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9.

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Es ging schnell. Rasend schnell. Nur sechs Wochen lagen zwischen dem Abend, an dem Melanie Lars von der Krankheit berichtet hatte und der Nacht, in der sie erlöst wurde.

Die dazwischenliegende Zeit war für Lars ein einziges Gefühlschaos. Etliche Tage verbrachte er in einem Trance-ähnlichen Zustand und während der meisten Nächte schlief er nur dann halbwegs, wenn er sich vor dem Zubettgehen einige Doppelte genehmigte, was zuletzt immer häufiger der Fall war. Er hatte seine Mitarbeiter in seine private Situation eingeweiht, war nur noch selten im Büro und nahm lediglich die wichtigsten Termine wahr.

Während Lars sich immer wieder der Resignation hingab und wiederholt der Wut erlag, ging Melanie wohlüberlegt und beherrscht vor. Sie beschloss, der Tradition ihrer Familie zu folgen und sich auf See beisetzen zu lassen. Als sie Lars davon erzählte, brach er in Tränen aus. Den Gedanken, dass die Asche seiner Frau in einer sich innerhalb von Stunden auflösenden Urne dem Meer übergeben werden sollte, fand er furchtbar. Keine liebevoll gepflegte Grabstätte, die er und Juli besuchen, an der sie weinen und zu der sie sprechen konnten. Er versuchte, Melanie umzustimmen, doch sie entgegnete mit unumstößlicher Entschlossenheit, er habe ihre Entscheidung zu akzeptieren.

Sie bestand darauf, die wichtigen Dinge alleine zu regeln. Sie erledigte alles mit dem Bestattungsunternehmen, wählte die Musikstücke und die Blumen für die Trauerfeier aus, besprach mit der Pastorin die Trauerrede. Sie verkaufte, bis auf zwei für Juli später vorgesehene Stücke, ihren gesamten Schmuck, kündigte alle Mitgliedschaften und Abonnements, gab nach und nach ihre Kleidung in die Altkleidersammlung, löschte alle unwichtigen Dateien von ihrem Notebook und speicherte alles Wichtige auf USB-Sticks. Zum Schluss löste sie ihr Bankkonto und das Sparbuch auf. Sie war geradezu besessen davon, keine unerledigten Dinge zu hinterlassen. Nur der Ostsee müsst ihr mich noch übergeben, sagte sie einmal, und genau so war es dann auch. Melanie hatte, wie die Pastorin später in der gut gefüllten Kapelle sagen sollte, vor dem Gehen Klar Schiff gemacht.

Eine knappe Woche vor ihrem Tod kam Melanie in ein Krankenhaus, wurde gegen die großen Schmerzen mit morphiumhaltigen Medikamenten vollgepumpt und dämmerte vor sich hin. Am letzten Tag ihres Lebens kehrte sie nach Hause zurück. Abgemagert, die Haut bleich, die Haare stumpf. Es war ihr Wunsch gewesen, dort zu sterben, wo sie als junge Familie gelebt hatten und bis vor kurzem voller Pläne und Zukunfts-freuden gewesen waren.

Juli hatte bereits vor Melanies Einlieferung in das Kranken-haus Abschied genommen. Das Mädchen wusste, dass seine Mutter sterben würde. Melanie hatte es ihr einige Tage nach der Diagnose gesagt, nachdem sie zuvor mit einer Kinder-psychologin die Gesprächsführung besprochen hatte. Am frühen Vormittag, stunden bevor Melanie nach Hause gebracht worden war, hatte Helga ihr Enkelkind abgeholt und Kleidung und Spielzeug für mehrere Tage mitgenommen, obwohl die Ärzte gesagt hatten, dass die kommende Nacht aller Voraussicht nach Melanies letzte werden würde.

Mittlerweile war es später Nachmittag. Melanie lag auf ihrer Seite des Ehebettes und schlief. Die Jalousie war ein Stück weit heruntergelassen und die Vorhänge waren zugezogen, so dass der Raum in einem ruhigen Halbdunkel lag. Lars saß in dem Ledersessel, den er aus der Leseecke des Wohnzimmers geholt und an Melanies Bettseite gestellt hatte. Er war froh über das diffuse Licht, das Melanies eingefallenes Maskengesicht weich zeichnete und sich über die Gelbfärbung ihrer Haut legte. Nichts war geblieben von der von innen heraus strahlenden Frau, in die Lars sich einst verliebt hatte. Das Leben war bereits so gut wie vollständig aus ihr herausgekrochen, und der noch in ihr verbliebene Rest verdiente die Bezeichnung Leben nicht.

Der Arzt, der Melanies Heimkehr nach Hause veranlasst hatte, hatte Lars im Krankenhaus zur Seite genommen. Mit einfühlsamer Stimme hatte er ihm gesagt, dass es in Melanies verbleibenden Stunden ausschließlich um sie und nicht im Geringsten um Lars ging, dass seine einzige Rolle die des zurücknehmenden Begleiters auf ihrer letzten Wegstrecke war. Wenn es dann soweit ist, gehen die meisten Menschen in Frieden und Gelöstheit, hatte der Arzt gesagt und Lars kraftspendend die Hand auf die Schulter gelegt, und nach einer kurzen Pause angefügt, dass der Augenblick des Todes zumeist ruhiger sei als zuvor befürchtet.

