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Der Auftrag

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Das Vorzimmer des Rektorats war das Reich des einzigen Sekretärs der Universität. Fast schon diskriminierend. Irgendwann würde es sicher dafür eine Quotenregelung geben. Der junge Mann hinter dem massiven Schreibtisch war jedenfalls ein Kind alter Schule. Loyal seiner Chefin gegenüber, herablassend gegenüber Assistentinnen und Assistenten, egal welcher Fakultät, neutral gegenüber Professoren und Professorinnen, wobei die Geisteswissenschaftler – also Historiker, Germanisten und Philosophen – eindeutig tiefer in seiner Gunst standen als die Ökonomen oder Juristinnen, was er sie auch spüren ließ, etwa in Form von längeren Wartezeiten oder dem vergeblichen Hoffen auf eine Tasse Kaffee. Als Philipp den Raum betrat, tat der Vorzimmerdrache so geschäftig wie jemand, der gerade nichts zu tun hatte. Er belegte Philipp mit einem vorwurfsvollen Blick. »Der Chef wartet schon auf Sie …«

Ein »Die Chefin, bitte« konnte sich Philipp gerade noch verkneifen. Er spürte, wie sich seine rechte Hand zu einer Faust ballte. Aber er hatte keine Zeit zu vergeuden. Um die Nervensäge würde er sich ein andermal kümmern.

Die Rektorin war klein und zierlich. Ihre funkelnden Augen und die aufrechte Körperhaltung ließen jedoch keinen Zweifel daran aufkommen, wer in diesem Büro das Sagen hatte. Fries strahlte eine Präsenz aus, die manchen einzuschüchtern vermochte. Und dies zu Recht. Es war schon vorgekommen, dass die Rektorin in Ungnade gefallenen Professoren und Professorinnen die undankbarsten Randstunden für deren Seminare und Vorlesungen zugewiesen hatte. Wenn man, verschuldet oder unverschuldet, auf ihre schwarze Liste geraten war, fand man seine Vorlesung im Semesterprogramm schnell ganz hinten, am Freitag um 19 Uhr. Fries hatte in der Vergangenheit einige Karrieren gefördert – und mindestens so viele vorzeitig beendet. Philipp musste bei ihrem Anblick immer an Judi Dench in der Rolle als Chefin des MI6 denken, was Philipp als alten James-Bond-Fan köstlich amüsierte. Er hatte im Tagesgeschäft nicht viel mit der Chefin der Universität zu tun, wusste aber zu schätzen, dass sie ihn als Quereinsteiger unterstützt und so seine Professur erst ermöglicht hatte. Auch bei diesem Vorfall mit dem besoffenen Studenten hatte Fries kein Theater veranstaltet. Philipp wusste natürlich, dass ihre Unterstützung nicht uneigennützig war und dass der gewiefte Machtmensch, welcher die Rektorin nun mal war, früher oder später eine Gegenleistung einfordern würde.

Quid pro quo.

»Nehmen Sie Platz, mein lieber Humboldt«, sagte die Rektorin mit gefährlicher Freundlichkeit und wies auf die dezent arrangierte Sitzgruppe. Philipp setzte sich in einen der bequemen schwarzen Ledersessel. An der gegenüberliegenden Wand hingen kleine Porträts von bekannten Dichtern, Musikern, Forscher und Politikern. Voltaire, Mark Twain, Goethe, Heine, Tucholsky, Lessing, Mozart und Haydn, George Washington, Benjamin Franklin, Roosevelt, Hoover und Churchill, dann auch Clark Gable und Josephine Baker. Eine bunte Mischung ohne erkennbares Schema.

