Читать книгу Im Zeichen des Ares - Andreas Parsberg - Страница 8
5
ОглавлениеDer Morgen stieg grau über Athen auf, als die Geschwister die Polizeizentrale verließen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß Labolas, in seiner Gestalt als schwarzer Schäferhund. Karim und Selma überquerten die Straße und ließen sich auf einer Holzbank nieder. Labolas schnüffelte auf der Wiese dahinter, so wie es ein Hund tun würde, jedoch befand er sich in Hörweite.
„Hast du etwas über den Mord herausfinden können?“, flüsterte Karim, jedoch laut genug, dass es Labolas verstand.
„Es wurde dem Gefangenen eine Giftspritze in den Arm gejagt, als dieser gerade den Polizeiwagen verließ.“
„Wie konnte das geschehen?“
„Gute Frage“, antwortete Labolas. „Die Polizisten bewachten den Verletzten, es hätte kein Fremder herankommen können.“
„Dann muss es einer der Polizisten gewesen sein, oder?“, fragte Selma.
„Das ist die einzig logische Erklärung. Einer der Polizisten muss im Dienst der Feinde stehen. Daher habe ich auch keine Spur gefunden, denn alle Fährten haben sich vor dem Polizeiquartier verflüchtigt.“
„Können wir Kommissar Laskari vertrauen?“
„Ich kenne Laskari schon sehr lange“, sagte Labolas. „Ich glaube, er ist der Prinzessin treu ergeben, aber ...“
„Aber?“
„Die Zeiten sind dunkel geworden. Man kann und sollte keinem mehr trauen. Also seid vorsichtig, egal gegen wen auch immer.“
„Das werden wir tun. Kennst du das Café Melina, in der Lisiou 22?“
„Nein. Sollte ich?“
„Der Ermordete hat sich die Adresse auf eine Packung Streichhölzer geschrieben. Vielleicht ist dieses Café ein heimlicher Treffpunkt.“
„Dann werde ich dieses Café auskundschaften“, erklärte Labolas.
„Sollen wir mitkommen?“
„Nein, das würde auffallen, denn eure Anwesenheit in Athen scheint bekannt zu sein. Ich kann in meiner Tarnung als Schäferhund dieses Café jedoch unbemerkt auskundschaften.“
„Einverstanden. Was sollen wir zwischenzeitlich tun?“
„Fahrt zurück ins Hotel und wartet dort auf mich. Dann werden wir unser weiteres Vorgehen besprechen.“
„Gut. Sei vorsichtig.“
Labolas nickte und verschwand. Karim winkte ein Taxi heran und gab dem Fahrer die Hoteladresse.
Während der Fahrt waren die Geschwister sehr schweigsam. Beide hingen ihren Gedanken nach. Von Zeit zu Zeit warf Karim einen raschen, fast scheuen Seitenblick auf seine Schwester. Irgendetwas schien ihn zu beunruhigen.
„Was ist los mit dir, Karim?“
„Ich kann es nicht sagen. Etwas stimmt hier nicht.“
„Du hast ein ungutes Gefühl, richtig?“
„Ja. Aber ich weiß nicht warum.“
„Wir sollten ein paar Stunden schlafen, duschen und anschließend etwas essen. Dann sieht die Welt schon wieder hübscher aus.“
„Vielleicht hast du recht.“
Am Hotel angekommen, stiegen sie aus.
„Weißt du was?“, fragte Selma auf dem Weg zur Lobby. „Gehen wir an der Hotelbar noch einen Cappuccino trinken. Was meinst du?“
„Eine gute Idee“, antwortete Karim. „Ich könnte jetzt einen starken Kaffee gebrauchen.“
Sie fuhren mit dem Lift zum Dachgarten hinauf, wo sich die Hotelbar befand. Es war herrlich, die Sonne über Athen aufgehen zu sehen, ein orangefarbener Feuerball hinter dem hellvioletten Dunst.
Einige Touristen saßen in leichter, sommerlicher Kleidung an den kleinen Tischen.
Selma bestellte zwei Tassen Cappuccino.
„Wenn man hier ist, könnte man glauben, man sei im Paradies. So völlig anders als in unserer Heimat“, meinte Selma und schloss die Augen.
„Aber etwas stimmt hier nicht, ich kann es spüren“, erwiderte Karim und blickte sich rastlos um.
„Kann es sein, dass du dir Sorgen um Faizah machst?“
„Das mache ich mir ständig. Sie ist so weit weg, und ich kann sie nicht beschützen.“
„Die Familien machen das. Du kannst dich auf Vater und unseren Bruder verlassen.“
Karim stand von seinem Stuhl auf.