Die Stunden vergingen langsam und schnell zugleich. Mit jeder Minute kam Melanie dem Tod unweigerlich näher (wie jeder von uns, dachte Lars immer wieder, doch wenn einem der Tod nicht sichtbar auf der Schulter hockt, denkt man nicht ständig daran, dass die Lebensuhr immer rückwärts und niemals vorwärts läuft). Irgendwann – draußen war es längst dunkel und lediglich die auf Lars' Seite des Ehebettes eingeschaltete Nachttischlampe spendete Licht – öffnete Melanie die Augen. Nur einen Spalt, doch es reichte aus, um für einen Augenblick ein Füllhorn an Hoffnung durch Lars' Herz strömen zu lassen: Gesund, schoss es durch seinen Kopf, die Krankheit ist besiegt, jetzt wird alles gut!

Melanie versuchte zu sprechen. Lars glitt von dem Sessel herunter und brachte sein Ohr ganz dicht an ihren Mund heran. Sie sagte etwas, aber es war so leise und zerstückelt, dass Lars zu atmen aufhören musste, um die Wortfetzen zu verstehen.

Sie bat ihn, auf Juli achtzugeben und sie mit viel Liebe zu jener jungen Frau werden zu lassen, die sie in ihren gemeinsamen Träumen immer gesehen hatten.

Die Tränen schossen in Lars' Augen und er biss sich auf den Zeigefinger, um nicht loszuheulen. Mit aller Kraft beherrschte er sich und sagte so fest wie es ihm möglich war: »Juli wird glücklich sein und uns beide stolz machen. Sie wird ein wunderbarer Mensch sein, ein großartiger Freund und Partner, die beste Gefährtin und Komplizin, die man sich wünschen kann. Ich verspreche es dir, Melli, ich verspreche es ganz fest.«

Der Hauch eines Lächelns zog über Melanies eingefallenes Gesicht, dann dämmerte sie auch schon wieder weg.

Lars schämte sich: Er hatte ihr ein Versprechen gegeben, das er niemals würde einhalten können. Wie sollte er es ohne Melanie schaffen, Juli zu einem glücklichen Mädchen zu machen und zu einer selbstbewussten jungen Frau zu erziehen? Nein, es würde ihm nicht gelingen, er würde als Vater auf ganzer Linie versagen.

Lars legte sich auf seine Seite des Bettes. Er fror und zog die Tagesdecke über seine Beine. Er umfasste Melanies knochige Hand und gab sich der Traurigkeit, Leere und Erschöpfung hin. Während er leise in sich hinein weinte, glitt er schließlich in den Schlaf.

Irgendwann wurde Lars schlagartig wach. Seine Finger lagen noch immer auf Melanies Handrücken, und er spürte sofort, dass ihre Hand kühl war und wusste im gleichen Augenblick, dass Melanie alles hinter sich gelassen hatte. Es war vorbei.

Lars konnte nicht sofort die Augen öffnen, es ging einfach nicht. Er benötigte einen Moment lang, um zu begreifen, dass Melli tot war.

Er bemerkte beiläufig, dass er unwirklich gefasst war. In seinem Kopf spielte ein ruhiges Musikstück, das er nicht kannte, aber das sanfter war als alles andere, was er jemals gehört hatte. Engelsmusik, dachte er und sagte sich, dass Melli den passenden Zeitpunkt abgewartet hatte, um sich von dieser Welt zu lösen. Sie war gestorben, während er geschlafen hatte, war im Augenblick des Sterbens nicht alleine gewesen, doch niemand hatte ihr mit Tränen, falschen Worten oder verzweifelten Gesten das Gehen erschweren können. Melli hatte alles richtig gemacht.

Kurz darauf schlug Lars die Augen auf. Er registrierte nebenbei, dass es draußen bereits hell wurde. Er setzte sich aufrecht hin und blickte in Melanies Gesicht. Die Augen lagen tief in den Höhlen, der Mund stand ein wenig offen, eine leicht gräuliche Farbe hatte sich ausgebreitet. Das Gesicht war leer, von allen Lebensmerkmalen verlassen. Es war weniger ein friedlicher als ein erlöster Ausdruck.

Fast eine Minute lang sah Lars Melanie an und empfand ein Durcheinander aus Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Dankbarkeit. Schließlich küsste er sie auf die Stirn, legte ihr die Hände auf den Bauch und zog ihr die Bettdecke über den Kopf. Dann stand er auf und verließ das Schlafzimmer. Das alles tat er mechanisch, wie von unsichtbarer Hand geführt.

Das Geräusch der hinter sich zugezogenen Zimmertür stieß Lars ins Jetzt zurück. Er stand auf dem Flur. Die Wände hatten nie zuvor enger zusammengestanden, die Raumdecke hatte nie so tief gehangen. Das Haus war so still wie nie und nie zuvor war es hier drin so kalt gewesen.

Ab nun würde für immer alles anders sein.

Nichts wäre mehr wie vorher.

Die Welt war nicht mehr dieselbe.

Lars' Beine wurden weich und er ging zu Boden. In blinder Wut schrie er auf, und dann begann er, in grenzenloser Verzweiflung mit den Fäusten auf den Fußboden zu schlagen. Wieder und wieder, solange, bis die Knöchel seiner Hände blutig waren und der Schmerz bis in die Ellenbogen wie Feuer brannte.

Wieso Melli?

Weshalb nicht er?

Schluchzend kippte Lars zur Seite. Niemals zuvor hatte er sich verlassener und hilfloser gefühlt. Und niemals verratener.

Gott war ein Betrüger.

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