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IL HYPERION, 160 Lichtjahre von der Erde entfernt, 10. November 2265

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Commander Ishidas Stimme drang aus dem Interkom. »Sir, wir haben den letzten bekannten Aufenthaltsort der PROTECTOR erreicht.«

»Ich bin auf dem Weg.« Jayden stürzte den verbliebenen Schluck seines Vitamincocktails hinunter.

Während des neuntägigen Fluges hatte er mit jedem seiner Senioroffiziere ein erstes Gespräch geführt. Langsam entwickelte er ein Gefühl für deren Persönlichkeit. Commander Ishida stellte sich als kompetente I.O. heraus, die die Kommandobrückencrew mit Simulationen auf Trab hielt, Protokolle überarbeitete und den schlimmsten Papierkram übernahm.

Doktor Petrova hatte ihre Untersuchungen abgeschlossen und Entwarnung gegeben. Beim Kopfschmerz von Sarah McCall gab es keinen Bezug zum Interlink-Flug.

Da sein Aufenthaltsraum direkt an die Kommandobrücke anschloss, benötigte er nur einige Sekunden, um seinen Platz zu erreichen.

»Ich kappe den Energiefluss zum Interlink-Antrieb in 3 … 2 … 1 … wir sind auf Unterlicht«., sagte Lieutenant Task in diesem Augenblick. »Abbremsvorgang beginnt.«

Commander Ishida nickte Jayden zu. »Wir befinden uns zwölf Lichtjahre vom nächsten Außenposten der Parliden und dreiundzwanzig Lichtjahre vom Rand der Solaren Union entfernt. Galaktisches Niemandsland.«

»Lieutenant Kensington, Sie sind am Zug.« Jayden fixierte die Ortungsoffizierin. »Finden Sie mir einen Hinweis auf die PROTECTOR.«

»Wir haben den letzten Aufenthaltsort des Schiffes erreicht«, erwiderte der Blondschopf. »Sobald wir nahe genug sind, setze ich Sensorplattformen aus.«

Obwohl der Abbremsvorgang Stunden in Anspruch nahm, brach auf der Kommandobrücke hektische Betriebsamkeit aus. Lieutenant Commander Akoskin begann mit der Entwicklung taktischer Szenarien auf der Grundlage der Umgebungsparameter. Lieutenant Task variierte den Schiffsvektor, um die HYPERION in die günstigste Ausgangslage für den Scan zu bringen.

»Lieutenant McCall, finden sich irgendwelche Phasenfunkports in Reichweite?«

»Negativ, Sir«, erwiderte sie. »Ich habe einen dauerhaften Suchlauf aktiviert. Bisher keine Signale.«

»Das wird eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen«, bemerkte seine I.O.

Jayden nickte nur und betrachtete die Daten der eingehenden Sensorauswertung.


»Sir, ich habe etwas«, sagte Lieutenant Kensington nach zwei Stunden.

»Die PROTECTOR?«

»Nein, Sir, aber die Reststrahlung eines Phasendurchbruchs mit der typischen Signatur eines Schiffes der Space Navy.«

Jayden atmete erleichtert auf. Das bedeutete immerhin, dass das Schiff nicht zerstört worden war. »Können Sie den Vektor bestimmen?«

Kensington nickte. »Das ist kein Problem.« Sie machte einige Eingaben, dann blickte sie auf: »Die Flugrichtung weist in Richtung des Stillen Sektors.«

»Lieutenant Task, setzen Sie den gleichen Vektor. Wir fliegen die Route der PROTECTOR im Interlink-Flug ab.«

Da ein Schiff im Phasenraum den Kurs ebenfalls nicht ändern konnte, war es für die HYPERION kein Problem, den Vektor abzufliegen. Irgendwo musste der Leichte Kreuzer wieder in den Normalraum gestürzt sein.

