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Barrington Cove Highschool

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Ein Dienstagvormittag


Mason zog sein Smartphone aus der Hosentasche und linste auf das Display. Shit, immer noch zehn Minuten! Verging die Zeit eigentlich gar nicht? Er ließ sich wieder nach hinten sinken, streckte die Füße unter dem Pult aus und schloss für einen Moment die Augen. Diese »Miss« (auf das sie in ihrem steinzeitlichen Alter unbedingt bestand) Fuller konnte sich so an ihrem Stoff aufgeilen. Die Kathedralen-Kurzgeschichte von Raymond Carver mochte ja nicht schlecht sein, aber warum konnten sie die nicht einfach lesen und es gut sein lassen, anstatt dass die Fuller nun schon seit zwei Stunden an einem drei-oder-wie-viel-auch-immer-seitigen Ding rumlaberte? Er zuckte zusammen, als ihn etwas Spitzes in den Arm stach, und fuhr herum.

Randy legte sein Geodreieck wieder vor sich und deutete mit den Augen nach vorne.

Die Fuller stand mit verschränkten Armen da und schaute ihn grimmig an. »So, Mr. Collister, hatten Sie letzte Nacht nicht genug Schlaf?«

»Ich habe nur gerade versucht, mir vorzustellen, wie es ist, nichts sehen zu können, wie dieser …« Verdammt, wie hieß der Blinde in der Geschichte? Hatte er überhaupt einen Namen? »… ein blinder Typ, der die Kathedrale malt«, improvisierte er und lächelte sie strahlend an.

Aus den Pultreihen drang ein unterdrücktes Lachen.

»Miss« Fuller schnaubte, dann wandte sie sich wieder ihrem Buch zu und laberte etwas von Syntax. Er versuchte, seinem Gesicht einen interessierten Ausdruck zu geben, während er seine Gedanken schweifen ließ.

Endlich wurde er von der Schulglocke erlöst. Ein ohrenbetäubendes Geschrei brach los. Er trat ans Fenster, öffnete es, steckte den Kopf hinaus und ließ sich die Sonnenstrahlen aufs Gesicht scheinen. Obwohl der Autolärm hier überwog, bildete er sich ein, das Meer rauschen zu hören und die salzige Luft über den Abgasdunst hinweg zu riechen. Es dauerte einen Moment, bis Mason registrierte, dass es hinter ihm ruhiger geworden war. Er drehte den Kopf. Samsbury, der Direx, stand in der Tür! Ausgerechnet!

Unwillkürlich fing sein Herz an zu rasen. Er presste die Lippen zusammen. Verdammt! Dass dieser Sack ihn immer noch so aus der Ruhe bringen konnte! Doch dieses Mal hatte er es wohl nicht auf ihn abgesehen.

Samsbury klatschte in die Hände, dann spreizte er sie, dass sich nur noch die Fingerspitzen berührten. »Ladies and Gentlemen! Einen Augenblick Ruhe, bitte!«

Oh, wie er diese näselnde Stimme mit diesem fürchterlichen englischen Akzent hasste! Nicht umsonst hatte er den Spitznamen »Der Prinz«! Doch die nächsten Worte ließen Mason aufhorchen.

»Leider ist Mr. Johnson ausgefallen und wir konnten für die nächste Stunde so kurzfristig keinen Ersatz aufbringen, Sie haben die nächste Stunde also eine Freistunde.« Gleich hob er die Hand, um das Stimmengemurmel zu stoppen, und fuhr fort. »Was nicht bedeuten soll, dass Sie frei haben. Nehmen Sie ihre Mathematikbücher und arbeiten Sie den Stoff der letzten Stunde nochmals durch.«

Ja, klar! Und sonst fehlte dem nichts?

Wie geil war das denn? Einige konnten ihre Freudenbekundungen nicht unterdrücken.

