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4Ursachen der Lese-Rechtschreib­störung

Von Sven Lindberg

Lernziele

■verschiedene Theorien zur Verursachung der Lese-Rechtschreibstörung kennen lernen und hinsichtlich ihrer Plausibilität einschätzen können (Kap. 4.2.1)

■die für die Leseleistung zentralen Gehirnregionen kennen (Kap. 4.2.2)

keine spezifischen Gene und Hirnregionen

In Bezug auf die Geschichte der Menschheit ist die Verwendung von Schriftsprache noch ein recht junges Phänomen und hat ihre Ursprünge ca. 3400 Jahre v. Ch. (Lawler 2001; Kap. 1.1). Lange Zeit war das Lesen und Schreiben nur einem geringen Teil der Weltbevölkerung vorbehalten, und auch im Jahr 2010 waren nach Schätzungen der UNESCO (2010) etwa 16 % der Menschen weltweit mit diesen Kulturtechniken noch nicht vertraut. Für das Lesen und Schreiben kann es demnach keine spezifischen Gene oder Hirnregionen geben. Vielmehr geht man davon aus, dass im Laufe der Entwicklung vorhandene Strukturen für die Umsetzung des Lese- und Schreibvorgangs genutzt wurden. Am Lese- und Schreibvorgang sind viele basale kognitive Fertigkeiten beteiligt, wobei die auditive und visuelle Wahrnehmung sowie Lern- und Gedächtnisprozesse eine zentrale Rolle spielen (Dehaene / Cohen 2007). Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass Störungen im Bereich der kognitiven Informationsverarbeitung mit neurobiologischen Ursachen zu einer Beeinträchtigung des Schriftspracherwerbs führen. In diesem Kapitel werden die zentralen genetischen und neurobiologischen Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung beschrieben und verschiedene Theorien zu kognitiven Ursachen diskutiert.

4.1Zur Genetik der Lese-Rechtschreibstörung

familiäres Risiko

Schon früh konnten Studien zeigen, dass für die Entwicklung einer Lese-Rechtschreibstörung ein familiäres Risiko vorliegt (Pennington / Smith 1988). Es ist davon auszugehen, dass eine genetische Beeinflussung auf sprachbasierten kog­nitiven Grundlagen besteht, die im Laufe der Evolution entstanden ist. Durch den Zusammenhang zwischen Sprache und den Kulturtechniken Lesen und Schreiben wirken sich genetisch bedingte Unterschiede bzw. Auffälligkeiten auf die Entwicklung der Schriftsprache aus und können mitverantwortlich für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung sein (Pennington / Olsen 2007). Mittels großangelegter Entwicklungsstudien konnte gezeigt werden, dass Kinder mit einer diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung häufig aus ­Familien stammten, in denen bei den Eltern und Geschwistern ebenfalls Lese-Rechtschreibprobleme festgestellt wurden, während in Familien normallesender Kinder solche Probleme deutlich seltener auftraten (Pennington / Olsen 2007). ­Diese Beobachtungen lassen einen genetischen Zusammenhang vermuten, aller­dings könnten die Unterschiede ebenso durch spezifische Umweltfaktoren vermittelt sein.

Zwillingsstudien

Um zwischen genetischen und umweltbezogenen Einflüssen trennen zu ­können, werden in der Forschung daher Zwillingsstudien mit eineiigen und zwei­eiigen Zwillingen durchgeführt. Durch solche Untersuchungen kann sichergestellt werden, dass die teilnehmenden Zwillingspaare den gleichen Umwelt­einflüssen ausgesetzt sind, wobei nur die eineiigen Zwillinge zu 100 % gemeinsame Gene besitzen, während zweieiige Zwillinge wie andere Geschwisterkinder nur 50 % gemeinsame Gene besitzen. Tatsächlich konnten in solchen Zwillingstudien eindeutige Belege für einen genetischen Einfluss aufgedeckt werden. So sind bei eineiigen Zwillingen fast zu 70 % beide Zwillinge von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen, bei zweieiigen Zwillingen hingegen nur ca. 40 % (DeFries / Alarcon 1996).

genetische Einflüsse auf kognitive Grundlagen

Darüber hinaus zeigen sich spezifische Einflüsse auf kognitive Grundlagen des Lesens. Demnach sind ein Großteil der Unterschiede im orthographischen Wissen, der phonologischen Bewusstheit, im phonologischen Rekodieren und des Wortlesens genetisch determiniert (Gayan / Olsen 2001; Schulte-Körne et al. 2006). Zudem sind starke Einflüsse der Genetik auf den Abruf phonologischer Repräsentationen aus dem Langzeitgedächtnis, auf das phonologische Arbeits­gedächtnis und auf die Rechtschreibleistung nachweisbar (Samuelsson et al. 2007).

Es ist davon auszugehen, dass nicht ein einzelnes Gen für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung verantwortlich ist (Pennington / Olsen 2007). In der Forschung konnten verschiedene Gene identifiziert werden, die im Zusammenhang mit einem beeinträchtigten Schriftspracherwerb stehen (Schulte-Körne et al. 2006). Insgesamt scheint es jedoch so zu sein, dass es keine störungsspezifischen Genkonstellationen gibt, sondern Gene, die an einer Lese-Rechtschreibstörung beteiligt sind und ebenso in der unbeeinträchtigten Entwicklung des Lesens und Schreibens wirksam werden (Pennington / Olsen 2007). Die jeweilige Ausprägung dieser Genkonstellation stößt demnach die individuelle Hirnentwicklung an und lässt so im Verhalten Unterschiede in der Lese-Rechtschreibleistung entstehen.

4.2Neurobiologische Grundlagen der ­Lese-Rechtschreibstörung

Die Lese-Rechtschreibstörung wird durch neurobiologisch verursachte Defizite in spezifischen kognitiven Bereichen hervorgerufen. In der Wissenschaft wurden verschiedene Theorien postuliert, die diese Defizite und ihre Auswirkungen auf die Lese-Rechtschreibentwicklung beschreiben.

