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Einleitung

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Die Schweiz – und die übrige Welt – staunte nicht schlecht, als am Nachmittag des 29. November 2009 feststand: Die Schweizer Verfassung wird in Artikel 72 um ein Verbot ergänzt, Minarette zu bauen. Eine Mehrheit von 57,5 Prozent der Stimmenden hatte es so gewollt, entgegen der Empfehlung von Bundesrat, Parlament und einer breiten Front von Parteien, Verbänden, Religionsgemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Vorausgegangen waren allerdings bereits dreissig Jahre, in denen westliche Öffentlichkeiten mit wechselnder Staffage über «den Islam» debattierten. Markante Punkte in dieser Geschichte waren die Islamische Revolution in Iran 1978/79, die Proteste muslimischer Akteure gegen den Roman «Die satanischen Verse» des britischen Schriftstellers Salman Rushdie 1989, die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA sowie 2004 in Madrid und 2005 in London, und 2006 die Kontroverse um die in Dänemark publizierten Karikaturen über den Propheten Muhammad. Das Schweizer Minarettverbot ist Teil dieser Reihe und keineswegs ihr Schlusspunkt. Zahlreiche Aspekte dieser Abfolge von Debatten mit Bezug zum Islam waren schon Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.1

Auch das Kopftuch muslimischer Schülerinnen in staatlichen Schulen sorgte für Diskussionen, die in Frankreich 2004 zu einem Verbot und andernorts zu Gerichtsentscheiden führten. Im Anschluss daran diskutierte die Öffentlichkeit in mehreren europäischen Ländern, ob muslimischen Frauen das Tragen des Gesichtsschleiers verboten werden soll.

Da auch in der Schweiz politische Akteure schon bald nach der Minarettabstimmung immer wieder die Idee eines «Burka-Verbots» ins Spiel brachten, kündigte sich ein weiterer Akt der nationalen «Islam-Debatte» an. Dieser versprach wissenschaftlich ebenso interessant zu werden wie die Minarettdebatte: Was würde gleich, was anders ablaufen? Welche Kontextfaktoren hatten sich seit damals verändert? Wie würden sie sich diesmal auf die Debatte und das Ergebnis einer Volksabstimmung auswirken? Vor allem aber: Warum hatte «die Schweiz» mit dem Minarettverbot nicht genug?

Fragen dieser Art standen am Beginn einer Lehrveranstaltung im Frühjahrssemester 2020. Damals stand bereits fest, dass spätestens 2021 über die eidgenössische Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» abgestimmt werden würde. Medien und Politik hatten das Thema seit 2009 immer wieder öffentlich diskutiert, nicht zuletzt anlässlich von Volksabstimmungen in drei Kantonen. Genügend Stoff für Untersuchungen war also vorhanden. Zugleich bestand die Möglichkeit, Ergebnisse dieser Untersuchungen an ein interessiertes Publikum zurückzuspielen.

Fragen zur Verhüllungsdebatte lassen sich von verschiedener Seite her angehen. Unternommen hat dies bisher vor allem die Politikwissenschaft (siehe Kapitel «Forschungsstand»). Denkbar ist auch ein Zugang aus der Sozialpsychologie oder aus der Linguistik. Unsere Studie geht von der Religions- und der Islamwissenschaft aus. Diese Disziplinen befassen sich nicht nur damit, wie Menschen eigene religiöse Vorstellungen artikulieren und leben, sondern auch, wie Religion von Dritten oder in der Öffentlichkeit verhandelt wird.

Wir beschränkten uns auf zwei Themenbereiche: Zum einen wollten wir genauer wissen, wie viele Musliminnen in der Schweiz den Gesichtsschleier tragen und was sie dazu bewegt. Den grösseren Teil der Zeit widmeten wir danach der Analyse des Diskurses zur Vollverhüllung. Wir – das sind fünf Studentinnen der Religionswissenschaft und des Studiengangs Gesellschaft und Kommunikation sowie der Dozent.