»Aye, Sir.«

Jayden betrachtete skeptisch die Energieanzeige des Speicherrings. »Unser Energievorrat ist fast aufgebraucht. Und falls Sie in den Stillen Sektor geflogen sind, haben wir Sie sowieso verloren.«

»Warum sollte Captain Bowman dorthin fliegen?«, fragte Ishida. »Der ursprüngliche Auftrag war eine Beobachtung der Grenze zum Parlidenraum. Eine simple Aufklärungsmission.«

»Aufklärungsmissionen sind niemals simpel«, erwiderte Jayden. »Wir wissen nicht, was geschehen ist. Aber ich stimme Ihnen zu. Falls sie aus irgendeinem Grund dort reingeflogen sind, werden wir sie nicht wiedersehen.«

Vor mittlerweile sieben Jahren hatte eine Flotte aus drei Leichten Kreuzern ein Sternensystem entdeckt, das von einem Wall aus unbekannter Strahlung eingehüllt wurde. Jede einfliegende Sonde verlor innerhalb kürzester Zeit ihre gesamte Energie. Bevor diese Gefahr jedoch in Gänze erkannt wurde, war eines der Schiffe schon auf dem Weg gewesen. Alle Systeme waren ausgefallen, während es von seinem Eigenschub weiter in das System getragen wurde. Dieses erste Schiff, die PROMETHEUS, befand sich noch immer auf ihrem Flug in das Sonnensystem. An Bord lebte längst niemand mehr. Tote Körper auf einer Reise ins Zentrum des Rätsels.

Jeder Versuch, den Energiefluss in Testsonden bei Eintritt in das System aufrechtzuerhalten, war in den auf den Zwischenfall folgenden Monaten fehlgeschlagen. Daraufhin hatte die Admiralität den Sektor als verboten erklärt. Eine Wissenschaftsstation war am Rande errichtet worden. Sie sollte dazu dienen, Näheres über die Strahlung herauszufinden, doch bisher verzeichneten die Wissenschaftler an Bord keine nennenswerten Fortschritte.

Jayden ließ seine Gedanken schweifen, während die HYPERION am Vektor der PROTECTOR entlang in Richtung des stillen Sektors flog.


*


Jayden beugte sich in seinem Sitz nach vorne, als die PROTECTOR im Holotank erschien. »Lieutenant Kensington, was können Sie mir sagen?«

»Augenblick, Sir.« Die Ortungsoffizierin kniff die Augen zusammen. »Keine äußerlichen Schäden. Ich messe schwache Lebenszeichen. Eine klare Ortung ist nicht möglich. Irgendetwas zerfasert die Sensorstrahlen.«

»Lieutenant McCall, können Sie dort drüben jemanden erreichen?«

»Unsere Kontaktversuche werden nicht beantwortet, Sir.«

Jayden fixierte die PROTECTOR. Das Schiff schwebte im Nichts zwischen den Sternen, viele Lichtjahre vom Stillen Sektor und jedem anderen System entfernt. Er konnte den Blick nicht von der vielfach gezoomten Aufnahme der Bugkamera wenden, während die HYPERION abbremsend auf den Leichten Kreuzer zuflog. Die Stunden des Wartens waren das Schlimmste.

Als die Geschwindigkeit des Schiffes ausreichend gesunken war, wandte Jayden sich an Lieutenant Task. »Bringen Sie uns längsseits und aktivieren Sie den Traktorstrahl.«

»Was haben Sie vor, Sir?«, fragte Commander Ishida.

»Ein Trupp Marines soll rübergehen und nachsehen, was da nicht in Ordnung ist.«

»Technisches Versagen?«

»Möglich«, erwiderte er. »Aber ich glaube nicht daran. Laut der Dokumente liegt die letzte Wartung erst wenige Monate zurück.

Lieutenant Kensington, gibt es Torpedopartikel im Umkreis um die PROTECTOR? Bekannte Energiesignaturen? Gamma-Strahlung?«

»Negativ, Sir.«

»Das Ganze wird immer mysteriöser«, murmelte Commander Ishida, während sie auf ihrer Kommandokonsole Daten abrief. »Die PROTECTOR ist von einer Blase aus Phasenstrahlung umgeben. In so hoher Konzentration dürfte dies im Normalraum nicht vorkommen.

Lieutenant Kensington, versuchen sie, so viel wie möglich darüber herauszufinden.«

Jayden zoomte die Aufnahmen des Bugteleskops heran. »Was ist das?«

Seine I.O. runzelte dir Stirn. »Sir?«

»Die Tore von Frachtraum 1 sind zerstört.« Es war Zufall, dass sie das Schiff aus eben jenem Winkel anflogen, der das Loch in der Hülle zeigte. »Was verdammt noch mal …«

»Sir«, unterbrach ihn Lieutenant Kensington. »Ich konnte die Sensorauflösung ein wenig verbessern. Neben den menschlichen Lebenszeichen orte ich auch eine Parlidensignatur.«

»Die Marines sollen sich auf Feindkontakt einstellen«, sagte Jayden zu Commander Ishida.

