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Christliche Aneignung

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Wenn die Umwelt des entstehenden Christentums den Schleier in unterschiedlichen Formen und Kontexten bereits kannte, so ist klar, dass sich auch die Anhängerinnen und Anhänger der neuen Religion früher oder später dazu positionieren mussten. Den nachhaltigsten Orientierungspunkt hierzu setzte Apostel Paulus, als er an die Gemeinde in Korinth schrieb: «4 Ein Mann, der im Gottesdienst öffentlich betet oder Weisungen Gottes verkündet, entehrt sich selbst, wenn er dabei seinen Kopf bedeckt. 5 Eine Frau, die im Gottesdienst öffentlich betet oder Weisungen Gottes verkündet, entehrt sich selbst, wenn sie dabei ihren Kopf nicht bedeckt. Es ist genauso, als ob sie kahl geschoren wäre. 6 Wenn sie keine Kopfbedeckung trägt, kann sie sich gleich die Haare abschneiden lassen. Es ist doch eine Schande für eine Frau, sich die Haare abschneiden oder den Kopf kahl scheren zu lassen. Dann soll sie auch ihren Kopf verhüllen. […] 9 Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, wohl aber die Frau für den Mann. 10 Deshalb muss die Frau ein Zeichen der Unterordnung und zugleich der Bevollmächtigung auf dem Kopf tragen. […] 14 Schon die Natur lehrt euch, dass langes Haar für den Mann eine Schande ist, 15 aber eine Ehre für die Frau. Die Frau hat langes Haar erhalten, um sich zu verhüllen. 16 Falls aber jemand mit mir darüber streiten möchte, kann ich nur eines sagen: Weder ich noch die Gemeinden Gottes kennen eine andere Sitte im Gottesdienst.»10

Paulus argumentiert hier für heutige Ohren recht wirr: Mal geht es um Tradition, dann um die «Natur», um Geschlechterrollen gemäss der Schöpfung. Max Küchler, Professor für Neues Testament, frühjüdische Literatur und biblische Umwelt, hat die Paulus-Passage sowie weitere frauenfeindliche Stellen des Neuen Testaments ausführlich seziert und gezeigt, dass sie für die Zuhörerschaft ihrer Entstehungszeit durchaus argumentative Überzeugungskraft besassen; diese Kraft stamme allerdings, wie er ebenfalls minutiös zeigt, «aus jener von Männern für Männer geschaffenen Exegese, in welcher selbstverständlich die Bibel zu ungunsten der Frauen ausgelegt und nacherzählt wurde».11 In dieser Tradition erstaunte es im ersten christlichen Jahrhundert niemanden, wenn Paulus anmahnt, dass Frauen sich den Kopf bedecken sollen. Gut passt hierzu im Übrigen der Umstand, dass Paulus als Jude in Tarsus (heutige Südtürkei) aufwuchs, wo die Verhüllung der Frauen strikter als andernorts Brauch war.12

Kirchenväter wie Clemens aus Alexandria (ca. 150–215 n. Chr.) und Tertullian von Karthago (ca. 150/160–222 n. Chr.) haben Paulus’ Position zur Kopfbedeckung der christlichen Frau aufgenommen und ausgebaut. Nach Clemens’ Vorstellung soll sich die Frau verhüllen, um durch ihre Schönheit niemanden zur Sünde zu verleiten. Tertullian, der nach längerer Karriere in Rom als vermögender Privatier in Karthago nahe dem heutigen Tunis lebte und selbst nicht Priester war, legte gar in einem eigenen Traktat dar, «Warum die Jungfrauen verschleiert sein sollten». Seiner Meinung nach sollen die Christinnen, ob verheiratet oder nicht, auf hübsche Kleidung und Schmuck verzichten und sich beim Verlassen des Hauses verschleiern: «[…] Sie sollten wissen, dass ihr ganzer Kopf ein Weiberkopf ist, seine Grenzen und Enden erstrecken sich bis dahin, wo das Kleid anfängt. So weit als sich das aufgelöste Haar erstreckt, so weit geht das Gebiet des Schleiers, so dass auch der Nacken umhüllt wird. Denn dieser ist es, der unterwürfig sein soll, um dessentwillen das Weib auch eine Gewalt über seinem Haupte haben muss. Der Schleier ist also das Joch für ihn. Es werden Euch die heidnischen Frauen Arabiens beschämen, welche nicht bloss ihr Haupt, sondern auch das ganze Gesicht derart verhüllen, dass es ihnen genügt, wenn sie ein einziges Auge frei haben und die lieber das Licht nur halb geniessen, als ihr ganzes Antlitz prostituieren. Die Frau will lieber sehen, als gesehen werden.»13

Bereits um das Jahr 200 n. Chr. vertritt hier also einer der Kirchenväter normative Positionen, wie man sie heute im Westen üblicherweise nur bei besonders rigorosen Salafis vermuten würde. Wenn Tertullian dabei seinem Publikum die Frauen der weit entfernten Arabischen Halbinsel als Vorbild hinstellt, wird deutlich, dass das weitgehende Verhüllen des Gesichts offenbar als dortige lokale Sitte international bekannt war – vierhundert Jahre vor der Entstehung des Islams. Dass sich auch auf der Arabischen Halbinsel längst nicht alle Frauen so umfassend verhüllten, unterschlägt der Kirchenvater.14 Zugleich lässt sich aus der energischen Predigt dieses und anderer Kirchenväter ablesen, dass die Christinnen in ihrem Umfeld es mit der Kleidung offenbar ebenfalls nicht durchweg so streng nahmen wie angemahnt, denn sonst wäre diese Art von Traktaten nicht nötig gewesen.

Eine Kopfbedeckung zu tragen – egal ob Schleier, Kopftuch, Haube oder Hut –, war dennoch für viele Frauen in christlichen Kontexten bis ins frühe 20. Jahrhundert gängige Praxis. Bekannt ist auch, dass der Schleier seit je zum Habit von Schwestern in christlichen Orden und Kongregationen gehört. Mit dem Eintritt in die Gemeinschaft wird die Schwester nach der gängigen Metaphorik eine «Braut Christi», ihr Schleier ist somit ein Brautschleier im übertragenen Sinn.

Je nach Gemeinschaft hat der Schleier wieder eine andere Form, bedeckt teils das ganze Haar oder wird zur aufgesteckten kleinen Haube.15 Die Schwestern mancher Gemeinschaften tragen den Habit samt Schleier bis heute. Doch seit den Reformen im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils verzichten manche Gemeinschaften auf das Tragen im öffentlichen Raum oder lassen ihren Mitgliedern die Wahl.

Die weibliche Kopfbedeckung unter christlichen Vorzeichen ist nicht auf die römisch-katholische Kirche beschränkt. Unter den aus der Reformation hervorgegangenen Traditionen tragen beispielsweise die Frauen bestimmter Mennonitengruppen, der Amish People oder der Hutterer noch heute das bonnet, eine das Haar weitgehend bedeckende Haube.

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