4.2.1Theorien zur Ursache der Lese-Rechtschreibstörung

phonologische Theorie

Es besteht weltweit mittlerweile große Einigkeit, dass Defizite in der Verarbeitung phonologischer Informationen zu einer Beeinträchtigung des Lese-Rechtschreib­erwerbs führen können. Die phonologische Verarbeitung beinhaltet dabei das Erkennen, Bereithalten, Manipulieren, Speichern und Abrufen von sprachlichen Einheiten auf sublexikalischer und lexikalischer Ebene (Kap. 5). Solche Prozesse spielen bei der Aneignung des Lesens und Schreibens eine zentrale Rolle. Buchstaben, als graphisch dargestellte Symbole (Grapheme), müssen mit Lauten in Verbindung gebracht werden, die bereits fester Bestandteil der gesprochenen Sprache sind (Phoneme). Bei der Zuordnung dieser orthographischen Repräsentationen zu phonologischen Repräsentationen spricht man von der sogenannten Graphem-Phonem-Korrespondenz. Defizite in der phonologischen Verarbeitung können diese Zusammenführung zwischen Graphemen und Phonemen deutlich erschweren. Sind Laute beispielsweise nicht ausreichend klar repräsentiert, ist deren Abruf ­erschwert und eine eindeutige Zuordnung zu einem Symbol kann nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert werden (Bradley / Bryant 1978; Snowling 1981). Die Fähigkeit phonologische Informationen zu verarbeiten, kann als eine zentrale Vorläuferfähigkeit des Lesens und Schreibens angesehen werden.

Rapid Auditory Processing Deficit Theorie

Einige Forscher gehen davon aus, dass die Schwierigkeiten in der phonologischen Verarbeitung, die bei Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen beobachtet werden können, durch eine grundlegende Beeinträchtigung basaler auditiver Verarbeitungsprozesse verursacht werden. Demnach gelingt es solchen Kindern nicht, kurze, schnell aufeinander folgende auditive Reize ausreichend zu differenzieren (Tallal 1980; Tallal et al. 1993). In Untersuchungen konnte wiederholt gezeigt werden, dass Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung im Vergleich zu normallesenden Kindern massive Probleme hatten, ähnlich klingende Reize voneinander zu unterschieden (z. B. „ba“ und „pa“) bzw. größere Lücken zwischen zwei Tönen benötigten, um wahrzunehmen, dass tatsächlich zwei unterschied­liche Töne dargeboten wurden (Farmer / Klein 1995; McArthur / Bishop 2001). Anhänger der Rapid Auditory Processing Deficit Theory schließen aus solchen Befunden, dass es Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung aufgrund ihres auditiven Defizits nicht gelingen kann, eine klare Phonemrepräsentation aufzubauen, wodurch weitreichende Beeinträchtigungen in der phonologischen Verarbeitung resultieren. Diese Defizite können allerdings nicht bei allen Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet werden, und es ist bisher ungeklärt, inwieweit ein solches Verarbeitungsdefizit auf auditive Reize beschränkt ist ­(Baldeweg et al. 1999; Kujala et al. 2000; Schulte-Körne et al. 2001).

visuelle Theorie

Neben phonologischen und allgemein auditiven Verarbeitungsdefiziten werden bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung häufig auch Probleme in der visuellen Wahrnehmung beobachtet. So werden Buchstaben beispielsweise als verschwommen wahrgenommen oder miteinander verwechselt (z. B. „q“ und „p“ oder „d“ und „p“; vgl. Terepocki et al. 2002). Von einigen Forschern werden daher Probleme im Lesen und Schreiben auf basale visuelle Defizite zurückgeführt, da das Erkennen von Worten und Buchstaben im Vergleich zu normallesenden Personen deutlich beeinträchtigt sei (Livingstone et al. 1991; Stein / Walsh 1997). Verfechter der visuellen Theorie vermuten eine Fehlfunktion des magnozellulären Pfads des visuellen Systems, das unter anderem für Bewegungs-, Orts- und Geschwindigkeitswahrnehmung verantwortlich ist, woraus Probleme in der binokularen Kontrolle und der visuell-räumlichen Aufmerksamkeit entstehen würden (Hari / Renvall 2001; Stein / Walsh 1997). Empirische Unterstützung findet diese Annahme durch psychophysische Studien, die eine geringere Sensitivität für visu­elle Muster niedriger räumlicher und hoher zeitlicher Frequenz (Variation der Helligkeitswerte und Veränderungen der Reizkonstellationen im Zeitverlauf) bei Menschen mit Lese-Rechtschreibstörung aufdecken konnten (Cornelissen et al. 1993; Lovegrove et al. 1980).

Aufmerksamkeitsdefizithypothese

Neben visuellen Wahrnehmungs- bzw. Verarbeitungsschwierigkeiten wird von einigen Forschern auch ein visuelles Aufmerksamkeitsdefizit als zentrale Ursache der Lese-Rechtschreibstörung diskutiert (Facoetti et al. 2003). Bei diesen Überlegungen steht die Beobachtung im Mittelpunkt, dass Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung bei seriellen Suchaufgaben, die Aufmerksamkeit erfordern, beeinträchtigt sind, nicht aber bei automatisch ablaufenden parallelen Suchaufgaben (Marendaz et al. 1996). Studien zur visuellen Aufmerksamkeit konnten zudem zeigen, dass Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung eine asymmetrische Verteilung der Aufmerksamkeit im visuellen Feld aufwiesen, da sie im linken Gesichtsfeld dargebotene Zielreize schlechter erkennen konnten als Reize, die im rechten Gesichtsfeld präsentierte wurden. Dieses Phänomen wurde von den beteiligten Forschern als sogenannter linksseitiger Mini-Neglect bezeichnet (Facoetti et al. 2001). Aufmerksamkeitsdefizite dieser Art könnten die Enkodierung von Buchstabenabfolgen beim Lesen stören, wodurch visuell ähnliche Buchstaben und Wörter verwechselt werden können. Interessanterweise konnte empirisch gezeigt werden, dass phonologische Verarbeitungsdefizite und visuelle Aufmerksamkeitsstörungen bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung statistisch nicht bedeutsam zusammenhängen, beide jedoch unabhängig zur Vorhersage der Leseleistung beitragen (Valdois et al. 2003). Ein Aufmerksamkeits­defizit scheint also zumindest bei einer Teilgruppe verantwortlich für die Ausbildung einer Lese-Rechtschreibstörung zu sein.

