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8.

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In diesem Moment begriff Lars mit aller Wucht, dass Zeit sich niemals nachholen ließ. Erst am frühen Abend war er aus Budapest zurück gekehrt, wo er sich zur Netzeinspeisung einer Photovoltaik-Anlage den ganzen Tag lang mit einem örtlichen Energieversorger herumgeärgert hatte. Und nun saß er zuhause auf dem Wohnzimmersofa und unter ihm tat sich der Boden auf. Er fiel. Tief und immer tiefer, und während er ins Bodenlose stürzte, wurde ihm übel und in seinen Ohren tobte ein Orkan.

Irgendwann spürte Lars eine Hand auf seinem Knie, doch es verging ein weiterer Moment, bis er wieder im Hier angekommen war und seine Umgebung sich zu einem ganzen Bild zusammengesetzt hatte.

Die Deckenbeleuchtung war gedimmt und die Vorhänge waren zugezogen. Im Ofen loderte das Feuer. Neben ihm saß Melanie im Schneidersitz. Sie trug eine Jogginghose und eine von Lars' Sweatshirt-Jacken. Ihre Augen waren verweint und ihr Mund zu einem Strich zusammengepresst. Seit Lars sich heute in aller Herrgottsfrühe von ihr verabschiedet hatte, schien Melanie um Jahre gealtert zu sein.

Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ein langes und hölzernes Wort mit einer unmissverständlichen Botschaft: Tod.

»Der Arzt sagt, dass die Schmerzen ziemlich stark sein werden«, sagte Melanie tonlos. »Er sagt, man könne es mit einer Bestrahlung versuchen, doch die Chance auf Erfolg liegt bei einem Prozent. Das bedeutet, dass neunundneunzig Prozent nicht damit einverstanden sind, dass ich weiterlebe.«

»Das sind nichts weiter als dämliche Zahlen«, sagte Lars mit krächzender Stimme, »eine Statistik, mehr nicht.«

Melanie blickte ins Ofenfeuer und sagte leise: »Machen wir uns nichts vor. Es ist aussichtslos.«

»Nein«, stieß er hervor und packte sie am Unterarm. »Ist es nicht! Wir müssen nach jeder Chance greifen. Egal wie klein sie im Moment auch erscheint, du wirst es schaffen und den verdammten Krebs besiegen. Wir dürfen nichts unversucht lassen, du musst dich bestrahlen lassen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ein Prozent ist keine Aussicht. Diese Art von Krebs lässt sich nicht auf Spielchen ein. Wir sollten keine Zeit mit Sinnlosem verschwenden, sondern in den näch-sten Tagen damit beginnen, Vorbereitungen zu treffen.«

Für die Zeit danach, vervollständigte Lars den Satz in Ge-danken, wenn du nicht mehr da bist.

Er sah Melanie an. Seine Frau. Krebs. Wie war das möglich? Sie hatte nie geraucht, trank nur wenig Alkohol, ernährte sich vernünftig. Und sie war jung, auf jeden Fall zu jung zum Sterben.

Melanie warf ihm den Anflug eines Lächelns zu, das tapfer wirken und ihn aufmuntern sollte, doch die Leere in ihren Augen machte die angedachte Wirkung zunichte.

»Wieso so plötzlich?«, fragte er. »So aus heiterem Himmel. Wie ist das möglich?«

Sie antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: »Es ist nicht aus heiterem Himmel. Ich hatte bereits seit einiger Zeit das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.«

Er sah sie staunend an. »Seit wann?«

»Mitte Dezember.«

Lars blieb die Luft weg. Mitte Dezember lag bereits sechs oder sieben Wochen zurück.

»Melli, warum hast du nichts gesagt?«

Sie wich seinem Blick aus.

Seine Stimme wurde lauter: »Was ist, warum hast du mir davon nichts gesagt?«

»Weil es am Anfang nur so ein Gefühl war. Außerdem warst du nicht da, und später hatte es sich nicht ergeben.«

Er machte eine einhaltende Handbewegung. »Moment, das geht gerade alles zu schnell für mich ... . Wie meinst du das, ich sei nicht da gewesen und anschließend hätte es sich nicht ergeben?«

»Du warst damals über Nacht in Düsseldorf. Als ich morgens aufwachte, überkam mich dieses seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf kam, ich hatte keine Schmerzen oder Beschwerden, nichts deutete darauf hin, aber ich ahnte, dass in meinem Körper etwas vor sich ging, das besser nicht geschehen sollte. Du hattest dich den ganzen Tag lang nicht gemeldet und ich wollte dich nicht anrufen, um dich nicht aus dem Konzept zu bringen. Ich wusste ja, wie wichtig die Präsentation war. Als du am Abend nach Hause kamst, lagen wir uns in den Haaren wegen der Sache mit der Tätowierung, und dann hatten wir zwei oder drei Tage lang kaum miteinander gesprochen, weil ich auf dich sauer war wegen der Geschichte, und du warst sauer auf mich, weil ich dir nicht geglaubt hatte. Meine Befürchtung, dass in meinem Körper etwas wütete, nahm dann wieder ab, denn es gab ja keine Anzeichen, und ich sagte mir, dass ich mir das Ganze bloß einbilde. Und dann kam ziemlich schnell der Auftrag aus Düsseldorf und du hattest nichts anderes mehr im Kopf als das Projekt und warst kaum noch ansprechbar gewesen. Es war fast schon ein Wunder, dass du Weihnachten und den Jahreswechsel nicht verschwitzt hattest.«

»Melli, es war ... .«

»Hey, ich mache dir keinen Vorwurf«, unterbrach sie. »Das eine kam zum anderen und um unser Miteinander stand es nicht zum Besten, und das lag ganz entscheidend auch an mir. Ich war stinksauer wegen der Tätowierung.«

»Du glaubst mir bis heute nicht.«

»Weil ich einfach nicht begreife, weshalb du mir unbedingt diese gesponnene Geschichte unterjubeln willst, anstatt mir ehrlich zu sagen, dass du dir diese Tätowierung bereits Wochen zuvor hast stechen lassen und sie mit Camouflage oder Theaterschminke oder was auch immer verborgen gehalten hattest.«

Lars musste sich auf die Zunge beißen, um Melanie nicht zum tausendsten Mal zu beteuern, dass es sich exakt so zugetragen hatte, wie er es ihr erzählt hatte. Doch jetzt war nicht der passende Zeitpunkt, um sich zu streiten – und sehr wahrscheinlich würde es nie wieder den passenden Zeitpunkt geben.