Konnte es tatsächlich sein, dass die Parliden ein Schiff der Space Navy geentert hatten? Damit hatte sich die PROTECTOR gerade in ein politisches Pulverfass verwandelt.


*


Corporal Mark Pride blickte aus dem Bullauge auf die HYPERION, die rasch kleiner wurde. Nach allem, was Captain Cross im Briefing mitgeteilt hatte, erwies sich die Mission als zunehmend problematisch.

Beim Anflug an die PROTECTOR hatte die Kommandobrückencrew festgestellt, dass der Traktorstrahl nicht einsetzbar war, weil sich die Oberfläche der Hülle auf molekularer Ebene verändert hatte. Erst nach einer umfangreicheren Rekalibrierung und erneuten Feinabstimmung konnten beide Schiffe miteinander gekoppelt werden.

Leider hatte die Strahlung noch weitere Auswirkungen. Der Funk war gestört. Und ohne Funkverstärker gelang es nicht, Kontakt mit der K.I. der PROTECTOR herzustellen, wodurch Captain Cross auch nicht auf die internen Kamera-Feeds zugreifen konnte.

Und jetzt war Mark mit seinem Team auf dem Weg in feindliches Gebiet – denn als nichts anderes sah er die PROTECTOR an. Lieutenant Kensington hatte einen Parlidenkontakt ausgemacht. Da sich keines dieser Aliens an Bord eines Schiffes der Space Navy befinden sollte, mussten sie mit feindlichem Beschuss rechnen.

Das Shuttle vibrierte kurz, als sie die Strahlenblase durchflogen. Kurz darauf stabilisierte sich die Flugbahn wieder.

»Ich sende den Code an den Computer der PROTECTOR. Wenn er von keinem Offizier an Bord widerrufen wird, dürfte es keine Probleme geben«, meldete Pilot René Lagrange aus dem Cockpit. »Er wurde akzeptiert.«

Die Tore des Shuttlehangars fuhren auseinander und ließen sie ein.

»Der Hangar ist leer, keine Lebenszeichen«, meldete der Pilot.

»Also gut, Jungs, jetzt gilt es«, sagte Mark zu seinem zwölfköpfigen Team. »Ihr wisst, wie es aussieht. Uns erwartet eine unbekannte Anzahl an Parliden – bisher wurde einer geortet, doch der Scan war ungenau -, vermutlich mehrere verletzte Offiziere. Es wird nur geschossen, wenn es unvermeidbar ist. Wir durchforsten das Schiff, koppeln einen Phasenfunkverstärker an«, dabei blickte er zu den Alvarez-Brüdern, die den Verstärker in ihrem Rucksack bei sich trugen, »und kümmern uns um die Verletzten. Noch Fragen?«

Auf das vielstimmige »Nein, Sir« öffnete er das Zugangsschott des Shuttles.

In Dreier-Teams sprangen sie durch die Luke. Seine Jungs waren Profis, was mit jeder ihrer Bewegungen deutlich wurde.

»Pride an HYPERION.«

Die Antwort blieb aus. Wie vermutet durchdrang das Signal die Strahlenblase nicht. Erst musste der Verstärker angeschlossen werden.

»Sir, Palok hier«, erklang eine weibliche Stimme aus seinem Helmfunk. »Ich befinde mich im Steuerbüro des Hangars. Sie sollten meinen OpDa checken.«

Die einzelnen Servo-Suits konnten untereinander Daten austauschen. Als Anführer des Teams konnte er zudem auf den optischen Datenstrom zugreifen, der von den übrigen Suits verarbeitet wurde.

Er schaltete seine Frequenz auf die visuelle Aufnahme von Private Paloks Helmkamera und starrte im nächsten Moment in das grauenvoll verzerrte Gesicht eines Toten. »Können Sie ihn identifizieren?« Mark reagierte instinktiv professionell.