Der Prinz hob die Hand. »Auch das Lernen im Hof ist gestattet. Aber vergessen Sie nicht: Es ist Ihnen strengstens untersagt, das Schulgelände zu verlassen!«

Is' klar!

Er würde erst mal zu »Brown's« an der Ecke gehen und sich einen Bagel holen, sein Magen knurrte schon wieder.

Als hätte der Direx die Gedanken gespürt, bohrte sich sein Blick in Masons Augen. Er konnte direkt ein Ziehen im Kopf spüren. Mühsam versuchte er, seine Verachtung und das Unwohlsein zu unterdrücken und dem Blick ungerührt standzuhalten.

Der Prinz drehte sich zur Tür und sagte im Hinauslaufen: »Und keinen Lärm! Wenn ich etwas höre, kann sich derjenige gleich heute Nachmittag im Anschluss an den Unterricht noch eine Stunde lang Gedanken machen, was er hätte anders machen sollen.«

Kaum war er draußen, brach der Jubel los.

Mason stieß Randy den Ellbogen in die Rippen. »Los, Alter, bloß raus hier!«

Randy schnappte seinen Eastpack. Klar, ohne den ging er nirgendwo hin, er musste ja seinen Laptop dauernd mit sich rumschleppen. Er schloss das Teil auch während des Sports nur sehr widerwillig in den Spind.

Sie strömten in einer dichten Traube auf den Hof. Einige verzogen sich gleich in die Raucherecke hinter dem Gebüsch, andere liefen lachend zum Basketballfeld. Mason drehte den Kopf weg. Früher wäre er mit dorthin gestürzt.

Er zog Randy am Ärmel. »Los, komm, ich brauch was zu futtern.«

Sein Freund hob die Augenbrauen. »Du willst raus?«

Mason grinste. »Klar doch.«

Randy schüttelte den Kopf. »Wenn wir nachsitzen müssen, bist du Schuld«, murrte er, doch er trabte mit ihm zum Seitenausgang, der nicht vom Fenster des Rektorats einsehbar war.

»Wir flitzen nur kurz zu ›Brown's‹, sind ja gleich wieder da.« Mason spürte ein aufregendes Kribbeln in seinen Gliedern. Irgendwie hatte er das Bedürfnis, es dem Direx zu zeigen.

Sie kamen ungesehen zum Laden an der Ecke. Zischend öffnete Mason seine Pepsi, als sie den Lebensmittelmarkt wieder verließen. Ah, eiskalt, herrlich. Wie geil war das denn, bei dem Wetter einfach so eine Stunde frei zu haben, anstatt sich im stickigen Klassenzimmer zu quälen? Genussvoll streckte er das Gesicht in die Sonne.

Doch gleich darauf blieb ihm vor Schreck der Bissen seines mit Vanillecreme gefüllten Bagels im Hals stecken, als er den dunkelblauen BMW von Pratt Thompkins entdeckte, der in diesem Moment vor dem Seitenausgang vorfuhr. Er hatte auch noch die Scheibe heruntergelassen. Was für eine Scheiße! Ausgerechnet der Drecksack! Auch Randy erstarrte, als er gerade in seine Lakritzstange beißen wollte. Dessen letzte Begegnungen mit Thompkins waren definitiv nicht gut für ihn ausgegangen – einmal hatte der Riese ihn durchs geschlossene Fenster aus dem ersten Stock geworfen, was Randy nur durch Glück überstanden hatte, und beim nächsten Mal wurde seine Nase von Pratts Kumpel zu Matsch geschlagen. Als Lakai des Grafen stand Thompkins unter dessen Schutz, da kam keiner dagegen an.

Mason schluckte und schielte zu Randy. Der war weiß wie eine Küchenrolle.