»Wie ging es mit dir weiter?«, fragte er dünn. »Was passierte dann?«

Es schien, als müsste sie kurz nachdenken, doch das tat sie nicht. Sie erinnerte sich nur zu genau.

»Am Tag nach den Weihnachtsfeiertagen kamen die Magen-schmerzen. Anfänglich waren sie nur leicht, sie kamen und gingen in Schüben, manchmal war stundenlang gar nichts. Insgesamt war es halbwegs auszuhalten. Kurz nach Neujahr kam dann der Durchfall hinzu, der nicht mehr aufhören wollte, und ich holte mir einen Arzttermin.«

Es fehlte nicht viel, und Lars hätte Melanie angebrüllt. Es war nicht zu fassen, dass es ihr tagelang schlecht gegangen war und sie, ohne ihm ein einziges Wort zu sagen, zum Arzt gegangen war.

»Der Arzt ließ mein Blut und meinen Stuhl untersuchen. Einige Tage später lagen die Laborergebnisse vor. Der Arzt sagte, er wolle eine Ultraschalluntersuchung durchführen, und tatsächlich entdeckte er etwas an der Bauspeicheldrüse. Noch während ich im Besprechungszimmer war, ließ er beim Radiologen einen Termin zur Computertomographie vereinbaren, und spätestens da wurde mir klar, dass dies nicht mein Glückstag war. Ich bekam einen Termin für den übernächsten Tag. Zu dem Zeitpunkt warst du im Ausland, und noch gab es keine abschließende Diagnose, also erzählte ich dir vorerst nichts. Beim Radiologen musste ich ein Kontrastmittel trinken und eine halbe Stunde später lag ich in einem Raum auf einer automatischen Liege. Über eine Sprechanlage aus einem anderen Raum erhielt ich die Instruktionen, dass ich still zu liegen hatte. Dann wurde ich in eine Röhre gefahren und diese Schnittbilder wurden angefertigt, und dann wurde mir ein zweites Kontrastmittel gespritzt, um die Gefäße und die Bauchorgane deutlicher darzustellen, und anschließend wurden diese ... diese ... .«

Melanie brachte den Satz nicht zu Ende. Sie schüttelte ruckartig den Kopf, ganz so, als wolle sie die Bilder mit Gewalt vertreiben.

Lars war außerstande, etwas zu sagen oder zu tun. Er war wie gelähmt.

Melanie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Das alles war vor vier Tagen. Als der Arzt mir dann heute Vormittag die Diagnose überbrachte, dachte ich zuerst, der Kerl lügt mich an, dachte, das kann nicht sein – ich doch nicht! Ich bat ihn, die Untersuchung noch einmal durchzuführen, um alle Unsicherheiten auszuräumen, doch er sagte, es gäbe keine Unsicherheit.«

»Was genau ...« – Lars musste kräftig schlucken – »... hat er gesagt?«

»Es haben sich neuroendokrine Tumore verteilt. Überall in meinem Körper nagt der Tod. Es bleiben mir noch drei, vielleicht vier Monate. Der Arzt sagt, es breitet sich sehr schnell aus. Er sagt, dass dieser aggressive Krebs selten ist, in Deutsch-land erkranken jährlich höchstens fünfzehntausend Menschen daran, und die sind zumeist siebzig Jahre alt und älter. Ist das nicht mal wieder typisch? Ich bekomme eine Krankheit, die es eigentlich auf Rentner abgesehen hat. Ich unartiges Mädchen verstoße mal wieder gegen alle Gesetze.«

»Melli, ich ... wie sollen Juli und ich ohne dich ... .«

Lars' Stimme versagte. In seiner Hilflosigkeit schüttelte er den Kopf, Tränen stiegen in seine Augen. War das denn zu fassen: Er war gesund, würde leben und Juli heranwachsen sehen, vielleicht sogar ihre Hochzeit erleben und später ihre Kinder im Arm halten, während Melli dann kaum noch mehr sein wäre als eine längst vernarbte Erinnerung. Nicht er war der Beraubte, sondern Melli war die Bestohlene – und er jammerte. Er war ein Schwächling und ein Egoist, doch in diesem Moment konnte er nicht anders.

Melanie nahm Lars' Hand, küsste sie und sagte: »Es ist ein schwacher Trost, aber wir können zumindest alles Wichtige regeln und bewusst Abschied voneinander nehmen. Das Glück haben nicht viele Menschen. Wichtig ist, dass wir die verbleibende Zeit bewusst festhalten und einander loslassen, wenn es soweit ist.«

Lars sah Melanie an und vermochte sich nicht vorzustellen, wie viel Kraft es sie kosten musste, diese Worte so ruhig auszu-sprechen. Wie tapfer seine todgeweihte Frau war, wie stark.

»Das sagst du so einfach«, sagte er unter Tränen. »Melli, ich fühle mich so ... so ...«

»Sei still«, flüsterte sie und legte ihm den Finger an die Lippen. »Nimm' mich in die Arme und halt' mich einfach nur fest.«

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