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Verengung in der Moderne

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Die muslimische Frau habe ihr Haar zu bedecken – diese Norm ist, wie soeben gesehen, in Gesellschaften und Milieus quer durch die Epochen und Regionen der islamischen Welt sehr breit akzeptiert. Von einem Konsens bezüglich Gesichtsbedeckung kann hingegen keine Rede sein, weder in mehrheitlich muslimischen Ländern noch im Westen Europas, auf den wir uns hier konzentrieren. Wie also kam es, dass der Gesichtsschleier, insbesondere der Nikab, in den letzten Jahrzehnten je nach Kontext auffällig häufiger anzutreffen ist als zuvor?

Es handelt sich um ein Phänomen der Moderne, keinesfalls um das einer Rückkehr verloren gegangener Tradition. Erklären lässt es sich mit den umfassenden Prozessen der Individualisierung, der Pluralisierung und der Globalisierung. So ist derselbe Typ des Gesichtsschleiers, nämlich der Nikab, heute sowohl in Kairo anzutreffen als auch in Zürich oder Toronto. Das globale Phänomen ist allerdings bei der jeweils ansässigen Bevölkerung unterschiedlich häufig. Während sich in Kairo auch Kleiderläden mit einer Auswahl an Nikabs finden lassen, ist in Zürich nur schon der Anblick einer Nikab-Trägerin eine Seltenheit. Individuell ist jeweils weniger die konkrete Ausgestaltung des Gesichtsschleiers, sondern, zumindest im Westen, der Weg der Trägerin zu dieser Praxis – und auch wieder weg von ihr (siehe Seite 32). Keine Tradition, keine Herkunft und auch nicht der Koran gibt ihr hier das Tragen des Gesichtsschleiers vor, sondern die Frau wählt in einer pluralen Gesellschaft eine bestimmte Option, die nur in einem eng begrenzten salafistischen Milieu Ansehen geniesst.27 In mehrheitlich muslimischen Ländern mit breiten konservativen Milieus und hohem Konformitätsdruck können die Dinge anders aussehen.

Gerade weil die Option des Gesichtsschleiers im Westen so selten gewählt wird, sieht sich eine Nikab-Trägerin immer wieder in der Situation, ihre Praxis begründen und erläutern zu müssen – gegenüber dem persönlichen und weiteren Umfeld, aber auch für sich selbst. Und da Nikab-Trägerinnen den Gesichtsschleier für sich mit der Religion verbinden, suchen sie sich Begründungen, die ihre Praxis rechtfertigen. So wurde auch die Nikab-Trägerin Nora Illi, «Beauftragte für Frauenangelegenheiten» des Islamischen Zentralrats Schweiz, nicht müde, öffentlich zu betonen, dass «es sich bei der Gesichtsverschleierung der muslimischen Frau um eine islamisch gesehen normative Option [handelt], welche in allen islamischen Rechtsschulen verankert und damit ein fester Bestandteil des islamischen Kultus ist».28 Illis Wortwahl verbiegt dabei allerdings die Verhältnisse stark, und ihre Schlussfolgerung vom «festen Bestandteil des islamischen Kultus» ist nicht haltbar.

In allen islamischen Rechtsschulen29 spielt der Nikab auch heute keine prominente Rolle. Ihn zu tragen, wird zwar nicht grundsätzlich abgelehnt – ausser für die Wallfahrt nach Mekka, den ḥaǧǧ, für den besondere Kleidungsregeln gelten; allenfalls empfehlen die Autoritäten einschlägiger Websites, für bestimmte Kontexte wie das Leben in Europa und Nordamerika vom Tragen des Nikab abzusehen. Selten sind allerdings auch die Stimmen, die zu begründen versuchen, warum der Gesichtsschleier für jede Muslimin (ausser für Frauen im vorgerückten Alter) «eigentlich» Pflicht wäre. Die verbreitetste Position besagt, dass das Tragen des Nikabs keinesfalls Pflicht ist – da Gott dies sonst im Koran unmissverständlich festgehalten hätte –, dass es jedoch als individueller, freiwilliger Akt der Frömmigkeit zulässig, allenfalls sogar empfohlen sei.30

So erklären manche muslimische Gelehrte das Tragen des Nikabs zwar durchaus zur Option. Dies geschieht typischerweise in der Form einer Fatwa, eines Rechtsgutachtens, das ein Gelehrter oder ein Gelehrtengremium auf Anfrage erstellt. Fatwas sind heute im Internet problemlos zugänglich. Bindend, ohnehin nur moralisch, ist dabei die Fatwa nur für jene Person, welche die Anfrage gestellt hat. Das Thema insgesamt ist dabei ein Randthema, weit davon entfernt, «fester Bestandteil des islamischen Kultus» zu sein, wie Nora Illi behauptete.

Das Reden von «islamischer Normativität» verweist im Falle von Kleidungsfragen wie auch von allen übrigen Themen auf einen von der Tradition formalisierten Bereich, der für die meisten Musliminnen und Muslime eine begrenzte oder gar keine Rolle spielt. Selbst jene, die ihr Leben als umfassende Hingabe an Gott – die Kernbedeutung von islām – verstehen, konsultieren im Alltag nicht für jede neue Handlung einen Gelehrten oder einen Online-Fatwa-Dienst. Das Leben ist so, aus einer theologischen Sicht, voller Unzulänglichkeiten, Versäumnisse und Fehler. Doch zwei wichtige islamische Grundsätze entlasten die Gläubigen: Was zählt, ist die gute Absicht. Und Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben. So mag das Bemühen, alles richtig zu machen und freiwillig noch mehr Gottgefälliges zu tun, in einer Phase erhöhten Glaubenseifers, etwa nach einer «Umkehr» oder Konversion, manchen Mitmenschen übertrieben erscheinen. Langfristig führen die Notwendigkeiten des Alltags stets zu einer gewissen Mässigung. Zudem hat die Forschung unter muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz gezeigt, dass die meisten selbst bei ernsthafter Suche nach der «richtigen» Lösung nicht das erstbeste Angebot akzeptieren. Vielmehr konsultieren die jungen Leute oft höchst unterschiedliche «Autoritäten», von den Eltern und Peers über den Imam bis hin zu Büchern oder Onlinediensten, um diejenige Lösung zu finden, die sie im konkreten Kontext der Schweiz für sich verantworten können.31 So geht auch dem Tragen des Nikabs wie des einfachen Kopftuchs in aller Regel ein längerer Prozess voraus, in dem letztlich die eigene Stimme das wesentlich stärkere Gewicht hat als noch so elaborierte normative Lehrgebäude.

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