„Was ist?“, erkundigte sich Selma.
„Ich gehe kurz zur Rezeption, vielleicht wurde eine Nachricht für uns hinterlassen.“
„Mach das. Ich genieße hier noch etwas die aufgehende Sonne.“
Karim verließ die Hotelbar. Mit dem Lift fuhr er hinunter zum Empfang. Es waren keine Nachrichten hinterlassen worden.
In einem der tiefen, ledernen Sessel saß ein untersetzter südländisch aussehender Mann in einem unauffälligen, hellen Anzug und blätterte in einem Life-Magazin.
Karim spürte seinen Blick im Rücken erst, als er von der Rezeption wieder zum Fahrstuhl zurückging. Der Lift war besetzt. Der zweite ebenfalls. Er musste warten.
Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Mit einem Ruck drehte er sich um. Der Südländer hatte das Magazin gesenkt und sah Karim an. Seine Augen waren ungefähr so ausdruckslos wie die eines Reptils. Sie schienen flach und ohne lebendige Tiefe zu sein und hatten jenen matten Schimmer, den man in den starren Augen einer Schlange oder Eidechse erkennen kann.
Langsam hob er das Magazin wieder und schien sich darin zu vertiefen. Aber sein Blick hatte Karim gegolten, dessen war sich Karim sicher. Er verspürte auf einmal das Gefühl, dass der Fremde seinetwegen hier .
Als er vorhin mit seiner Schwester hereingekommen war, hatte der Mann noch nicht in diesem Stuhl gesessen – darauf hätte Karim jeden Eid leisten können.
Schnurrend kam der Lift herunter. Die Etagenziffern leuchteten auf, dann sah er durch das Glas der Tür den Fahrstuhl herabgleiten, und das Summen erlosch. Die Tür öffnete sich. Irgendwelche Leute strömten heraus und gingen an ihm vorbei, ohne dass er ihnen Beachtung schenkte.
Mit einem blitzschnellen Schritt war er im Innern des Fahrstuhles. Der untersetzte Fremde war wieselflink aus dem Sessel hochgekommen und näherte sich dem Lift, in dem sich Karim befand. In dem Augenblick, als er die Hand nach dem Knopf ausstreckte, drückte Karim die Dachgartentaste. Summend schlossen sich die Türen und der Lift fuhr nach oben. Der Fremde verschwand aus seinem Sichtfeld.
Karim fuhr zum Dachgarten hinauf, dann stieg er aus und ging zu Fuß zum dritten Stockwerk hinunter. Die Tür des Lifts hatte er mit einem Metallständer blockiert.
Der dicke, federnde Treppenbelag dämpfte seine Schritte bis zur absoluten Lautlosigkeit. Karims Zimmer lag im dritten Stockwerk und hatte die Nummer 327. Es war die dritte Tür von der Treppe her.
Der Korridor war leer.
Lautlos ging er zur Tür und presste sein Ohr gegen den schmalen Schlitz zwischen Tür und Türstock.
Er hielt den Atem an.
Drinnen war alles still.
Schon wollte er zur Treppe zurück, als sein Blick auf die Türschwelle fiel. Die Tür schloss mit der Schwelle nicht ganz genau ab. Da der Korridor selbst nur matt erleuchtet war, sah er Licht herausdringen.
Als er das Zimmer am vergangenen Abend verlassen hatte, waren die Jalousien unten gewesen. Absolute Dunkelheit hatte im Zimmer geherrscht. Die Magnet-Zimmerkarte hatte er nicht abgegeben. Diese befand sich in seiner Jackentasche.
Irgendjemand musste in sein Zimmer eingedrungen sein!
Von oben hörte er das Schließen der Lifttür, jemand hatte die Blockade entfernt. Dann erklang das leise Summen, mit dem der Fahrstuhl nach unten glitt.
Jetzt konnte es nur noch Sekunden dauern, bis der Fremde, den er an der Rezeption beobachtet hatte, heraufkam. Vielleicht war er auch schon auf der Treppe unterwegs. Jetzt galt es, keine Zeit mehr zu verlieren.
Seine Hand glitt in die Jacke. Er zog die Makarow Pistole und die Magnetkarte für das Zimmer heraus. Er legte die Karte auf das Entriegelungsfeld. Mit einem leisen Knarren schwang die Tür nach innen auf.
Karim schlüpfte geduckt in das Hotelzimmer, die schussbereite Pistole in der Hand. Das Erste, was er tat, war, die Tür ins Schloss fallen zu lassen und anschließend von innen zu verriegeln. Jetzt konnte niemand von draußen herein.