zerebelläre Defizithypothese

Möglicherweise steht eine gestörte Lese-Rechtschreibentwicklung auch im Zusammenhang mit einer Beeinträchtigung des Kleinhirns (Cerebellum), wodurch unterschiedliche kognitive Defizite entstehen könnten (Nicolson et al. 2001). Das Cerebellum ist verantwortlich für die Steuerung motorischer Prozesse und damit auch an artikulatorischen und somit sprachlichen Fähigkeiten beteiligt. Eine gestörte Artikulation würde den Aufbau korrekter phonologischer Repräsentationen beeinträchtigen und dadurch langfristig Probleme in der Verarbeitung von Schriftsprache verursachen. Darüber hinaus ist das Cerebellum bei der Automatisierung von Prozessen, beziehungsweise Aufgaben mit sich wiederholenden Mustern, beteiligt (z. B. Bewegungen im Sport), was sich ebenfalls auf das Erlernen von Graphem-Phonem-Zuordnungen auswirken könnte. Empirische Befunde über schlechtere Leistungen von Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung bei unterschiedlichen motorischen Aufgaben (Fawcett et al. 1996) und in Schätzaufgaben mit zeitlichen Intervallen (Nicolson et al. 1995) unterstützen diese Annahme.

Die zerebelläre Defizithypothese ist zum Teil massiver Kritik ausgesetzt, und sowohl ihre empirische Basis (Raberger / Wimmer 2003) als auch das postulierte Automatisierungsdefizit wurden wiederholt angezweifelt. Zudem scheinen zerebelläre Beeinträchtigungen nur bei einer Teilgruppe von Personen zu einer Lese-Rechtschreibstörung zu führen.

magnozelluläre Theorie

Die Begründer der magnozellulären Theorie versuchen, die verschiedenen Defizite, die bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet wurden, in einem übergreifenden Erklärungsansatz zusammenzuführen (Stein / Walsh 1997). Dabei gehen sie davon aus, dass die Fehlfunktionen im magnozellulären System nicht nur das visuelle System, sondern alle Modalitäten (visuelle, auditive und taktile) betreffen. Funktionsdefizite des Cerebellums sind demnach fehlerhaften Informationen aus verschiedenen magnozellulären Systemen geschuldet (Stein et al. 2001). Die Annahmen werden mit Ergebnissen untermauert, die belegen konnten, dass Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung auch Schwierigkeiten in taktilen Aufgaben zeigen (Grant et al. 1999; Stoodley et al. 2000) und dass bei einer Teilgruppe visuelle und auditive Probleme gleichzeitig beobachtet werden konnten (Cestnick 2001; Van Ingelghem et al. 2001; Witton et al. 1998).

kritische Betrachtung der Theorien

In der internationalen Forschung hat sich die phonologische Theorie als der am besten erforschte und anerkannteste Erklärungsansatz für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung etabliert. Mittlerweile wird vermehrt darüber diskutiert, inwieweit bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung tatsächlich ein Defizit in der Repräsentation phonlogischer Informationen vorliegt. Möglicherweise sind die Repräsentationen an sich nicht beeinträchtigt, sondern der Zugriff auf diese Informationen im mentalen Lexikon ist gestört (Ramus / Szenkovits 2008). Daher gilt es zu klären, inwieweit es sich bei einer defizitären phonologischen Verarbeitung um ein Speicherproblem (Informationen werden fehlerhaft eingespeichert) oder ein Abrufproblem (Informationen werden fehlerhaft bzw. unvollständig abgerufen) handelt. Darüber hinaus bleibt im Rahmen der phonologischen Theorie ungeklärt, warum bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung häufig auch sensorische und motorische Defizite beobachtet werden können. Bisher werden nicht-sprachliche Faktoren als zusätzliche Marker beschrieben und berücksichtigt, aber nicht als signifikanter Einflussfaktor gewertet (z. B. Snowling 2000). Interessanterweise wird in einigen Studien auch von massiven Lese-Rechtschreibschwierigkeiten berichtet, ohne dass eine Beeinträchtigung der phonologischen Verarbeitung ermittelt werden konnte (Castles / Coltheart 1996; Valdois et al. 2003).

Die zerebelläre Defizithypothese legt ihren Fokus einseitig auf motorische Beeinträchtigungen und hat dadurch keine Erklärungsansätze für potenzielle sensorische Defizite, die bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet werden können. Kritisiert wird zudem der direkte kausale Bezug zwischen Artikulation und phonologischer Verarbeitung bzw. der allgemeinen Sprachentwicklung. In vielen Studien wurden darüber hinaus nur geringe oder gar keine motorischen Defizite bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung gefunden. Daher wird vermutet, dass Probleme dieser Art möglicherweise nur bei Personen mit einer komorbid auftretenden Aufmerksamkeitsstörung ermittelt werden können (Denckla et al. 1985; Wimmer et al. 1999).