»Es handelt sich um Lieutenant Tim Simmens«, las Palok vom Aufnäher der Uniform ab. »Anhand der immensen Menge an Blut, die hier überall zu finden ist, gehe ich von multiplen Stichverletzungen aus.«

Seit wann stechen die Parliden auf ihre Opfer ein?, fragte sich Pride. »Markieren Sie den Fundort und machen Sie weiter.«

»Aye, Sir.« Sie beendete den Funkkontakt.

Normalerweise konnte sich auch die Kommandobrückencrew der HYPERION zuschalten, doch durch die Störung war das nicht möglich.

Diego und Alejandro Alvarez, die beiden Brüder aus dem spanischen Sektor der Erde, flankierten Mark, als er sich zum Maschinenraum aufmachte.

Bereits in den ersten Minuten gingen Meldungen von allen Teams ein. Überall auf dem Schiff lagen Tote. Was auch immer hier geschehen war, es hinterließ ein grausiges Bild. Aufgehängte, erstochene und aufgeschlitzte Offiziere. Ein untypisches Bild für Schiffe, die von Parliden geentert wurden. Im Verlauf des Krieges hatten die Sternköpfe aufgebrachte Schiffe meist mitsamt ihrer Crew in die Luft gesprengt. Sie machten keine Gefangenen, zogen aber auch nicht schlachtend umher. Sie waren effizient, kalt und brutal.

Im Maschinenraum fanden sie den Chefingenieur.

»Das ist ja widerlich«, brachte Diego hervor. »Das sieht fast so aus, als hätte er sich selbst umgebracht.«

Mark musste ihm im Stillen beipflichten. »Der Chefingenieur lag am Boden, ein Laserschneider steckte in seiner Brust, ein Pulser lag direkt neben ihm. Die Crew des Maschinenraums lag in Lachen aus ihrem eigenen Blut, niedergestreckt von Pulserschüssen.

»Alejandro, Diego, schließt diesen verdammten Phasenfunkverstärker an. Jetzt!«

Die beiden zuckten zusammen und begannen hektisch zu arbeiten.

Captain Cross würde es gar nicht gefallen, das hier zu sehen. Und obwohl Mark im Laufe seiner Karriere schon einiges erlebt hatte, dachte er mit Grauen daran, dass sie als Nächstes die Kommandobrücke aufsuchen mussten.


*


Jayden atmete erleichtert auf, als im Inneren des Holotanks der Maschinenraum der PROTECTOR in einem Regen aus Pixeln erschien. Eine Erleichterung, die nur wenige Sekunden anhielt. »Corporal Pride, geben Sie mir einen Statusbericht.«

»Was Sie sehen, spiegelt den bisher abgesuchten Schiffsbereich wider«, erklang die Stimme des Marines aus dem Akustikfeld. »Vom Shuttlehangar bis zum Maschinenraum fanden wir nur Tote. Kein Parlidenkontakt.«

Jayden schluckte. »Begeben Sie sich zur Kommandobrücke.«

»Verstanden, Sir.«

Der Corporal ging auf direktem Weg zum multidirektionalen Lift, der das Schiff vom Bug bis zum Heck durchzog. Am Rande des Aufnahmefeldes waren die Silhouetten der Brüder Alvarez zu erkennen, die ihren Vorgesetzten flankierten.

Wohin Pride auch blickte, überall herrschte Chaos: zertrümmerte Maschinen, zersplitterte Panels, tote Körper. Die oberflächliche Betrachtung der Leichen zeigte, dass sie allesamt durch äußere Gewalteinwirkung umgekommen waren.

Jayden ballte die Fäuste.

»Noch ist nichts bewiesen«, murmelte Commander Ishida und schenkte ihm einen durchdringenden Blick.

Ihre Gelassenheit sorgte dafür, dass er noch wütender wurde. Am liebsten hätte er sich einen Pulser gegriffen und wäre seinen Marines auf die PROTECTOR gefolgt. Stattdessen musste er hier sitzen und zusehen. Es war immer das Gleiche: Er selbst überlebte, während andere für ihn in den Tod gingen. Jayden schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken. Doktor Nakura hatte ihm sehr deutlich gemacht, dass er sich von seiner Survivor‘s guilt nicht dominieren lassen durfte. Fast jeder Offizier machte im Verlauf seiner Karriere Ähnliches durch, wenn er Kameraden verlor. Die Schuldgefühle konnten einen Überlebenden zerfressen, obwohl es gar keinen Grund gab, solche zu haben. Doch auch wenn Jayden die dahinterstehende Logik durchaus verstand, gelang es ihm einfach nicht, die gefühlte Schuld abzustreifen.