»Interessante Bekanntschaften«, sagte Philipp und zeigte auf die Bildergalerie. »Sie sehen jünger aus als Ihre Freunde, Frau Rektorin.«

Fries war nicht zum Spaßen zumute. Stattdessen bestellte sie über eine altmodische Gegensprechanlage zwei Tassen Kaffee. Danach blätterte sie lustlos in einigen Unterlagen und wartete, bis ihr Assistent die beiden Tassen auf einem Tablett serviert und die schwere Holztür wieder hinter sich geschlossen hatte. Philipp hoffte inständig, dass es nicht das erste Heißgetränk war, welches an diesem Morgen durch das Gerät gelaufen war. Er hasste den fahlen Geschmack nach langem Wochenende, der sich zwangsläufig einstellte, wenn eine Kaffeemaschine einige Tage nicht in Betrieb gewesen war. Eine Fliege schwirrte an seinem Kopf vorbei, um dann mit einem Rückwärtssalto kopfüber an der Bürodecke zu landen. Mit ihren mikroskopisch kleinen Krallen und Haftpolstern drehte sie dort einige Runden. Zweifellos hielt sie sich in diesem Moment für das Zentrum der Welt.

Die Rektorin riss Philipp aus seinen Gedanken. »Sagt Ihnen der Name von Werdenberg etwas?« Dabei betonte sie das »von« überdeutlich.

Die Frage selbst war eine rhetorische. Mochte Alexander von Werdenberg zwar nicht die Klatschspalten der Boulevardpresse füllen und ein skandalfreies Leben führen, so war er trotzdem in der Schweizer Bankenszene und weit darüber hinaus ein Begriff, ja, eine große Nummer. Die von Werdenbergs – zwei Waisen, Flüchtlinge, die sich nach dem Krieg in der Schweiz hochgearbeitet hatten. Die beiden Brüder hatten in den 60er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts ihre eigene Firma gegründet. Die Privatbank von Werdenberg war so verschwiegen wie erfolgreich. Die exakten Zahlen zum verwalteten Vermögen und Reingewinn der Bank wurden nie publiziert, aber in der einschlägigen Szene war bekannt, dass einige der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien der Schweiz und aus dem Ausland sich bei den von Werdenbergs die Klinke in die Hand gaben. Einer der Brüder war in den 70er-Jahren auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der andere, Alexander von Werdenberg, führte die Geschäfte bis heute äußerst erfolgreich. Er mied jedoch die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weihwasser. Nach Philipps Wissensstand gab es keine offiziellen Fotos von ihm. Doch genau diese Tatsache machte von Werdenberg zu der bekannten und schillernden Persönlichkeit, die er war. Er verkörperte die wohltuende Antithese zu den modernen Managern, die keine Gelegenheit für eine peinliche Homestory oder einen medienwirksamen Auftritt an sich vorbeigehen ließen.

»Ja, der Name von Werdenberg ist mir ein Begriff«, antwortete Philipp kurz. Das sanfte »von« zeigte den Weltbürger. Es war ihm immer noch schleierhaft, was die Rektorin eigentlich von ihm wollte.

Fries ließ ihn weiter zappeln. Sie schien keine Eile zu haben. »Ich kenne Alexander von Werdenberg nur flüchtig. Wir haben zusammen an einigen, sagen wir mal, inoffiziellen politischen Gesprächen teilgenommen, und von Werdenberg hat die Bildungslandschaft der Schweiz immer wieder großzügig gefördert. Verschwiegen. Altes Geld. Mäzenatentum wie aus dem Bilderbuch. Wie Sie vielleicht wissen, ist Alexander von Werdenberg nicht mehr der Jüngste. Zwar ist er bis heute topfit, aber das Rad der Zeit kann auch er nicht anhalten.«

Die Rektorin machte eine Pause und rührte in ihrem Kaffee. Dabei wippte sie mit dem rechten Fuß. Ungewöhnlich für die sonst so kontrollierte Frau.

»Er muss fast 90 Jahre alt sein.« Philipp versuchte das Gespräch möglichst schnell zu beenden. Denn die Zeit bis zum Beginn seiner Vorlesung hielt auch niemand an. Die Rektorin machte keine Anstalten, die Katze aus dem Sack zu lassen. Stattdessen ermunterte sie Philipp durch ihr Schweigen weiterzureden.