Durch ihre übergreifende Ausrichtung bietet die magnozelluläre Theorie einen integrativen Erklärungsansatz der Lese-Rechtschreibstörung, der sowohl kognitive, sensorische als auch motorische Defizite berücksichtigt. Insgesamt werden allerdings umfassende Einschränkungen und Schwächen der Theorie diskutiert (Ramus 2001). Befunde weisen beispielsweise darauf hin, dass nur bei einem Teil der Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung auditive und visuelle Probleme feststellbar sind. Darüber hinaus können visuelle Probleme bei verschiedenen visu­ellen Anforderungen beobachtet werden und scheinen daher nicht spezifisch für rein magnozelluläre Aufgaben zu sein (Skottun 2000). Insgesamt ist die empirische Befundlage für die Bestätigung eines magnozellulären ­Verarbeitungsdefizits bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung als eher schwach anzusehen. Des Weiteren gibt es Kritik an den Methoden, mit denen die Funktion des magnozellulären Systems untersucht wurden, und mehrere Studien konnten keine Unterschiede in magnozellulären Funktionen zwischen normalen und lese-rechtschreibgestörten Lesern finden (Skottun 2000). In einigen Untersuchungen mit Personen, bei denen Defizite in magnozellulären Funktionen ermittelt werden konnten, traten zudem keine Beeinträchtigungen in der Leseleistung auf (Lehmkuhle et al. 1993).

Zusammenfassung

Die bisherigen Erklärungsmodelle sind anscheinend nur für bestimmte Teilgruppen von Personen zutreffend. Damit kann nicht von einer eindeutigen, immer gleich verlaufenden Entwicklung einer Lese-Rechtschreibstörung ausgegangen werden. Die Lese-Rechtschreibstörung ist demnach vielmehr ein multidimensionales Problem mit diversen verursachenden Faktoren, die in verschiedenen Subtypen der Störung resultieren können. In einer Untersuchung mit lese-rechtschreibgestörten Kindern wurden beispielsweise drei Cluster mit verschiedenen kognitiven Defiziten aufgedeckt, die sich in ein phonologisches Defizit, ein Defizit der visuellen Aufmerksamkeit und in ein kombiniertes Defizit der phonologischen, auditiven und magnozellulären Verarbeitung aufteilten (Heim et al. 2008).

4.2.2Neurokognitive Korrelate der Lese-Rechtschreibstörung

neuronale Korre­late der Lese­entwicklung

Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) als bildgebendes Verfahren ermöglicht es, Aktivierungen in verschiedenen Hirnarealen darzustellen.

Bei der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren, mit dem die in einer aktuellen Situation (z. B. Beurteilung des Reims zweier Wörter, Lesen von Einzelwörtern) aktivierten Hirnareale sichtbar gemacht werden können.

Studien mit dieser forschungsgeschichtlich gesehen noch jungen Technologie haben linkshemisphärisch drei neuronale Systeme identifizieren können, die grundlegend an Prozessen des Lesens beteiligt sind (Schlaggar / McCandliss 2007). In Übereinstimmung mit den Dual-Route Modellen des Lesens (Coltheart 1978, 2005; Kap. 2.1) können diese in ein in der Großhirnrinde vorne, relativ tief liegendes ventrales orthographisches und ein hinten, relativ hoch liegendes dorsales phonologisches System unterteilt werden, die im Zusammenhang mit der indirekten beziehungsweise ­direkten lexikalischen Strategie stehen (Kap. 2).


Abb. 8: Die in diesem Buch benannten und für die Verarbeitung von Schriftsprache zentralen Gehirnregionen

orthographisches System

Das orthographische System liegt im hinteren Bereich der linken Hirnhälfte (posterior) in der sogenannten okzipito-temporalen Region an der Schnittstelle zwischen Gehirnwindungen, die als Gyrus lingualis und Gyrus fusiformis bezeichnet werden (Abb. 8).

Wissenschaftler gehen davon aus, dass dieses System mittels der Spezialisierung bestimmter Neuronenverbände auf die Erkennung sublexikalischer orthographischer Einheiten das flüssige und automatische Erfassen von Wörtern ermöglicht (sog. Visual-Word-Form Area Cohen et al. 2000; Dehaene et al. 2002; McCandliss et al. 2003). Darüber hinaus wird berichtet, dass vergleichbare Akti­vierungen in dieser Region ebenfalls bei der Verarbeitung visuell dargebotener Objekte auftreten und dass das okzipito-temporale System möglicherweise für die stabile Repräsentation visueller Stimuli (wie Formen und Farben) verantwortlich ist. Durch die aktive Verknüpfung mit anderen Arealen kann dann die Kopplung an nicht visuelle Eigenschaften der Stimuli wie Semantik und Phonologie hergestellt werden (Devlin et al. 2006; Price / Devlin 2003).

phonologisches System

Das phonologische System wird in zwei Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen unterteilt. Der eine Bereich liegt posterior (hinten) temporo-parietal in der sogenannten perisylvischen Region, welche den Gyrus supramarginalis, Gyrus angularis und den superioren temporalen Kortex umfasst (Abb. 8). Dieser Teil des phonologischen Systems ist verantwortlich für die Überführung orthographischer in sprachliche Informationen und damit zentral für die phonologische Verarbeitung und die Graphem-Phonem Zuordnung. Der andere Bereich liegt ­anterior (vorne) im frontalen Kortex und beinhaltet den Gyrus frontalis inferior. In diesem Teil des Systems wird die Artikulation und aktive Analyse phonologischer Elemente gesteuert (Pugh et al. 2001). Beide Bereiche des phonologischen Systems stehen im wechselseitigen Austausch und bilden ein funktionelles Netzwerk (Horwitz et al. 1998; Quaglino et al. 2008).