Thompkins war augenscheinlich damit beschäftigt, der kleinen Blonden, die neben ihm saß, seine Zunge in den Hals zu stecken. Vielleicht kamen sie ungesehen vorbei? Warten konnten sie definitiv nicht, wer weiß, ob der nicht an der Kleinen herumfingerte, bis die neue Stunde begann? Mason kannte sie, sie war eine Klasse über ihnen. Er war sogar bei ihrem siebzehnten Geburtstag gewesen, eine riesige Party. Damals war er noch hip und eingeladen gewesen. Wie hieß sie denn noch mal? Eigentlich eine Hübsche. Wie konnte sie nur so eine Dumpfbacke sein? Ausgerechnet mit diesem Widerling Thompkins …? Er schüttelte sich.

»Komm, lass uns hinter dem BMW vorbeischleichen«, wisperte er Randy zu.

Der nickte. Sonst war er nicht so das Sport-Ass, aber plötzlich gab er ziemlich Gas. Masons Herzschlag beschleunigte sich, als er ihm folgte. Aus dem Augenwinkel schielte er durch die schwarzgetönte Heckscheibe. In dem Moment richtete Thompkins sich auf. Mason rempelte gegen Randy, als er losspurten wollte. Der Freund kam ins Straucheln. Geistesgegenwärtig griff Mason nach ihm, doch Thompkins hatte sie auch schon gesehen. Wie blitzschnell der seinen Riesenkörper aus dem Auto wuchten konnte!

»Na, wen haben wir denn da?«, trompetete er in voller Lautstärke. Einige Köpfe im Schulhof drehten sich zu ihnen um.

Verdammt! Wenn sie jetzt losrannten, käme das echt feige, außerdem würde dann Thompkins so viel Krach schlagen, dass es sicher auch der Direx mitbekam. Mason hielt inne und griff Randy am Arm. Was konnte Thompkins ihnen schon direkt vor der Schule antun? Das würde nicht mal er wagen.

Möglichst lässig drehte er sich um und hob die Hand. »Ah, Thompkins, wieder bei der Verführung Minderjähriger?« Mit dem Kopf deutete er auf die kleine Blonde, die ebenfalls ausgestiegen war.

Randy neben ihm schnappte hörbar nach Luft. Mason hätte sich im selben Augenblick am liebsten auf die Zunge gebissen – warum konnte er nie seine vorlaute Klappe halten?

Thompkins entblößte seine schlecht gepflegten Zähne. »Da schau einer an, machen wir heute mal einen auf mutig?« Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche seiner Lederjacke und zündete sich eine an.

Ganz langsam kam er näher, blies den Rauch in ihre Richtung.

Mason wäre am liebsten rückwärts auf dem Bürgerstein gekrochen, doch er blieb wie angenagelt stehen, legte den Kopf in den Nacken und schaute seinen Widersacher mit zusammengekniffenen Augen an. Die Wut brodelte heiß wie Lava in ihm. Fass mich an und ich schwöre dir, ich hänge dir irgendeine deiner Straftaten an, dass du zumindest für ein paar Tage wieder in den Bau kommst, bis dein Freund, der Graf, dich wieder rausboxt. Irgendwann wirst auch du dort mal jemandem begegnen, der deinen Arsch ganz niedlich findet!, schleuderte er ihm stumm entgegen.

Als hätte Thompkins seine Gedanken gespürt, rempelte er Mason nur an, dann packte er nach dem Träger von Randys Eastpack und zerrte daran. Ratsch! Da war irgendeine Naht angerissen – der Rucksack baumelte nur noch an einer Schulter.

Randy stieß einen wütenden Laut aus und griff panisch nach seinem Backpack.

Thompkins griff wieder danach. »Ja, was haben wir denn da?« Das dreckige Lachen dröhnte in seinen Ohren.

Randy war ein gutmütiger, friedfertiger Kerl. Aber mit seinem Laptop verstand er keinen Spaß. »Nimm deine dreckigen Pfoten von mir, du Wichser«, zischte er. Im nächsten Moment donnerte seine Faust in Thompkins Magen. Es gab einen dumpfen Knall, als hätte er gegen Beton geschlagen.