Ein paar Sekunden lang blieb er regungslos an der Tür stehen. Er war nicht sonderlich überrascht, den Raum durchwühlt zu finden; das war genau das, was er erwartet hatte.
Irgendjemand hatte seine Abwesenheit dazu benutzt, in das Zimmer einzudringen. Was hatte der unbekannte Besucher zu finden erwartet?
Alle Schubladen waren herausgerissen. Sogar die Matratze war nicht vergessen worden. Der eingebaute Schrank stand halb offen. Auch die Tür zum Badezimmer war geöffnet. Das Fenster stand offen. Von dort war jemand eingedrungen.
Karim hütete sich, den Fehler zu begehen und ans Fenster zu treten. Die offene Tür des Badezimmers war ihm unheimlich. Er wusste nicht, was sich dahinter – im toten Winkel – verbarg.
Langsam ging er auf die Tür zu. Seine Pistole war gespannt; ein winziger Druck seines Zeigefingers und der Schuss würde hinausjagen.
Er war darauf gefasst, dass sich jemand im Badezimmer aufhielt. Er glitt hinein und stieß die Tür mit der Fußspitze zu. Der Winkel dahinter war leer. Er riss den Gummivorhang der Duschkabine beiseite. Auch sie war leer.
War er zu spät gekommen? Hatte ihn der Unbekannte kommen hören und war auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war, durch das Fenster nämlich, verschwunden?
Karim trat in sein Zimmer zurück und ging ein, zwei Schritte aufs Fenster zu.
Weiter kam er nicht!
Er stand direkt neben dem eingebauten Wandschrank, als die Tür von innen mit großer Wucht aufgestoßen wurde. Die Kante mit dem Schloss traf Karims Hand. Ein jäher Schmerz zuckte durch seine Handwurzel, als sei sie gebrochen, dann sah er eine dunkle Gestalt aus dem Schrank gleiten. Im gleichen Moment, als er die Gestalt erblickte, flog ihm die Pistole aus der Hand.
Karim fuhr herum, um sie aufzuheben. Die Gestalt machte eine ruckartige Armbewegung. Er zuckte zurück.
Etwas sirrte an Karim vorbei!
Eine Handbreit neben seinem Gesicht vibrierte ein schweres arabisches Kampfmesser in der Holztäfelung der Wand.
Karim wirbelte herum, um die Hand danach auszustrecken, da sprang ihn der Fremde an. Seine Bewegungen waren die einer Katze. Er sah das gebräunte Gesicht eines Südländers dicht vor sich. Die Spitzen seiner Finger stießen blitzschnell und kraftvoll nach Karims Gesicht.
Karim schlug die Hand mit dem Unterarm beiseite und stieß dem Angreifer den Ellenbogen ins Gesicht. Lautlos taumelte der Unbekannte zurück. Kein Stöhnen, kein Aufschrei erklang. Nichts!
Der Fremde hatte ein unrasiertes, ausdrucksloses Gesicht. Auch in seinen Augen stand kein Gefühl. Sofort griff er Karim wieder an, die Handkanten gekreuzt.
Die Unterarme der beiden Männer trafen krachend zusammen. Karim hatte das Gefühl, gegen eine Wand geschlagen zu haben, so hart trafen sich die Hiebe. Er schlug dem Fremden in den Bauch; gleichzeitig bekam er einen mit der flachen Hand geführten Schlag gegen die linke Wange, dass er gegen die Wand taumelte.
Der Schlag war darauf berechnet gewesen, Karims Ohr zu treffen und ihm das Trommelfell zu verletzten, um ihn für eine entscheidende Sekunde hilflos und wehrlos zu machen.
Karim stieß mit der Spitze des Schuhes gegen die Leistengegend des Fremden, aber er glitt mühelos zur Seite. Seine Hand packte Karim am Jackenkragen und wirbelte ihn herum. Im nächsten Augenblick hatte er ihn mit dem rechten Arm im Schwitzkasten und drückte mit der Linken den Hinterkopf nach vorne.
Karim versuchte, sich gegen den Griff zu stemmen, der ihm das Genick brechen konnte, aber umsonst. Millimeter um Millimeter drückte er Karim das Kinn auf die Brust herunter. Karim hörte ihn keuchend atmen. Sein Mund war dicht an seinem Ohr.
Karim spannte jede Muskelfaser seines Körpers, um ihm Widerstand zu leisten. Aber der Griff des Fremden saß erbarmungslos fest.