Strategiewechsel

In der kindlichen Leseentwicklung vollzieht sich mit der Zeit ein Wechsel vom phonologischen Lesen hin zum direkten Abruf von bekannten Wörtern. Neurobiologisch gesehen bedeutet dies, dass Kinder als Leseanfänger zunächst auf das phonologische System im temporo-parietalen Kortex angewiesen sind, da ihr Leseprozess hauptsächlich von phonologischen Rekodierungs-Strategien geprägt ist. Mit zunehmender Leseerfahrung bilden und verfestigen sich die orthographischen Verarbeitungsmechanismen des okzipito-temporalen Systems, und bei vertrauten Wörtern kann ein direkter lexikalischer und semantischer Zugriff vollzogen werden (Pugh et al. 2001). Unterstützt werden die Annahmen zur Funktionsweise des Systems durch Studien, die zeigen konnten, dass Kinder beim Lesen von Einzelwörtern im Vergleich zu Erwachsenen signifikant höhere Aktivierung in temporo-parietalen Bereichen aufweisen. Die okzipito-temporalen Regionen hingegen werden bei Kindern sowohl während des Lesevorgangs als auch bei der Wiedergabe bzw. dem Nachsprechen von auditiv präsentierten Wörtern aktiviert. Bei Erwachsenen zeigt sich eine Aktivität allerdings nur während des eigentlichen Leseprozesses. In der Forschung wird daher davon ausgegangen, dass im Verlauf der Leseentwicklung phonologische Verarbeitungsprozesse abnehmen und visuelle Verarbeitungsmechanismen mit steigender Expertise deutlich zunehmen (Church et al. 2008).

Ergebnisse von Post-mortem-Untersuchungen

Viele Erkenntnisse zu den neurobiologischen Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung stammen aus sogenannten Post-mortem-Untersuchungen, bei denen die Gehirne betroffener Personen analysiert wurden (Galaburda / Livingstone 1993; Galaburda / Kemper 1979; Galaburda et al. 1994; Galaburda et al. 1985). Interessanterweise wurden dabei neuronale Verlagerungen (Ektopien) und fokale kortikale Fehlbildungen (Dysplasien) entdeckt, die als Resultat einer beeinträchtigten Nervenzellwanderung in der embryonalen Entwicklungsphase angesehen wurden. Strukturelle Auffälligkeiten wurden vor allem in der perisylvischen Region der linken Hirnhälfte gefunden. Bei einem Vergleich zwischen Gehirnen von Menschen ohne Leseprobleme und Personen, die zu Lebzeiten unter einer Lese-Rechtschreibstörung litten, wurde zudem eine abnorme Symmetrie des planum temporale festgestellt (Galaburda / Kemper 1979; Galaburda et al. 1985).

Planum temporale: Oberfläche des Schläfenlappens (Temporallappen), in dem auch das Wernicke-Areal angesiedelt ist. Dieses Areal ist bei etwa zwei Drittel der Bevölkerung linkshemisphärisch größer als rechtshemisphärisch, was als linkshemisphärische Organisation der Sprache interpretiert wird.

Darüber hinaus fanden sich Abweichungen des an der visuellen Verarbeitung beteiligten Corpus geniculatum laterale und im Corpus geniculatum mediale, der einen Teil des auditorischen Systems bildet (Galaburda / Livingstone 1993; Galaburda et al. 1994).

Der Corpus geniculatum laterale (seitlicher Kniehöcker) ist ein Teilgebiet der Sehbahn, gelegen im Thalamus, das die von der Retina über den nervus opticus eingehenden visuellen Informationen an den visuellen Cortex weiterleitet. Es ist v. a. für das Wahrnehmen von Details und schneller Bildabfolgen und für die Regulierung des Informationsflusses verantwortlich.

Der Corpus geniculatum mediale (mittlerer Kniehöcker) übernimmt die Funk­tionen des seitlichen Kniehöckers für auditive Informationen.

geringe Dichte an grauer Masse

Mittlerweile wurden in strukturellen Bildgebungsstudien verschiedene Kortex­areale identifiziert, in denen Kinder und Erwachsene mit Lese-Rechtschreibstörung im Vergleich zu normallesenden Personen ein geringeres Volumen oder eine geringere Dichte an grauer Masse aufwiesen.

Um solche Vergleiche durchführen zu können, wird ein Verfahren namens voxel­basierte Morphometrie (VBM) verwendet.

Mithilfe der voxelbasierten Morphometrie VBM können Hirnstrukturen aus der tomo­gra­phischen Bildgebung hinsichtlich Größe, Intensität, Form- und Textur­parameter quantitativ beschrieben werden. Die ermittelten Maßzahlen werden gemeinsam mit anderen experimentellen Parametern statistisch analysiert.

Dadurch können Hirnstrukturen aus der tomographischen Bildgebung hinsichtlich Größe, Intensität, Form- und Texturparameter quantitativ beschrieben werden. Die ermittelten Maßzahlen werden gemeinsam mit anderen experimentellen Parametern statistisch analysiert. Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung weisen demnach häufig Abweichungen in posterior temporalen bzw. temporo-parietalen Regionen der linken Hemisphäre (Brambati et al. 2004; Hoeft et al. 2007; Silani et al. 2005; Steinbrink et al. 2008), in bilateralen okzipito-temporalen Regionen (Brambati et al. 2004; Eckert et al. 2005; Kronbichler et al. 2008) und dem Cerebellum auf (Brambati et al. 2004; Brown et al. 2001; Eckert et al. 2005; Kronbichler et al. 2008).