»Obwohl man in der Öffentlichkeit nicht viel über ihn weiß, gilt sein Arbeitsethos bei den Angestellten der Privatbank von Werdenberg als legendär. Ich habe gehört, dass Alexander von Werdenberg 24 Stunden am Tag erreichbar sei und kaum Essen und Schlaf benötige. Also ein noch größeres Arbeitstier als Sie, Frau Fries.« Philipp wusste, wie er die Rektorin auf die Palme bringen konnte.

»Machen Sie nur Ihre Witze, Humboldt. Allerdings möchte ich Sie daran erinnern, dass ich in dieser Institution das Sagen habe und Sie im akademischen Bereich – mit Verlaub – nach wie vor ein Neuling sind. Ihre Professur, ich meine …«, ihre Lippen formten sich zu einem süffisanten Lächeln, »… Ihre Titularprofessur haben Sie ausschließlich mir zu verdanken. Außerdem habe ich Sie bei dieser unsäglichen Geschichte bei der letztjährigen Abschlussfeier gedeckt.«

Philipp hob entschuldigend die Hände. »Der besoffene Kerl hat mehrere Studentinnen betatscht und außer mir ist niemand eingeschritten. Eigentlich hätten Sie mir einen Orden für Zivilcourage verleihen müssen.«

»Für Zivilcourage muss man keinem Studenten die Nase brechen.«

»Vergessen Sie bitte nicht die Platzwunde auf meiner Stirn«, verteidigte sich Philipp.

Die Rektorin schüttelte den Kopf, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Es ist mir bis heute schleierhaft, wie der Student, notabene einen Kopf kleiner als Sie, mit seiner Nase gegen Ihre Stirn geschlagen haben soll. Von der gequetschten Rippe gar nicht zu reden.«

»Die Rippe war ein unglücklicher Unfall, als ich den Typen zur Tür begleitet und …«

»… ihn kopfüber auf den Gehsteig bugsiert haben. Nun gut, lassen wir das. Es ist ja nie zu einer Anzeige gekommen.«

Philipp trank seinen Kaffee, der zu seiner Erleichterung nach Koffein und nicht nach Montagmorgen schmeckte. Er blickte der Rektorin offen in die Augen und tippte auf die Uhr. Diesmal verstand Fries die Geste.

»Lassen Sie uns zur Sache kommen, Professor Humboldt. Sie machen einen tollen Job und die Universität ist außerordentlich zufrieden mit Ihnen. Ihre Vorlesungen erfreuen sich großer Beliebtheit, und Ihre Habilitation hat eine wichtige Forschungslücke gestopft. Die Bedeutung der Finanzindustrie für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz wurde in der Wissenschaft lange vernachlässigt und nicht in der notwendigen Breite erforscht. Darum habe ich Ihren interdisziplinären Lehrstuhl geschaffen. Sie bringen frischen Wind auf die Gänge des Campus. Das gefällt mir. Andererseits ist da natürlich auch die finanzielle Komponente. So ein Lehrstuhl kostet viel Geld. Und da sind wir beim Grund unseres Gesprächs angelangt. Herr von Werdenberg ist an mich herangetreten. Er will seine Firmengeschichte in Auftrag geben. Sein Vermächtnis. Und er will, dass Sie es schreiben, Humboldt.«

Philipp hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer banalen Firmengeschichte. Es überkam ihn ein akuter Lachanfall, den er beim besten Willen nicht unterdrücken konnte. Er schüttelte sich vor Lachen und hob entschuldigend die Hände. Währenddessen stieg der Rektorin die Zornesröte ins Gesicht. Ein überhitzter Dampfkochtopf kurz vor dem Bersten. Der Druck entlud sich in einer wüsten Schimpftirade, die Philipp nur noch weiter anstachelte.

