierigkeiten mit der phonologischen Informationsverarbeitung (Kap. 5) und daraus resultierenden Defiziten in der phonologischen Bewusstheit haben viele spracherwerbsgestörte Kinder Probleme mit dem Erlernen der Worterkennung und des Wortschreibens. Da die sprachlichen Probleme spracherwerbsgestörter Kinder insbesondere auf lexikalischer und syntaktisch-morphologischer Ebene oftmals auch in der rezeptiven Modalität offensichtlich werden, entwickeln sie fast zwangsläufig Schwierigkeiten mit dem sinnentnehmenden Lesen auf Wort-, Satz- und Textebene (vgl. Simple View of Reading, Kap. 2.3).

Auch wenn die schriftsprachliche Modalität aufgrund ihres bleibenden Charakters die Möglichkeit zur wiederholten Verarbeitung bietet, fallen die Probleme betroffener Kinder mit dem Leseverständnis üblicherweise gravierender aus als diejenigen mit dem Hörsprachverständnis, da die in der lautsprachlichen Kommunikation zur Verfügung stehenden nonverbalen Informationsträger (Mimik, Gestik, Prosodie, räumlicher Kontext) bei der Verarbeitung gedruckter Texte nicht zur Verfügung stehen.

Das besondere Risiko spracherwerbsgestörter Kinder, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zu entwickeln, bestätigen Forschungsarbeiten aus dem angloamerikanischen Raum. So konnten Catts et al. (1999) zeigen, dass bei ca. 70 % leseschwacher Kinder der zweiten Klasse bereits im Vorschulalter sprachliche Defizite nachweisbar waren. In der Untersuchung von Catts et al. (2002a) schnitten spracherwerbsgestörte Kinder bei normierten Überprüfungen der Worterkennung und des Leseverständnisses etwa eine Standardabweichung schlechter ab als sprachlich unauffällige Kinder. 50 % spracherwerbsgestörter Vorschulkinder erreichten in der zweiten und vierten Klasse bei Überprüfungen des Leseverständnisses Werte im unterdurchschnittlichen Bereich. Verglichen mit den Werten für sprachnormale Kinder liegt das Risiko spracherwerbsgestörter Kinder Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zu entwickeln damit etwa sechsmal so hoch wie bei sprachlich unauffälligen Kindern.

Negative Auswirkungen der Lese-Rechtschreibstörung

„Die Lese-Rechtschreibstörung kann sich negativ auf das Leseverständnis, die kognitive, die sprachliche sowie die sozio-emotionale Entwicklung auswirken.“

Spracherwerb und Lesen

Der Spracherwerb ist mit Schuleintritt nicht abgeschlossen. Insbesondere auf lexikalischer und syntaktisch-morphologischer Ebene können Fortschritte bis ins junge Erwachsenenalter nachgewiesen werden. Schulkinder zwischen 7 und 16 Jahren speichern durchschnittlich etwa 3000 neue Wörter im Jahr in ihrem mentalen Lexikon ab. Ein maßgeblicher Anteil dieses rasanten Wortschatzwachstums ist dem Lesen von Sachtexten und Kinderbüchern zu verdanken. Aufgrund der grammatisch komplexeren Gestaltung von Texten im Vergleich zur lautsprachlichen Kommunikation dürfte auch das zunehmende Beherrschen komplexer grammatischer Strukturen wie Appositionen, Infinitivkonstruktionen, Gerundiv, adverbialer Konjunkte etc. auf die Auseinandersetzung mit Schriftsprache zurückzuführen sein. Spracherwerbsgestörte Kinder, die per Definition bereits im Vorschulalter Schwierigkeiten auf lexikalischer und grammatischer Ebene haben, machen in Kombination mit Leseschwierigkeiten weniger Leseerfahrungen und können das Lesen nicht als Quelle elaborierter Spracherfahrung nutzen (Dannenbauer 2002).

Auswirkungen auf die soziale und personale Entwicklung

Schwierigkeiten im Bereich der schriftsprachlichen Kommunikation kombiniert mit einer eingeschränkten Weiterentwicklung sprachlicher Fähigkeiten im Bereich Wortschatz und komplexer Syntax dürften sich in vielen Fällen wiederum auf die personale und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Das Beherrschen komplexer syntaktischer Strukturen ermöglicht es, die eigenen Gedanken sprachlich zu ordnen und die eigenen Emotionen, Phantasien und Ideen sprachlich exakt wiederzugeben sowie die sprachlichen Mittel einzusetzen, die einer spezifischen Situation angemessen sind. Stehen diese nicht zur Verfügung, könnte dies die Akzeptanz in der Peer-Group reduzieren, vor allem wenn man bedenkt, dass „es zu einem Kennzeichen des Jugendalters [gehört], dass sich Freundschaften bilden, indem man ‚einfach nur redet‘“ (Dannenbauer 2002, 11). Da im digitalen Zeitalter ein nicht unerheblicher Anteil der Kommunikation zwischen Jugendlichen in sozialen Netzwerken stattfindet, sollte auch die Gefahr sozialer Ausgrenzung aufgrund beeinträchtigter Lese- und Schreibkompetenzen nicht unterschätzt werden.

Gefährdung der kognitiven Entwicklung

Negative Auswirkungen – insbesondere in der Folge der Koexistenz laut- und schriftsprachlicher Schwierigkeiten – sind auch im Bereich der schulischen bzw. allgemein kognitiven Entwicklung anzunehmen. Schulisches Lernen ist zu einem großen Teil laut- und schriftsprachlich vermitteltes Lernen. Spätestens ab der dritten Klasse wird erwartet, dass Kinder in der Lage sind, selbstständig Informationen aus Sach­texten, Sachbüchern und dem Internet zu entnehmen. Während in den ersten beiden Schuljahren das Erlernen des Lesens im Mittelpunkt steht, wird dies durch „Lesen um zu lernen“ abgelöst. Da Kinder mit beeinträchtigtem Sprach- und Leseverständnis mündliche Erklärungen der Lehrkraft und Lese­texte nur bedingt verarbeiten können, laufen sie Gefahr, sich die schulischen Lerninhalte trotz prinzipiell vorhandener kognitiver Kompetenzen nur eingeschränkt aneignen zu können. Je komplexer die zu verarbeitenden Texte und mündlichen Erklärungen im Laufe der Schuljahre werden, desto größer ist die Gefahr, dass diese Kinder den Anschluss an ihre Klassenkameraden verlieren und sich aus einem eigentlich spezifisch (schrift-)sprachgestörten Kind ein allgemein lernschwaches Kind entwickelt.

Zusammenfassung

Die Lese-Rechtschreibstörung ist eine Lernproblematik, die sich durch eine beeinträchtigte Worterkennung, Lesegeschwindigkeit und Rechtschreibung charakterisieren lässt. Diese spezifische schriftsprachliche Problematik kombiniert mit sprachlichen Beeinträchtigungen auf semantisch-lexikalischer und grammatischer Ebene führt dazu, dass betroffene Schülerinnen und Schüler auch Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis entwickeln. Aufgrund der Bedeutung schriftsprachlicher Kommunikation in Schule, Freizeit und Berufsleben kann es zu negativen Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung kommen.

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)

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