Schon bekam Karim keine Luft mehr. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Als ihm der Kopf zur Seite gedreht wurde, sah Karim das arabische Messer in der gemaserten Holztäfelung der Wand stecken.
Das Bild begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Er riss den rechten Arm hoch. Seine Finger schlossen sich um den Griff des Messers. Er zog es aus dem Holz und bog den Arm zurück, so weit, wie er konnte, dann stieß er zu.
Der Fremde keuchte ihm einen erstickenden Schrei in die Ohren, aber der mörderische Druck an seinem Nacken ließ endlich, fast in letzter Sekunde nach.
Karim riss sich los. Dabei entglitt das Messer seiner Hand und blieb in der Seite des Unbekannten stecken. Der Verletzte stand nach vorne gebeugt vor Karim, als hätte er Leibschmerzen. Sein linker Arm hing schlaff herunter, während er mit der rechten Hand nach dem Messer tastete. Seine glanzlosen Augen waren mit einer unheimlichen Starrheit auf Karim gerichtet, sein Gesicht zu einer Maske verzerrt. Blut stand auf seinen Lippen.
Plötzlich gaben die Beine unter ihm nach. Marionettenhaft langsam sank er auf den Boden und blieb zusammengekrümmt liegen.
Karims Atem ging keuchend, sein Herz hämmerte zum Zerspringen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und spürte faden Blutgeschmack. Er hatte sich während des lautlosen Kampfes selbst in die Lippen gebissen.
Taumelnd ging er ins Bad, drehte den Kaltwasserhahn auf, beugte sich über das Waschbecken und säuberte sein Gesicht, ehe er es im Spiegel betrachtete. Die eine Seite war angeschwollen. Er spülte sich den Mund aus.
In diesem Augenblick hörte er es draußen klopfen.
Mit einem Schritt war er in der offenen Badezimmertür. Seine Pistole war nirgendwo zu sehen. Sie musste beim Kampf unter das Bett geglitten sein.
„Wer ist da?“, fragte Karim.
„Zimmerservice. Die Rezeption hat mich mit einer Nachricht aus der Türkei nach oben geschickt. Ich soll Ihnen ein verschlossenes Kuvert überreichen.“
Die Stimme hatte einen schwachen, aber unverkennbar türkischen Akzent. Es machte Karim unsicher, jedoch war es möglich, dass ein Türke in einem griechischen Hotel arbeitete.
„In Ordnung. Schieben Sie das Kuvert unter der Tür durch“, sagte Karim. Er hatte keine Lust, aufzumachen. Der Unbekannte mit dem Messer in der Seite lag noch immer auf dem Teppich, und Karim hatte nicht einmal seine Pistole bei der Hand.
„Nun schieben Sie es doch unter der Tür durch“, wiederholte er und zog eine Fünf-Euro Banknote aus der Tasche, ging zur Tür, bückte sich und schob den Geldschein als Trinkgeld unter dem Türspalt durch.
Das Krachen war leise, aber nicht zu überhören!
Es klang, als ob eine dünne Eisscholle zerbrochen wird. Kaum zwei Fingerbreit vor seinen Augen funkelte eine lange, dünne Klinge im Holz der Tür. Sie war lang genug, um durch ihn hindurchzugehen, wenn sie ihn wirklich getroffen hätte.
Plötzlich wurde die Klinge mit einem Ruck wieder herausgerissen, und Karim hörte rasche Schritte, die sich über den Korridor entfernten, dann folgte das Schließen der Fahrstuhltür.
Mit einem Satz war Karim am Bett und riss die bis zum Boden herabhängende Decke hoch. Da lag seine Pistole. Er hob sie auf, lief zur Tür zurück, schloss auf und trat auf den Flur hinaus.
Er war leer. Ein dünnes Summen drang aus dem Liftschacht und Karim sah die Lichter über die elektrische Etagen-Anzeigetafel zucken.
Schon wollte er die Treppen hinunterstürmen, aber dann sagte er sich, dass es sinnlos wäre. Bevor er unten ankam, hätte der Unbekannte den Lift und vermutlich auch das Hotel bereits verlassen.
Eine Zimmertür öffnete sich und ein älteres Ehepaar kam heraus. Zweifellos Touristen, die Karim mit einem abschätzenden Blick musterten.
Langsam ging er in sein Zimmer zurück. Nachdem er ein paar Sekunden lang nachdenklich auf den Fremden auf dem Teppich gestarrt hatte, nahm er sein Handy aus der Jackentasche und schrieb Selma eine SMS. Er bat die Schwester, sie solle unverzüglich in sein Zimmer kommen.