gestörte Konnektivität in neuronalen Systemen

Etwa seit dem Jahr 2000 wurde vermehrt von Befunden aus Diffu­sions-Tensor-Bildgebungsstudien (Diffusion Tensor Imaging, DTI) berichtet. Durch dieses Verfahren können mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) die Diffusionsbewegungen von Wassermolekülen im Körpergewebe gemessen und räumlich aufgelöst dargestellt werden. Das Diffusionsverhalten bzw. die Richtungsabhängigkeit der Diffusion erlaubt Rückschlüsse auf den Verlauf der großen Nerven­faserbündel. Forschungsergebnisse ermittelten eine weniger stark ausgeprägte Konnektivität (Verbindung) der weißen Masse in linken tempo­­­ro-parietalen Regio­nen beim Vergleich normaler und schwacher Leser (Beaulieu et al. 2005; Deutsch et al. 2005; Klingberg et al. 2000; Steinbrink et al. 2008), während im Corpus Callosum eine stärkere Konnektivität der weißen Masse bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung im Vergleich zu normallesenden Personen gefunden wurde (Dougherty et al. 2007). Ausgehend von diesen Ergebnissen wird bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung eine Störung der Konnek­tivität zwischen den neuronalen Lesesystemen innerhalb der linken Hemisphäre vermutet. Die gleichzeitig beobachtete stärkere Konnektivität zwischen anatomisch korrespondierenden Kortexarealen der linken und rechten Hemisphäre hingegen sprechen für eine stärkere Nutzung der rechtshemisphärischen Systeme. Mög­licherweise kann dies als Hinweis für einen kompensatorischen Mechanismus gewertet werden, der bei leserelevanten Prozessen zum Tragen kommt ­(Gabrieli 2009).

Weitere Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren konnten bedeutende Aktivierungsunterschiede zwischen Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung und normallesenden Personen während der Bearbeitung von Lesematerial oder Aufgaben mit Lesebezug zeigen (McCandliss / Noble 2003; Shaywitz / Shaywitz 2005). Wiederholt konnten dabei sowohl für Erwachsene als auch für Kinder linkshemisphärische Unteraktivierungen im posterior parietalen Kortex (Brunswick et al. 1999; Rumsey et al. 1997; Shaywitz et al. 2002; Temple et al. 2001), im inferior okzipito-temporalen Kortex (Brunswick et al. 1999; McCrory et al. 2005; Paulesu et al. 2001; Shaywitz et al. 2002) und im Gyrus temporalis superior (Paulesu et al. 1996, 2001; Rumsey et al. 1997) ermittelt werden.

Interessanterweise finden sich solche Befunde in den verschiedensten Sprachen, obwohl zum Teil große Unterschiede bezüglich der Transparenz der jeweiligen Orthographie bestehen. So traten im Vergleich zu normallesenden Menschen geringere Aktivierungen in gleicher Form bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung aus Frankreich, Italien und Großbritannien auf (Paulesu et al. 2001). Darüber hinaus zeigen Jugendliche mit einer Lese-Rechtschreibstörung die beschriebenen Unteraktivierungen nicht nur im Vergleich mit einer Gruppe Gleichaltriger, sondern auch verglichen mit einer Gruppe jüngerer Normallesender, die bezüglich des Leseniveaus analog waren. Daher scheinen die ermittelten funktionellen Defizite einer Lese-Rechtschreibstörung unabhängig von der Leseleistung zu sein (Hoeft et al. 2007). Die Beeinträchtigung der beiden posterioren Systeme des oben beschriebenen Lesenetzwerks kann somit als sprachübergreifende neuronale Signatur für eine Lese-Rechtschreibstörung angesehen werden (Shaywitz / Shaywitz 2005).

In Bezug auf die gefundenen Aktivierungsmuster des anterioren Lesesystems gibt es widersprüchliche Ergebnisse. Zum Teil werden bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung höhere Aktivierungen im linken inferioren frontalen Kortex im Vergleich zu normallesenden Personen gefunden (Brunswick et al. 1999; Grünling et al. 2004; Shaywitz et al. 1998). Andere Studien allerdings finden solche Überaktivierungen nicht (Eden et al. 1996; Rumsey et al. 1994). Überraschenderweise wird in einigen Untersuchungen sogar von Unteraktivierungen berichtet, die beim Lesen beobachtet werden konnten (Georgiewa et al. 1999; Paulesu et al. 1996; Rumsey et al. 1997; Shaywitz et al. 2002).

Ergebnisse von Metaanalysen

Um übergreifende Aussagen treffen zu können, werden in der Wissenschaft häufig sogenannte Metaanalysen durchgeführt, die verschiedene Einzelstudien zusammenfassen und deren Aussagekraft mit speziellen statistischen Methoden bündeln. Bezüglich der Ergebnisse der verschiedenen Bildgebungsstudien zu Akti­vierungsunterschieden zwischen Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung und solchen ohne Störung wurden in den 2000er Jahren zwei bedeutende Metaanalysen durchgeführt. Die erste Studie veranlasste eine Analyse von neun Studien, die mit gesunden, postpubertären Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung aus Ländern mit alphabetischen Schreibsystemen durchgeführt wurden, die mit dem Lesen von visuell präsentierten Wörtern, Pseudowörtern oder Buchstaben konfrontiert wurden (Maisog et al. 2008). Als zentrales Ergebnis konnte eine größere Wahrscheinlichkeit für eine Unteraktivierung bei Menschen mit ­einer Lese-Rechtschreibstörung für posterior ventrale, inferior parieto-temporale und inferior frontale Bereiche der linken und für den Gyrus fusiformis, Gyrus postcentralis und Gyrus temporalis superior der rechten Hemisphäre dokumentiert werden. Die stärksten Aktivierungswahrscheinlichkeiten und die größten Übereinstimmungen zwischen den einbezogenen Studien wurden für den extra­striaten Kortex der linken Hemisphäre gefunden. Höhere Wahrscheinlichkeiten für Überaktivierungen bei Menschen mit Dyslexie wurden für den rechtshemisphärischen Thalamus und, weniger übereinstimmend zwischen den Studien, für den anterioren Bereich der rechtshemisphärischen Insula berichtet. Allerdings konnten keine Anzeichen für eine Überaktivierung des linken frontalen Kortex oder für Aktivierungsunterschiede des Cerebellums gefunden werden. In der zweiten Metaanalyse wurden siebzehn Studien berücksichtigt, in denen Aufgaben mit Wörtern, Zeichenfolgen oder einzelnen Buchstaben von Personen mit einer Lese-­Recht­schreib­störung bearbeitet werden mussten (Richlan et al. 2009). Hier wurde die höchste Wahrscheinlichkeit für Unteraktivierungen für inferior parietale, inferior, mittlere und superior temporale und fusiforme Regionen der linken Hemisphäre ermittelt. Unteraktivierungen hingegen fanden sich im Gyrus frontalis inferior bei gleichzeitigen Überaktivierungen im primären Motorkortex und der anterioren Insula. Es wurden keine Aktivitätsunterschiede zwischen Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung und Normallesenden in der rechten Hemisphäre oder im Cerebellum gefunden (Abb. 8).

