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Der Notar
ОглавлениеZürich, Winter 1952
»Da kann ich leider nichts für euch tun, Jungs. Die Bank braucht einen Totenschein. Ohne das Dokument ist nicht bewiesen, dass eure Eltern wirklich im Konzentrationslager gestorben sind. Und ohne Totenschein keine Erbübertragung. Aber macht euch deswegen mal keine Sorgen. Ich werde weiterhin im Sinne der Familie von Werdenberg agieren und euch nach bestem Wissen und Gewissen unterstützen.« Die geröteten Augen und die feisten Wangen des Notars erinnerten an einen Schweinekopf.
George Orwell lässt grüßen.
Genüsslich schloss der Wanst sein üppiges Mittagessen mit einem Schluck Portwein ab. Der Schweinekopf war durch ein imposantes Doppelkinn mit dem Körper verbunden, welcher die Nähte des maßgeschneiderten Anzugs aus edler englischer Seide arg strapazierte. Draußen pfiff ein eisiger Wind um die herrschaftliche Villa, und auf den Fensterscheiben hatten sich skurrile Eiskristalle gebildet.
Der Notar stand wankend auf und balancierte auf seinen dürren Beinen. Schulmeisterlich legte er seine fettigen, feuchten Hände auf die Schultern der beiden konsternierten Brüder und schob sie sanft ihn Richtung der herrschaftlichen Treppe. Er pflegte sein Mittagessen in der Bibliothek im ersten Stock einzunehmen. Der Salon im Parterre war für seine exklusiven Abendempfänge reserviert. »Meine Haushälterin hat Zimmerstunde. Ich bringe euch noch zur Tür. Dann müsst ihr mich aber entschuldigen. Ich hatte gestern einen strengen Abend und möchte mich ein wenig hinlegen. Das schreckliche Wetter ist Gift für meine Gelenke«, jammerte der Wanst weinerlich.
Alexander von Werdenberg blieb abrupt stehen und schüttelte den Kopf. Er konnte seinen Ärger nicht mehr zurückhalten. »Wie stellen Sie sich das denn vor? Mein Gott – unsere Eltern wurden von den Nazis umgebracht. Meinen Sie etwa, man hätte in den Konzentrationslagern feinsäuberlich Totenscheine ausgefüllt?«
Der Notar lächelte scheinheilig und legte theatralisch seine Handgelenke übereinander. »Mir sind leider die Hände gebunden. Der Bankdirektor der Schweizerischen Bankgesellschaft war diesbezüglich unmissverständlich. Ich begreife ihn. Da könnte ja jeder kommen und …«
Er war nicht in der Lage, den Satz zu Ende bringen. Der jüngere der von Werdenbergs hatte den selbstherrlichen Gauner am Kragen gepackt und schrie ihn an. »Du verdammter Kriegsgewinnler! Wir sind nicht irgendwelche Dummköpfe, die sich von dir noch länger an der Nase rumführen lassen. Du hast lange genug auf unsere Kosten gefressen und rumgehurt! Dir werde ich es zeigen …«
Der Notar war tot, bevor er unten an der Treppe ankam. Wahrscheinlich hatte er sich bereits beim ersten Aufprall das Genick gebrochen. Fett schützt nun einmal weniger gut als eine robuste Muskulatur. Das rechte Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Die Brille lag zerschlagen ein Stück weiter Richtung Tür, und um den leblosen Körper bildete sich rasch eine Pfütze mit gelber Flüssigkeit.
Nicht jedem ist ein so schneller und schmerzloser Tod vergönnt.
Die beiden Windhunde des soeben verstorbenen Notars trotteten aus dem Salon, schnupperten an dem leblosen Bündel und schlichen mit eingezogenem Schwanz zu ihren Wolldecken neben der Eingangstür. Dort legten sie sich ruhig und elegant hin, als wären sie Komparsen eines Filmsets, die auf ihren Einsatz warteten.
»Na, bravo, kleiner Bruder! Gut gemacht. Glaubst du, wir kommen jetzt schneller an unser Geld?« Alexander von Werdenberg schaute seinen Bruder tadelnd an.
Dieser zuckte nur mit den Schultern. »Dir wird schon etwas einfallen. Lass uns schnell verschwinden, bevor die Haushälterin auftaucht. Ich würde die nette Dame nur ungern ins Jenseits befördern.«
Sie traten hinaus, schlugen den Mantelkragen hoch und verschwanden im heftigen Schneesturm.