Corporal Pride gab soeben den Zugangscode zur Brücke ein. Mit einem Zischen fuhr das Schott zur Seite. Alles blieb still. Er gab Diego mit einer Geste zu verstehen, dass er vorangehen sollte. Mark und Alejandro würden ihm Deckung geben.

Diego schob sich an der Wand entlang durch das offene Schott. Plötzlich zischten elektrisch geladene Nanopartikel eines Pulserschusses durch die Luft. Die Ladung schlug frontal in Diegos Brust ein und ließ ihn zurücktaumeln. Direkt vor dem Eingang fiel er zu Boden.

»Melde feindlichen Beschuss!« Pride brachte das Pulsergewehr in Anschlag und presste seinen Körper an die Wand, während Alejandro seinen Bruder an den Beinen packte und zur Seite zog.

Schuss um Schuss zischte durch das offene Schott und schlug außerhalb des Kamerafeldes in Decke und Wand ein.

»Feuer einstellen!«, rief Pride. »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«

Diego Alvarez rappelte sich wieder auf. Der Servo-Suit hatte ihn vor Verletzungen bewahrt. »Alles in Ordnung?«, fragte Alejandro leise.

»Meine Ehre wurde verletzt«, erwiderte er trocken.

»Wer sind Sie?!« Die Stimme zitterte. Der Beschuss endete.

»Corporal Mark Pride vom Interlink-Kreuzer HYPERION. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«

»Sie lügen! Sie wollen mich töten! Sie sind genauso wahninnig wie die anderen.«

»Ich versichere Ihnen, dem ist nicht so. Legen Sie ihre Waffe zur Seite und lassen Sie uns persönlich miteinander reden.« Die Stimme von Pride klang ruhig und klar.

Zur Antwort schoss ein Pulserstrahl in die Decke.

»Sir, ich erbitte Anweisungen zum weiteren Vorgehen«, wandte sich der Corporal an Jayden.

»Betäuben Sie ihn und sichern Sie die Kommandobrücke der PROTECTOR. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Alles Weitere klären wir, sobald unser unbekannter Freund an Bord der HYPERION ist.«

»Aye, Sir.«

»Commander.« Jayden blickte zu seiner I.O. »Ein Paramedic soll sich auf den Weg zur Brücke der PROTECTOR machen. Ich will …«

»Sir!« Die Stimme von Lieutenant McCall unterbrach ihn. »Ich erhalte Meldung von den Marines, die die Krankenstation des Schiffes überprüfen.« Kurz hielt seine Kommunikationsoffizierin inne und lauschte in ihr Headset. »Private Ginsberg hat einen Parlidenkontakt. Bisher nur im Scan, aber der Kontakt steht kurz bevor.«

»Verdammt.« Jayden wog kurz die Optionen ab, die ihm blieben. »Lieutenant McCall, weisen Sie die Marines in den umliegenden Sektoren an, sich zur Krankenstation zu begeben. Wir gehen auf Nummer sicher. Corporal Pride, bereinigen Sie die Situation auf der Brücke schnellstmöglich.«

In einer fließenden Bewegung sank Jayden in seinen Konturensessel. »Und unsere Krankenstation soll alles für das Eintreffen von Verwundeten vorbereiten.«


*


Doktor Irina Petrova war eine Naturgewalt. Nicht anders konnte Jayden die resolute 65-jährige Ärztin mit dem schlohweißen dichten Haar bezeichnen. Wie ein Leuchtturm im sturmgepeitschten Ozean stand sie zwischen den Paramedics und Ärzten und gab Anweisungen. Als sich ihre stahlblauen Augen endlich auf ihn richteten, hatte er unweigerlich das Bedürfnis, von der Krankenstation zu fliehen.