auditive Aufgaben

Neben Studien, die sich mit der Bearbeitung von Lesematerial beschäftigen, gibt es auch einige Bildgebungsstudien, in denen Aktivierungsunterschiede zwischen Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung und normallesenden Personen bei der Bearbeitung basaler auditiver Aufgaben gefunden wurden. So wurden in einer Studie beispielsweise 16 Sequenzen von drei bzw. vier Tönen pro Minute präsentiert, und es musste entschieden werden, ob die Töne innerhalb einer ­Sequenz identisch waren oder nicht (Rumsey et al. 1994). Neben höheren Fehlerraten zeigten Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung eine geringere Aktivierung in rechtshemisphärischen fronto-parietalen Regionen. In weiteren ­Studien mit Erwachsenen (Temple et al. 2000) und Kindern mit einer Lese-­Rechtschreibstörung (Gaab et al. 2007) wurden nicht-sprachliche auditive ­Stimuli dargeboten, und es musste zwischen Stimuli hoher und niedriger Frequenz unterschieden ­werden. Personen ohne Lesebeeinträchtigung zeigten bei Stimuli mit kurzen im Vergleich zu Stimuli mit langen Frequenzübergängen erhöhte Aktivität im präfrontalen Kortex. Bei den Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung konnten hingegen keine Aktivierungsunterschiede in diesem Areal beobachtet werden. Interessanterweise konnten durch ein Training zur Verbesserung schneller auditiver Verarbeitung sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung höhere Aktivierungen in präfrontalen Arealen bei der Verarbeitung von Stimuli mit kurzen Frequenzübergängen erzielt werden.

visuelle Aufgaben

Neben Studien zur phonologisch-sprachlichen Verarbeitung wurden Studien zur basalen visuellen Verarbeitung mit bildgebenden Verfahren durchgeführt. Es konnten Aktivierungsunterschiede zwischen Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung und unbeeinträchtigten Lesern ermittelt werden. In einer Studie wurde beispielsweise entweder ein sich gleichmäßig bewegender Stimulus mit niedrigem Kontrast (durch den vor allem das magnozelluläre System des visuellen Kortex stimuliert werden sollte), oder ein fixer Stimulus mit hohem Kontrast (der vor allem das parvozelluläre System ansprechen sollte), präsentiert. Personen ohne Leseschwierigkeiten zeigten bei der Präsentation des sich bewegenden Stimulus eine Aktivierung des Areals V5 / MT im visuellen Kortex, während bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung keine Aktivierungen auszumachen waren. Hinsichtlich des fixen Stimulus wurden keine Aktivierungsunterschiede zwischen den beiden Gruppen gefunden. In zwei weiteren Studien wurden erwachsenen Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung und solchen ohne Lesebeeinträchtigung sich bewegende Gittermuster mit geringer und hoher Leuchtdichte präsentiert (Demb et al. 1998). Die Personen ohne Leseprobleme wiesen höhere Aktivierungen im primären visuellen Kortex und in extrastriaten Regionen bei der Darbietung der bewegten Stimuli mit geringer Leuchtdichte auf. Darüber hinaus zeigte eine Untersuchung mit Kindern unterschiedlicher Lese­fähigkeit, denen sich bewegende Gittermuster in unterschiedlichen Kontrast­auflösungen dargeboten wurden, Aktivierungen der Areale V1 und MT+ (Ben-Shachar et al. 2007). Ein stärkeres Ansprechen auf Kontraständerungen im Areal MT+, aber nicht in V1, zwei Bereiche des visuellen Kortex, stand zudem im Zusammenhang mit besseren Leistungen in verschiedenen Lesetests und der phonolo­gischen Bewusstheit. Die Aktivierungsunterschiede werden daher als ein basaler neuronaler Marker für Leseleistung angesehen.

4.2.3Übersicht und Ausblick

Die Übersicht über die verschiedenen Erklärungsansätze zu den neurobiologischen Grundlagen macht deutlich, dass die Lese-Rechtschreibstörung als multidimensionales Problem angesehen werden kann. Auf kognitiver Ebene tritt vor allem das phonologische Verarbeitungsdefizit in den Vordergrund, welches zudem teilweise auch gemeinsam mit sensorischen und / oder motorischen Defiziten vorkommen kann. Obwohl verschiedene sehr überzeugende Theorien zur Entstehung der Störung formuliert wurden, ist es bisher keiner Hypothese gelungen, alle Phänomene, die bei einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet wurden, befriedigend zu erklären. Möglicherweise kann dies als ein Indikator dafür gewertet werden, dass verschiedene Untertypen der Lese-Rechtschreibstörung existieren.

strukturelle und funktionelle Abnormitäten

Als neuronale Korrelate der Dyslexie werden relativ übereinstimmend strukturelle und funktionelle Abnormitäten der posterioren Lesesysteme in temporo-parietalen und okzipito-temporalen Arealen der linken Hemisphäre beschrieben. Dabei wird davon ausgegangen, dass Beeinträchtigungen im temporo-parietalen System sich wiederum auf die Entwicklung des okzipito-temporalen Systems auswirken können (McCandliss / Noble 2003). Demnach würden diese funktionellen Beeinträchtigungen die phonologische Informationsverarbeitung und damit die Rekodierfähigkeiten massiv beeinträchtigen. Infolgedessen können Graphem-Phonem-Zuordnungen weniger effektiv und stabil aufgebaut werden. Solche gespeicherten Informationen sind allerdings notwendig für eine graduelle Spezialisierung des okzipito-temporalen Systems zur schnellen und automatisierten Worterkennung.