Bei einem emotional und politisch so kontroversen Thema wie im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, wie die Verfasserinnen und der Verfasser selbst zu einem Verhüllungsverbot stehen. Wir haben diese Frage diskutiert. Es zeigte sich, dass wir unterschiedliche Argumente für besonders gewichtig oder gar ausschlaggebend halten. Unter dem Strich stehen wir dem vorgeschlagenen Verbot eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dies ist eine Frage der persönlichen Bewertung, die aber im Hintergrund bleiben muss. Wir wollen darlegen, was wir mit welchem Ergebnis untersucht haben. Das Vorgehen und die Ergebnisse sollen – soweit es der Quellenschutz zulässt – nachvollziehbar und die Interpretation der Befunde plausibel sein.

Hier die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz, dort die «Burka-Debatte»: Es gäbe gute Gründe, jedem Thema eine eigene Publikation zu widmen. Denn jedes der beiden Phänomene kennt seine eigenen Akteure und Dynamiken. Doch die Berührungspunkte rechtfertigen es aus unserer Sicht, beides in derselben Publikation zu behandeln: Vereinzelt fragt eine Stimme in der «Burka-Debatte» nach den Motiven und der Meinung einer Frau mit Gesichtsschleier. Umgekehrt haben die «Burka-Debatte» und ein allfälliges Ja zum Verhüllungsverbot in der Volksabstimmung sehr konkrete Auswirkungen auf Frauen, die den Gesichtsschleier tragen.

Freilich können wir hier nicht alle Aspekte beider Themen umfassend beleuchten. Wir möchten die grossen Entwicklungslinien zeichnen und geben Interessierten Hinweise auf weiterführende Literatur. Einen eigenständigen neuen Forschungsbeitrag leisten wir mit unserer Recherche zur Anzahl der Frauen, die den Gesichtsschleier tragen und durch die Auswertung eines Interviews mit einer Nikab-Trägerin.

Auch eine Diskursanalyse zur Vollverhüllungsdebatte in der Schweiz hat, soweit wir sehen, noch niemand in dieser Form versucht. Dabei möchten wir betonen, dass unsere Darstellung nur eine erste Annäherung ist. Anleiten liessen wir uns dabei von Siegfried Jägers «Kritischer Diskursanalyse».2 Sie schien uns für unsere Zwecke dank ihrer konkreten Vorschläge geeignet, die aber auch Jäger immer nur als Vorschläge verstanden wissen möchte.

Unvergesslich wird uns die Beschäftigung mit dem Thema nicht zuletzt deshalb bleiben, weil während der ersten Monate die Coronavirus-Pandemie begann. Dass wir uns ab Mitte März nur noch per Videokonferenz austauschen konnten, war dabei für den Arbeitsinhalt weniger einschneidend als andere Auswirkungen: Immer häufiger waren Gesichter im öffentlichen Raum nicht mehr ganz zu sehen, sondern zur Hälfte mit Hygienemasken bedeckt. Auf Geheiss des Bundesrates vermieden die Menschen bei Begrüssungen den Handschlag und gingen auch sonst auf Distanz. In den Medien war kaum mehr ein Beitrag ohne das Wort «Corona» zu finden. Da sich abzeichnete, dass all dies länger dauern und tief in den Alltag aller eingreifen würde, fragten wir uns bald, inwiefern es sich auf den Diskurs über Frauen mit Gesichtsschleier und den Vorschlag zu dessen Verbot auswirken würde.

Eine ähnliche Frage warf Ende März der Tod Nora Illis auf, der einzigen Schweizer Nikab-Trägerin, die bis dahin öffentlich über ihre Praxis Auskunft gegeben und sich politisch geäussert hatte. Dass dies die Dinge verändern würde, war klar – aber wie?

Wir entschieden uns, die beiden Fragen im Sinn eines Ausblicks zum Thema zu machen und sie bis kurz vor der Publikation zu aktualisieren. Die eigentliche Diskursanalyse widmet sich zwar explizit nur dem Diskurs bis unmittelbar vor der Coronakrise, wird aber durch die eben genannten Ereignisse nicht wertlos. Die Diskursforschung weiss, dass Diskurse sich zwar dauernd verändern, aber nicht einfach abbrechen. So ist anzunehmen, dass auch der Diskurs zur Vollverhüllung seit der Coronakrise weiterhin an Mustern und Motiven anknüpft, die wir hier erörtern, wenn auch in gewandelter Form.