»Es ist mir natürlich klar, dass Sie als ehemaliger CEO glauben, etwas Besseres zu sein. Wir sind ja nur dämliche Beamte. Aber ich kann Ihnen jederzeit den Stecker ziehen, Humboldt. Und das werde ich tun, das schwöre ich bei Gott, wenn Sie nicht sofort mit Ihrem dämlichen Lachen aufhören! Ich löse noch heute Ihr kleines Institut auf, und dann können Sie sich Ihre verdammte Vorlesung sonst wo hinstecken!«

Ihr Wutanfall wurde durch ein Klopfen unterbrochen. Der Sekretär steckte seinen Kopf ins Zimmer. »Alles in Ordnung, Frau Fries? Sie wissen doch, dass Sie sich nicht so aufregen sollen. Ihr Arzt hat gemeint …«

»Ich rege mich nicht auf!«, schrie sie und wies ihren Adjutanten mit einer schroffen Handbewegung an, die Tür augenblicklich wieder von außen zu schließen. Fries zitterte wie eine angeschlagene Stimmgabel.

Philipp setzte sich in der Zwischenzeit gegen seinen Lachanfall zur Wehr. Er dachte im Schnelldurchlauf an seine verstorbenen Eltern, an längst vergangene Probleme mit Sophie und weitere dunkle Seiten seines Lebens, was den Lachkrampf milderte. Er schüttelte entschuldigend den Kopf, atmete tief aus und strich sich mit dem Ärmel seines Jacketts die Tränen aus dem Gesicht. »Sorry, Rektorin Fries. Mit einer Firmengeschichte hätte ich wirklich nicht gerechnet. Einmal mit von Werdenberg über das Bankgeschäft diskutieren oder ein Beratungsmandat übernehmen, gerne. Aber eine Firmengeschichte? Da gibt es kompetentere Kandidaten. Warum nicht einen Historiker damit beauftragen? Oder fragen Sie doch Frau Professorin Schelbert. Die freut sich sicher über einen öffentlichen Auftrag. Ich habe so etwas nie gemacht. Zudem hat gerade das Semester begonnen. Mit meiner Vorlesung, dem Seminar und der Betreuung der Doktoranden bin ich voll ausgelastet. Und forschen soll ich ja auch noch.«

Fries stand auf und blickte aus dem Fenster in den grauen Morgenhimmel über Zürich. Der Wind hatte weiter aufgefrischt und drückte nun dicke Regentropfen gegen die Scheiben. Ein feines Klopfen war zu hören, wie auf einer Tischplatte trommelnde Finger. Fries zuckte mit dem Kopf nach rechts, dann nach links. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie lange Haare getragen hatte. Die Haarpracht war mittlerweile verschwunden, die Phantombewegung geblieben. »Bilden Sie sich nur nicht zu viel auf sich ein, Humboldt. Natürlich habe ich die Schelbert vorgeschlagen, allerdings hat von Werdenberg abgelehnt.«

Philipp wurde hellhörig. »Was hat meine Kollegin dazu gesagt?«

»Was meinen Sie denn?«, fragte die Rektorin gereizt zurück. »Sie hat sich natürlich teuflisch aufgeregt, dass ›der Krieger‹ den Auftrag bekommen hat.«

»Der Krieger?«

Fries verdrehte die Augen. »Ja, Sie – der Krieger. Professor Humboldt, der immer alles kriegt.«

Philipp lächelte böse in sich hinein. Sein Bauchgefühl hatte ihn also nicht getäuscht. Die Schelbert intrigierte gegen ihn. Er würde sie in Zukunft genauer im Auge behalten.

Fries fuhr fort. »Es geht natürlich nicht um eine profane Firmengeschichte. Es steckt mehr dahinter. Viel mehr.« Die Rektorin machte eine bedeutungsschwangere Kunstpause und drehte sich wieder zu Philipp. »Alexander von Werdenberg will seine Bank verkaufen. Und zwar an die Zürcher Investment Bank, die Sie als ehemaliger CEO bestens kennen. Der Gewinn aus dem Verkauf soll in eine Stiftung fließen, die von seiner Tochter geführt wird. Ich muss Sie nicht darauf hinweisen, dass diese Informationen nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Es wird der Deal des Jahres an der Schweizer Börse. Die Privatbank von Werdenberg wird für immer verschwinden. Alexander von Werdenberg will, dass Sie sein Vermächtnis verfassen und ihm für Fragen zur Verfügung stehen.«

Philipp pfiff leise durch die Zähne. Das war wirklich eine große Sache. Die spektakulärste Übernahme seit Langem auf dem Finanzplatz, dazu von dieser diskreten, ja geheimnisvollen Bank.