Bislang konnte noch nicht eindeutig geklärt werden, ob Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung das inferior frontale System des Lesenetzwerks und rechtshemisphärische Systeme tatsächlich als kompensatorische Mechanismen einsetzen. Auch die Rolle des Cerebellums für die Entstehung der Störung ist weiterhin ungeklärt. Obwohl strukturelle Befunde eine geringere Dichte und / oder ein geringeres Volumen der grauen Masse erkennen lassen, wurden in funktionellen Studien keine Aktivierungsunterschiede zwischen Lesern mit einer Lese-Rechtschreibstörung und unbeeinträchtigten Personen gefunden. Die beobachteten funktionellen und strukturellen Abweichungen von Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung werden möglicherweise von bestimmten Genkonstellationen hervorgerufen (Fisher / Francks 2006).

neurobiologischer Erklärungsversuch

Ein neurobiologisches Modell zur Entstehung der Lese-Rechtschreibstörung versucht, die Ergebnisse aus anatomischen und funktionellen Studien mit denen aus Gen- und Tierstudien zusammenzuführen (Ramus 2004). Darin wird beschrieben, dass genetische Abweichungen, vermittelt über eine Beeinträchtigung der Nervenzellwanderung, zu einer abnormalen Entwicklung derjenigen Kortexregionen führen können, die an der phonologischen Verarbeitung beteiligt sind. Zudem wird vermutet, dass sich diese Abweichungen unter spezifischen hormonellen Bedingungen im weiteren Verlauf auf die Entwicklung des Cerebellums auswirken könnten (Stein et al. 2001). Durch das vorgeschlagene Modell kann somit das gemeinsame Auftreten phonologischer, sensorischer und motorischer Defizite bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung potenziell erklärt werden.

abgeleitete Therapiemaßnahmen

In den 2000er Jahren haben Therapieansätze, die auf neurobiologischen Erklärungsmodellen beruhen, erste erfolgversprechende Ergebnisse gezeigt. Beach­tenswert ist allerdings, dass nicht alle Personen mit einer Lese-Rechtschreib­störung von diesen Interventionen profitieren konnten. So wurde in einer multiplen Einzelfallstudie gezeigt, dass von den untersuchten 16 Erwachsenen mit einer Lese-Rechtschreibstörung zwar alle ein phonologisches Verarbeitungsdefizit aufwiesen, allerdings nur zehn an weiteren auditiven Verarbeitungsproblemen litten, vier zudem motorische Defizite und zwei Schwierigkeiten bei visuellen Aufgaben hatten (Ramus et al. 2003). Diese Beobachtung macht deutlich, dass die phonologischen Probleme von Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung auf unterschiedlichen Ursachen beruhen können. Daher können Personen möglicherweise nur von einer Intervention profitieren, wenn diese auf der Basis des jeweils zugrundeliegenden neurobiologischen Defizits entwickelt wurde. Eine Person mit einer sensorischen Beeinträchtigung kann nicht von einem Training motorischer Funktionen profitieren und umgekehrt. Wie bereits erwähnt, wird daher eine Unterteilung der Lese-Rechtschreibstörung in unterschiedliche Untergruppen diskutiert (Beaton 2004). Erste Studien deuten sogar daraufhin, dass solche Untergruppen auch mit elektrophysiologischen Methoden identifiziert werden können (Lachmann et al. 2005).

Notwendigkeit weiterer Forschung

Weitere Forschung auf kognitiver und neurobiologischer Ebene ist unbedingt notwendig, um die bisherigen Befunde weiter empirisch zu unterstützen. Nur so kann mit der Zeit ein tieferes Verständnis der Störung und ihrer kognitiven und neuronalen Bedingungsfaktoren erlangt werden. Auch eine genauere Ausdifferenzierung kognitiver Untertypen der Lese-Rechtschreibstörung, möglicher Komorbiditäten und die Suche nach diesen zugrunde liegenden Dysfunktionen in neuronalen Netzwerken sollten im Fokus zukünftiger Forschung stehen. Neue Erkenntnisse und Fortschritte sind unumgänglich für die Verbesserung individueller Diagnoseinstrumente und für die Entwicklung an das individuelle kognitive Profil angepasster Präventions- und Interventionsansätze.

Zusammenfassung

Das Kapitel widmet sich genetischen, kognitiven und neuronalen Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung. Basierend auf einer Darstellung der wichtigsten kognitiven und neurobiologischen Theorien der Entstehung von Lese-Rechtschreibstörung werden Ergebnisse zu spezifischen Störungen des neuronalen Lesenetzwerks bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung aus Postmortem-Untersuchungen und strukturellen sowie funktionellen Bildgebungsstudien beschrieben. Die Befunde lassen erkennen, dass die Lese-Rechtschreibstörung ein multidimensionales Problem darstellt, das mit verschiedenen kognitiven, sensorischen und motorischen Defiziten und spezifischen Störungen auf neuronaler Ebene einhergeht. In Zukunft sollte sich Forschung daher verstärkt individuellen Profilen bzw. Subtypen der Störung auf kog­nitiver wie neuronaler Ebene widmen.

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)

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