»Ah, Captain Cross«, grüßte ihn die Doktorin und eilte auf ihn zu. »Schön, Sie zu sehen. Leider ist es wohl nicht die Antrittsuntersuchung, die Sie hierher führt.«

Jayden lächelte, bemerkte jedoch recht schnell, dass es kein Scherz gewesen war. »Wie Sie vermutlich wissen, bin ich ein wenig beschäftigt.«

»Das höre ich häufig. Ob Sie es glauben oder nicht, uns Ärzten ergeht es da nicht anders.« Sie bedeutete ihm mit einem Wink, ihr zu folgen. »Aber vertagen wir diese Diskussion.«

Doktor Petrova führte ihn zu einem Stasetank, der zusammen mit zehn weiteren in die Wand der Krankenstation eingelassen war. Auf eine Berührung ihrer Finger erwachte das Panel daneben zum Leben und zeigte diverse Skalen und Messwerte an, die ihm jedoch nichts sagten.

»Es ist das erste Mal, dass die Menschheit einen lebenden Parliden untersuchen kann«, erklärte sie. »Zumindest glaube ich, dass er noch am Leben ist.«

Entgegen den ersten Befürchtungen waren seine Marines nicht auf feindliche Parliden gestoßen. Stattdessen hatten sie einen der Sternköpfe in einem Stasetank auf der Krankenstation der PROTECTOR gefunden. Die Marines und Paramedics begannen mittlerweile damit, die Toten auf die HYPERION zu überführen. Außer dem Brückenoffizier, den Corporal Pride schlussendlich betäubt hatte, und dem Parliden gab es keine Überlebenden.

»Zeigen Sie ihn mir.«

Doktor Petrova betätigte eine Taste, worauf die Oberfläche des Tanks transparent wurde. Die Physiognomie ähnelte der eines Menschen: zwei Arme, zwei Beine, Hals und Kopf. Die Haut war jedoch von einem rötlichen Schwarz und schimmerte metallisch. Überall am Körper gab es Wölbungen und stachelartige Auswüchse. Die Augen glichen zwei ölig schimmernden Murmeln. Es gab Theorien, wonach die Parliden allesamt Rüstungen trugen, doch falls dem tatsächlich so war, konnte niemand sagen, wie sie darunter aussahen. Und das war auch alles, was sie generell über die Parliden wussten.

»Faszinierend, nicht wahr«, bemerkte Doktor Petrova. »Unsere medizinischen Scanner können die Außenhaut nicht durchdringen. Ich kann nicht einmal die Zusammensetzung der obersten Hautschicht feststellen. Anscheinend wurden subkutan Störsender in die Haut implantiert, anders kann ich mir die Störstrahlung nicht erklären, die von dem Körper ausgeht.«

»Sie können mir also nicht sagen, weshalb er oder sie in Stase liegt?«

»Ich fürchte, darüber kann uns nur das Logbuch des Chefarztes Auskunft geben. Bisher wurde es jedoch nicht zu mir transferiert.«

»Und das wird auch noch einige Zeit dauern«, erwiderte Jayden. »Mittels meiner Kommandocodes wurde ich von der K.I. der PROTECTOR als ranghöchster Offizier akzeptiert. Wir haben die Datenbank des Schiffes überspielt, mussten jedoch feststellen, dass Captain Bowman sie verschlüsselt hat.«

»Das wundert mich nicht. Aus irgendeinem Grund scheinen da drüben alle durchgedreht zu sein. Was ich bisher sah, lässt vermuten, dass sie sich gegenseitig umbrachten.«

»Und Sie schließen etwas Virologisches nach wie vor aus?«

»Zumindest konnte ich im Blut der Toten nichts dergleichen nachweisen. Natürlich habe ich die Quarantänebestimmungen beachtet.«

»Da habe ich keinen Zweifel.« Jayden wandte sich ab. »Senden Sie mir bitte eine Kopie aller Untersuchungsergebnisse, die den Parliden betreffen. Wie geht es unserem anderen Überlebenden.«

Sie führte Jayden zu einem zweiten Stasetank. »Lieutenant Michael Larik, Marsianer. Er war der Kommunikationsoffizier der PROTECTOR.«

»Warum ist er noch immer bewusstlos?«

»Was auch dort drüben geschehen ist, führte bei ihm zu einem schweren neurologischen Schock. Ich musste ihn in ein künstliches Koma versetzen.«

Jayden betrachtete das Gesicht des jungen Mannes. Die länglichen Züge, die großen Augen, bedeckt von pigmentierten Augenlidern. »Wie lange wird es dauern, bis wir ihn wecken können?«

»Schwer zu sagen. Ich werde Sie über seinen Zustand auf dem Laufenden halten. Prognosen sind zu diesem Zeitpunkt kaum möglich.«

»Danke, Doktor.« Jayden nickte kurz.