Als Nächstes wählte er die Nummer von Kommissar Laskari. Ein paar Sekunden später meldete sich eine müde Stimme: „Ja, bitte?“
„Hallo, Kommissar. Hier spricht Karim Al Sayed. Ich bin in meinem Zimmer im Delta Hotel. Wenn Sie noch nicht gegessen haben, dann kommen Sie hierher. Ich möchte Sie gern einladen.“
„Soll das ein Witz sein?“, fragte der Kommissar zurück.
„Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie kommen“, versprach Karim. „Ich serviere Ihnen unbekanntes Fleisch am Spieß.“
„Wie bitte?“
„Spaß beiseite. Ich habe hier einen Toten in meinem Zimmer liegen. Sie sollten schnellstmöglich kommen, Kommissar.“
Karim beendete die Verbindung. Es würde nicht lange dauern und der Kommissar würde mit seinem Stab angeschwirrt kommen. Es klopfte. Selma stand vor der Tür. Karim ließ die Schwester eintreten und erzählte in knappen Worten das Vorgefallene.
Anfangs war Selma schockiert, machte sich Vorwürfe, dem Bruder nicht beigestanden zu haben, beruhigte sich aber schnell wieder. Die Geschwister waren durch den Bürgerkrieg abgehärtet, etwas Blut brachte die beiden nicht aus der Ruhe.
„In einigen Minuten wird Kommissar Laskari hier sein“, sagte Karim.
„Du hast ihn bereits angerufen?“
„Ja. Über kurz oder lang hätte er es sowieso erfahren.“
„Hoffentlich wirst du keinen Ärger bekommen, Karim!“
„Der Kommissar wird das schon regeln. Die Prinzessin hat ihm doch den Auftrag erteilt, seine schützende Hand über uns zu halten.“
Karim drehte den toten Unbekannten auf den Rücken. Selma sah schweigend zu, wie er seine Taschen durchsuchte.
Es war nichts darin zu finden, was die Geschwister weiterbringen könnte. Er trug ein kleines Notizbuch in der Tasche, aus dem ein paar Blätter herausgerissen waren. Nur eine griechische Adresse fand er darin. Er notierte diese in seinem eigenen Notizblock.
Karim wollte das Buch schon zuklappen, als ihm zwischen den letzten Blättern etwas in die Hand glitt. Es war eine kleine Tüte, nicht größer als eine Zuckerpackung, die man zu einer Tasse Kaffee gereicht bekam. Sie hatte keinen Aufdruck. Plötzlich fiel Karim ein, wo er eine ähnliche Tüte schon einmal gesehen hatte: Bei den Habseligkeiten des Mannes, der vor der Polizeizentrale umgebracht worden war.
Er öffnete die kleine Tüte. Sie schien mit Zucker gefüllt zu sein. Er befeuchtete seine Fingerspitze und nahm etwas von dem Pulver auf, steckte es in den Mund und probierte den Geschmack. Bitter, registrierte er in Gedanken.
„Was ist das?“, erkundigte sich Selma.
„Ich bin kein Drogenexperte“, antwortete der Bruder. „Aber ich würde auf Heroin oder Kokain tippen.
Er faltete das Tütchen wieder zusammen und blätterte weiter im Notizbuch. Er fand Silberpapier, hauchdünne Metallfolie, wie man es zum Einwickeln von Schokolade benützt. Streichhölzer hatte er schon vorher bei dem Toten gefunden. Es war eindeutig die Ausrüstung, die man benötigte, um Heroin zu rauchen. Das Rauschgift selbst, die Metallfolie und Feuer. Alles, was man tun musste, war, ein wenig Heroinpulver auf die spitz gefaltete Folie schütten und ein brennendes Streichholz darunterhalten. Der Süchtige atmet den emporsteigenden Heroinqualm ein und absorbiert das Gift durch die Nasenschleimhaut.
Es ist ein teuflisch einfacher Vorgang, der sich den polizeilichen Zugriffen praktisch dadurch entzieht, dass er überall vorgenommen werden kann, selbst in einer stillen Ecke einer Toilette. Der Süchtige trägt alles, was er braucht, um seine mörderische Sucht zu befriedigen, immer bei sich.
Vorsichtig packte er die Sachen wieder zwischen die Blätter des Notizbuches.
„Es würde mich interessieren, wer dieser Mann war.“
Selma zuckte mit den Schultern. „Ein Mörder, den man dir auf den Hals geschickt hat, Karim. Die Frage ist nur, warum?“