Fries blieb die Veränderung in Philipps Körpersprache nicht verborgen und sie setzte nach. »Sie werden einmal unser Starprofessor, Humboldt. Darum will von Werdenberg Sie. Nur Sie und niemand anderen. Das passt wie die Faust aufs Auge. Sie beide sprechen dieselbe Sprache, zwei Experten auf Augenhöhe. Für die Detailarbeit bekommen Sie einen Journalisten oder was immer Sie brauchen.«

»Ich dachte, die Ressourcen der Universität seien knapp bemessen? Woher stammt auf einmal das Budget dafür?«

Fries zeigte ihr breitestes Lachen und die kräftigen weißen Zähne kamen zum Vorschein. Ein Raubtier, das jederzeit zubeißen und seine Beute in tausend Stücke reißen konnte. »Dafür ist gesorgt. Von Werdenberg wird alle Zusatzkosten übernehmen. Und nicht nur das: Wenn wir das Projekt nach seinen Wünschen ausführen, wird er uns – und damit auch Ihr Institut – mit einem großzügigen Legat unterstützen. Wir können die Universität voranbringen und unseren Kollegen von der ETH endlich wieder einmal so richtig vors Schienbein treten.«

Daher wehte also der Wind.

Es war der Rektorin ernst. Todernst. Philipp rutschte auf seinem Stuhl hin und her, fand aber keine passende Position. Das Knirschen des Leders, sonst ein Zeichen von Gemütlichkeit, war nun laut und unangenehm. Der angesprochene Deal war interessant, keine Frage. Andererseits war eine prominente Rückkehr in die Bankenwelt genau das, was Philipp unbedingt vermeiden wollte. Keine Steine umdrehen, die Vergangenheit ruhen lassen, und die Toten …

»Wenn es nur ums Geld geht, bezahle ich den Unterhalt meines Institutes aus eigener Tasche.« Philipp hoffte, dass er so von der Aufgabe verschont bliebe. Vergeblich.

»Professor Humboldt. Wir sprechen hier von Zahlen, die sogar Ihr Konto sprengen würden. Es dreht sich hier nicht um einige 10.000 Franken.« Fries kostete den Moment aus und machte sich keine Mühe, ihre Genugtuung zu verbergen.

»Sechsstellig?«

Die Rektorin schüttelte genüsslich den Kopf.

»Siebenstellig?«

Fries blickte zur Decke und ihre Daumen zeigten nach oben. Sie wippte dabei mit den Unterarmen, als würde sie einen Düsenjet auf die richtige Position lotsen. »Achtstellig, Humboldt. Und die erste Zahl ist keine Eins, so viel kann ich Ihnen sagen.«

Jetzt verstand Philipp die Anspannung der Rektorin. Alexander von Werdenberg gehörte zu den reichsten Einwohnern der Schweiz, wobei ein großer Teil seines Vermögens in der Bank steckte. Der Bankier schaffte es in der jährlichen Rangliste der Bilanz jeweils ganz nach oben. Lediglich einige Oligarchen und alteingesessene Industrielle hatten noch mehr auf der hohen Kante.

Aus der strengen Rektorin war nun eine begnadete Verkäuferin geworden und sie wickelte Philipp mit Zuckerwatte ein. »Wir könnten zusammen Ihr Institut auf Vordermann bringen, es mit allen nötigen Ressourcen ausstatten. In den nächsten zehn Jahren würde so der Nukleus der Schweizer Bankforschung hier in Zürich entstehen. Mit Ihnen an der Spitze, Humboldt. Und die Beförderung zum ordentlichen Professor wäre sowieso selbstverständlich – bereits im nächsten Jahr. Ich mag Sie, Philipp. Sie haben eine große akademische Karriere vor sich.«