Mason zuckte zusammen, als wäre er selbst getroffen worden, und starrte Randy verblüfft an. Der Blick seines Freundes war hasserfüllt, er sah aus, als wollte er jeden Moment auf den fast doppelt so breiten und zwei Köpfe größeren Kerl weiter einprügeln, ohne Rücksicht auf Verluste. Und schon schlug er wieder zu. Zack! Sekundenbruchteile, die sich wie im Zeitlupentempo abspielten.

Völlig entgeistert lockerte Thompkins seinen Griff für einen Augenblick. Damit hatte er ganz sicher genauso wenig gerechnet wie Mason. Geistesgegenwärtig packte Mason seinen Freund am Ärmel seines schwarzen Hoodys und schubste ihn in Richtung Seitentor der Schule. Jetzt war kein Mut mehr angebracht. »Laaauuuff!«

Und schon spurtete er los und zerrte Randy mit sich. An seinem Ohr zischte haarscharf die Kippe von Thompkins vorbei.

Es dauert eine Weile, bis sich dessen großer, massiger Körper in Bewegung setzte, sie waren wesentlich flinker.

Noch fünf Schritte!

Mason spürte ein Stechen in seinen Lungen. Randy stolperte ächzend neben ihm her, hielt seinen kaputten Rucksack umklammert.

Das Trampeln von Thompkins Stiefeln wurde lauter.

Noch drei Schritte.

Gleich würde er bei ihnen sein.

Da, die Klinke, eiskalt und doch verheißungsvoll. Mason zerrte daran. Die Tür öffnete sich mit so viel Schwung, dass er beinahe Randy damit umgerissen hätte. Thompkins war nur einen großen Schritt von ihnen entfernt, als Mason das Schultor hinter ihnen zudonnerte. Die neugierigen Blicke der umstehenden Schüler ignorierte er.

Keuchend ließen sie sich gegen das Geländer sinken, das um das Schulgebäude lief. Masons Herzrasen überschlug sich fast. Für einen Augenblick wurde ihm schummerig. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Ein und aus. Eiiiin und aaaaaus. Neben ihm röchelte Randy, den Oberkörper vorgebeugt, mit den Händen auf die Knie gestützt – solch einen Spurt war er nicht gewohnt.

Puh! Das war verdammt knapp! Im Schulgelände hatte Thompkins Zugangsverbot, das würde selbst der nicht wagen, hier einen Zauber zu veranstalten.

Der Riese donnerte mit der flachen Hand gegen den hohen Stahlzaun, dass dieser lauthals zu scheppern anfing. Aus dem Schulhof drang ein Raunen. Thompkins Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. »Euch kriege ich noch!«

Er sagte es nicht mal übermäßig laut, dennoch fuhr es Mason durch Mark und Bein. Er wusste, das war nicht nur eine Drohung, sondern ein fieses Versprechen, das Thompkins auch einlösen würde. Ein eiskalter Schauer rann über seinen Rücken, dann die Arme und Beine hinunter.

»Was für ein Arsch«, stieß Randy, immer noch leicht atemlos, hervor. Es klang, als käme es aus tiefstem Herzen.

Unwillkürlich schlich ein Grinsen auf Masons Gesicht, obwohl ihm gar nicht nach Lachen zumute war. »Du hast es ihm aber gegeben.«

Der Schock, der ihm immer noch in den Gliedern steckte, ließ auf einmal ein albernes Kichern aus ihm herausbrechen. Randy stimmte mit einem lauten Wiehern ein. Sie konnten gar nicht aufhören und hielten sich aneinander fest.

Thompkins' Hass, der sich auf seinen Gesichtszügen spiegelte, war körperlich zu spüren. Er formte mit seinen Fingern eine Pistole und drückte ab. Dann pustete er symbolisch den Rauch weg und drehte sich um.


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