Kennzeichnend für die Burka- beziehungsweise Verhüllungsdebatte ist eine gewisse Unsicherheit im Sprachgebrauch. Bezogen auf das eigentliche Kleidungsstück sprechen wir in dieser Studie hauptsächlich vom Nikab (arab. niqāb) oder vom Gesichtsschleier. Diese Form der weitgehenden Gesichtsbedeckung aus religiösen Gründen ist in der Schweiz als einzige anzutreffen, wenn auch nur vereinzelt. Der Nikab ist ein frei herabhängendes Stück Stoff, das um den Kopf gebunden wird und das Gesicht unterhalb der Augen bedeckt. Herkunftsgebiet dieser Kleidungspraxis sind städtische Gebiete der östlichen arabischen Welt.

Im Unterschied dazu ist die Burka (Urdu burqa) ein den ganzen Kopf und Körper bedeckender Umhang, in den für die Sicht ein Stoffgitter eingearbeitet ist. Sie ist im Wesentlichen in Afghanistan und Pakistan anzutreffen. Im Westen wurde die Burka erst mit der Medienberichterstattung über den Subkontinent allmählich ein Begriff. Zum Sinnbild unterdrückter muslimischer Frauen, die es zu befreien gelte, wurde die Burka im Zuge der US-Invasion in Afghanistan 2001.3

Obwohl inzwischen der Unterschied zwischen Nikab und Burka auch im Westen bekannt und hier, wenn überhaupt, der Nikab anzutreffen ist, bleibt die Burka in Begriffen wie «Burka-Verbot» oder «Burka-Debatte» weiterhin präsent. Musliminnen, die selbst den Nikab tragen, sprechen oft von Gesichtsschleier.

Islamische Kulturen kennen darüber hinaus eine Vielzahl von Schleierformen, die das Gesicht frei lassen und weitaus gebräuchlicher sind als der Gesichtsschleier.4 Als allgemeinster Ausdruck kann hierbei der Hijab (arab. ḥiǧāb) gelten. Während das Wort im Koran eher in der Bedeutung von «Vorhang» oder «Trennwand» vorkommt, bezeichnet es heute im Feld muslimischer Frauenbekleidung ein Kopftuch und steht dabei auch für Varianten, die eigene Bezeichnungen wie «Khimar» oder «Tschador» haben.

Das Kleidungsstück ist das eine, die Kleidungspraxis etwas anderes. Im deutschsprachigen Raum ist bald von «Verhüllung» oder «Vollverhüllung» die Rede, bald von «Verschleierung» oder «Vollverschleierung», von «Gesichtsverschleierung» oder «Vermummung», von muslimischer Seite gerne auch von «Bedeckung». Jede dieser Bezeichnungen hat ihre Unschärfen und enthält mehr oder weniger deutliche Wertungen. Der Titel der eidgenössischen Volksinitiative spricht von «Verhüllung» beziehungsweise vom «Verhüllungsverbot». Nicht zufällig widerspiegelt der vergleichsweise nüchterne Begriff die Unklarheit der Forderung, wer oder was denn nicht verhüllt sein darf. Zumindest die Begründungen des Initiativkomitees erwähnen dann und wann auch die «Vermummung» von Demonstranten mit Gewaltabsichten als Phänomen, das man ausdrücklich ebenfalls abstellen wolle. Die öffentliche Debatte freilich befasst sich dann fast ausschliesslich mit religiös motivierter muslimischer Frauenbekleidung.

Im Rahmen dieser Studie bemühen wir uns, die Begriffe möglichst genau zu verwenden und auf Wertungen zu verzichten. Dies gilt auch für die Frage der Geschlechter. Wo es um unterschiedliche Geschlechter im gängigen Sinn geht, benennen wir sie in aller Regel, sprechen also zum Beispiel von «Musliminnen und Muslimen». Ist hingegen nur von Frauen oder nur von Männern die Rede, nennen wir nur das tatsächlich behandelte Geschlecht. Ein anderer Fall sind Rollen oder Funktionen (Sprecher, Akteur usw.), insbesondere im Rahmen der Diskursanalyse. Hier verwenden wir das generische Maskulinum. Im Zusammenhang mit einer konkreten Person erhält die Funktionsbezeichnung die passende Geschlechterform.

Verhüllung

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