Philipp war hin- und hergerissen. Was konnte denn schon passieren? Schließlich würde er in von Werdenbergs Vergangenheit stöbern – und nicht umgekehrt. Und über die alten Geschichten musste in der Zwischenzeit nicht nur Gras, sondern längst ein veritabler Wald gewachsen sein. Das Angebot war verlockend. Mit dem Legat könnte er sein eigenes Institut aufbauen. Hatte er das nicht immer gewollt, etwas Sinnvolles leisten, etwas Bleibendes hinterlassen, worauf er dereinst stolz zurückblicken konnte? Dennoch erbat sich Philipp eine kurze Bedenkzeit. Das Projekt höre sich zwar sehr attraktiv an, er müsse aber noch Rücksprache mit seiner Frau halten, da sie schließlich beide für die Erziehung der Kinder verantwortlich seien und mit der Annahme des Projektes ohne Zweifel Arbeitsstunden über das normales Pensum hinaus entstünden.

Die Rektorin gab sich vordergründig verständnisvoll. »Abgemacht. Ich respektiere Ihre Bedenkzeit und werde Herrn von Werdenberg informieren, dass Sie sich morgen für ein erstes Treffen an sein Büro wenden. Die Kontaktnummer werden wir Ihnen zukommen lassen. Jetzt sollten Sie sich aber beeilen, in wenigen Minuten beginnt Ihre Vorlesung.«

Nach einem Blick auf die Uhr blieb Philipp keine Zeit mehr, auf den geschickten Schachzug der Rektorin zu reagieren. Er griff nach seinen Unterlagen und eilte davon.

War er gerade über den Tisch gezogen worden?

Der Vorlesungsraum war zum Bersten voll. Das ganze Ausmaß wurde ersichtlich, als sich Philipp zum Rednerpult durchgekämpft hatte. Der Raum war maßlos überfüllt, vollgestopft wie ein Pendlerzug in Mumbai. Am Eingang hatte sich bereits ein längerer Rückstau gebildet. Die Scheiben waren von innen angelaufen und die Luft war feucht wie in einer Waschküche. Der Sauerstoffpegel lag deutlich unter dem Lärmpegel. Philipp konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen – die Menschenansammlung war seine Rettung. Unter solchen Umständen war an eine reguläre Durchführung der Vorlesung gar nicht zu denken. Er breitete die Arme aus, wie Jesus bei der Bergpredigt. »Guten Morgen. Ich muss Sie leider enttäuschen. Die Autogrammstunde von George Clooney wurde abgesagt. Hier wird nun stattdessen die Vorlesung ›Geschichte der Schweizer Banken seit 1945‹ abgehalten.«

Schallendes Gelächter.

»Nun gut. Ein Versuch war es wert. Aber ich möchte Sie dennoch warnen. Grundlage meiner Vorlesung ist dieses Buch.« Philipp hob seine soeben veröffentlichte Forschungsarbeit in die Höhe. »500 Seiten. Trocken wie ein alter Zwieback.« Er legte den Schmöker vor sich auf das Pult und fuhr fort. »Ich freue mich natürlich außerordentlich über das rege Interesse an meiner Forschung. Mit diesen prekären Platzverhältnissen können wir heute allerdings keine reguläre Vorlesung abhalten. Ich werde versuchen, bis nächste Woche einen größeren Raum zu organisieren. Lesen Sie bis dahin die ersten beiden Kapitel meines Buches. Sie können es kostenlos auf der Webseite meines Instituts herunterladen.«

Anerkennendes Klopfen. Philipp klemmte sich seine Sachen unter den Arm und blickte dann nochmals ins Plenum. »Die zwei Kapitel beleuchten die Entstehung des Finanzplatzes. Ich lege in meinen Vorlesungen und Seminaren großen Wert auf ein profundes Verständnis der historischen Zusammenhänge. Man lebt das Leben zwar vorwärts, aber verstehen kann man es nur rückwärts. Ich wünsche allen einen guten Semesterstart.«

Philipp atmete erleichtert aus. Er konnte noch nicht ahnen, was auf ihn zukommen würde. Vorwärts gesehen.

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