Während Doktor Petrova sich wieder ihren Patienten widmete, ging Jayden in Richtung Brücke.

Der Friedensvertrag mit den Parliden besagte eindeutig, dass diese das Territorium der Solaren Union nicht betreten durften. Der Schluss lag nahe, dass Captain Bowman dem Parliden irgendwie hatte helfen wollen. Alles andere wäre einer Kriegserklärung gleichgekommen.

Eine weitere Klausel in dem Vertrag besagte, dass es der Menschheit verboten war, Parliden zu untersuchen. Allein der Aufenthalt dieses Wesens auf der Krankenstation konnte katastrophale Folgen nach sich ziehen.


*


»Darf ich Sie kurz stören, Commander?«

Lieutenant Commander Giulia Lorencia blickte auf. »Ach du liebe Zeit! Holen die euch mittlerweile schon direkt aus den Holo-Kursen?«

»Wie bitte?« Lieutenant McCall trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Giulia lächelte. Sie mochte es, die Frischlinge ein wenig aus der Reserve zu locken. Auch wenn es sich bei diesem Frischling um ein Mitglied der Brückencrew handelte. »Nichts, Lieutenant, schon gut. Sie sind hier wegen der Dechiffrierung?«

»Das ist korrekt. Captain Cross schickt mich.«

Als hätte sie ‘nen Stock verschluckt. Mal sehen, ob wir das Eis brechen können. »Was die aktuellen Protokolle zur Verschlüsselung von Datenbanken angeht, ist mein Wissen ein wenig eingerostet. Vielleicht kommen Sie ja weiter.«

Mit diesen Worten führte sie McCall durch ein Meer aus herumrennenden Technikern zu einer der Maschinenraum-Konsolen.

Die Kommunikationsspezialistin schaute einem der Techniker hinterher. »Sie wirken alle ein wenig aufgeregt.«

»Wir haben ein paar Probleme mit dem Helix-Konverter. Das bringen Prototypen so mit sich. Sie sind nun mal meist unzuverlässig.« Sie bedeutete McCall, Platz zu nehmen. »Hier können Sie arbeiten. Je früher wir erfahren, was dort drüben geschehen ist, desto eher können weitere Schritte geplant werden.«

»Die Admiralität wird zufrieden sein, dass wir die PROTECTOR so schnell gefunden haben.«

Giulia entschlüpfte ein Lachen, bevor sie es herunterschlucken konnte. »Aber sicher.«

»Was meinen Sie?«

Giulia seufzte. Nun war es ausgerechnet sie, die einem unschuldigen Frischling die Illusionen rauben musste. Ähnlich war es ihr selbst damals ergangen. »Die HYPERION ist ein Projekt, das parteiübergreifend nicht nur Zustimmung fand. Was die Besatzung angeht, sind wir ein Spiegelbild politischer Seilschaften und Gefälligkeiten.«

»Ich verstehe nicht.«

»Es ist relativ simpel: Ein Teil der Admiralität steht hinter uns, während ein anderer Teil darauf hofft, dass wir Mist bauen.«

»Warum?«

»Ist das nicht offensichtlich? Um daraus politisches Kapital zu schlagen. Wir wurden quasi fast im Alleingang von Admiral Sjöberg und Admiral Jansen ausgewählt. Sie gehören allesamt ins Lager der Gemäßigten. Durch die Unterstützung von Admiral Pendergast konnten sie sich gegen die Hardliner unter Michalew durchsetzen. Die hoffen jetzt natürlich darauf, dass wir scheitern, um diverse Posten neu zu besetzen.«

»Aber das ist doch lächerlich!« Auf Lieutenant McCalls Wangen bildeten sich rote Flecken. »Natürlich werden wir auch Fehler machen. Wir sind allesamt Menschen.«

»Eben.« Giulia warf die Arme in die Luft. »Der Posten auf der HYPERION ist ein Schleudersitz. Das sollte Ihnen klar sein. Wenn die Hardliner ihren Coup d'État bekommen, sind die Senioroffiziere sofort weg vom Fenster. Vielleicht wird man Sie auf ihrem Posten belassen und Lieutenant Task – naja, den auch. Aber das war es auch schon.«

»Sie klingen ganz schön verbittert.«

»Ich bin nur realistisch. Mein Job macht mir Spaß. Der Maschinenraum ist der Platz, an dem ich arbeiten will. Solange die mir kein Arschloch vor die Nase setzen, das es ständig besser weiß, ist alles bestens. Man sollte immer über das informiert sein, was die Politiker so treiben.«

McCall gab einige Parameter über die Touch-Oberfläche in das Panel ein und aktivierte so einen Dechiffrierungsalgorithmus. »Es wird nicht ganz einfach. Aus irgendeinem Grund hat Captain Bowman nicht das aktuelle Passwort gewählt, um die Datenbank zu schützen. Wir können nur darauf hoffen, dass sie nicht zu kreativ war.«

»Wie wollen Sie vorgehen?«

»Als wir auf der Akademie waren, entwickelte ich gemeinsam mit einigen Kommilitonen ein Programm, das eine schnelle probabilistische Suche nach dem Urbild eines gegebenen Hashwertes ermöglicht. Hierfür speicherten wir über einen Zeitraum von mehreren Jahren Lookup-Tabellen, um im Fall der Fälle Zugriff auf Datenbanken mit unbekanntem Passwort zu erhalten.«

Giulia schmunzelte. Während McCall sich mit dem Problem beschäftigte, fiel ihre Schüchternheit wie eine Schale von ihr ab. Sie vergaß sichtbar, dass ein vorgesetzter Offizier zugegen war, und vertiefte sich in das vor ihr liegende Problem. Giulia erkannte, weshalb man die Lieutenant der HYPERION zugeteilt hatte. Hinter ihrer schüchternen Fassade steckte eine Menge. »Sie haben sich also einer kleinen Hacker-Gruppe angeschlossen.«

Lieutenant McCalls Gesicht nahm den Farbton einer überreifen Tomate an. »So kann man das nicht sagen. Wir haben das Programm nur …«

»Für den Notfall geschrieben, schon klar.« Giulia lachte auf. »Machen Sie sich keine Sorgen, solche Gruppen gab es in jedem Semester. So weit ich informiert bin, hat die Akademieleitung sogar mit Absicht verhältnismäßig leicht zugängliche Datenbanken erstellt, um die Fähigkeiten der Studenten zu testen. Konnte die Gruppe die Datenbank knacken, ist das durchaus in ihre Akte eingeflossen. Zudem wurde überprüft, ob die Daten an ihre Kommilitonen weitergegeben wurden. Soziales Verhalten und so.«

»Ist das Ihr Ernst?« McCall schüttelte den Kopf. »Ein weiterer der berühmten Tests. Ich frage mich immer wieder, wie ich die Akademie überstehen konnte, ohne paranoid zu werden.«

»Da sind Sie nicht die Einzige.«

»Gehörten Sie auch zu einer solchen Gruppe?«

Giulia schüttelte den Kopf. »Ich hatte andere Wege, mir meine Informationen zu besorgen.« Sie versuchte, nicht zu grinsen. »Aber kommen wir zurück zum Thema. Ich nehme an, Sie umgehen die Salt-Verschlüsselung, in dem sie den Algorithmus mit den verschiedenen Standard-Salts der Flotte testen?«

»Das ist korrekt.«

»Wir können nur hoffen, dass Captain Bowman nicht auf die Idee kam, diesen zu verändern. Was auch immer sie in der Datenbank verbergen wollte, es war ihr verdammt wichtig.«

»Die Frage ist nur: Wollte sie es vor einer möglichen Nachstellung der Parliden sichern oder vor uns.«

Giulia war gespannt darauf, die Antwort zu erfahren. Da sich die Datenbank bei Sarah McCall in guten Händen befand, beschloss sie, ihre Aufmerksamkeit wieder ganz dem Speicherring zu widmen. Sie klopfte der jungen Lieutenant jovial auf die Schulter. Während sie zurück in die rückwärtige Sektion ging, kreisten ihre Gedanken bereits wieder um das Problem mit dem Helix-Konverter.


*

Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

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