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1. Bevölkerungsgeschichte – historische Demografie

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Das 21. Jahrhundert ist schon des Öfteren als „demografisches Jahrhundert“ bezeichnet worden, und tatsächlich ist die Demografie auf dem Weg, zu einer der politischen Leitdisziplinen zu werden. Das ist eigentlich nicht verwunderlich. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erleben wir jenes Jahrhundert, in dem die Weltbevölkerung mit mehr als neun Milliarden ihren Höchststand in der Geschichte erreichen wird (Münz / Reiterer 2007: 32). Die daraus resultierenden gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen beschäftigen schon geraume Zeit die Entwicklungs- und Umweltpolitik, wobei den zu Beginn der 1970er-Jahre vom „Club of Rome“ präsentierten beängstigenden Szenarien eine wichtige Anstoßwirkung zukam. Demografische Veränderungen stellen sich jedoch keineswegs ausschließlich als Wachstumsproblem dar. In den entwickelten Industrie- und zunehmend auch in den „Schwellenländern“ ist der Umgang mit dem Altern der Bevölkerungen und dessen Konsequenzen für soziale Sicherungssysteme zu einer zentralen Agenda der Gesundheits- und Sozialpolitik geworden. Sie ist verknüpft mit potenziellen und schon gegenwärtig in ihrer Dimension anwachsenden globalen Süd-Nord-Migrationsbewegungen.

Den Befunden der Bevölkerungsgeschichte bzw. der historischen Demografie kommt bei der Beurteilung der zukünftigen Entwicklung Europas und der Welt durchaus Bedeutung zu. Sie sind für eine Analyse der langfristigen Veränderungen nicht nur unabdingbar, sondern auch mit ihnen untrennbar verknüpft. „Voraussagen über die demografische Zukunft Europas konstituieren gegenwärtige Wissensbestände, die zugleich in der Vergangenheit verankert sind“ (Overath 2011: 9). Aus anthropologischer Perspektive beruhen demografische Veränderungen mit Ausnahme exogener Schocks (z. B. Kriege) auf Anpassungsleistungen

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menschlicher Populationen, die aus einem sich wandelnden ökologischen Umfeld resultieren. Dabei steht beim Menschen kulturelle Adaption im Vordergrund, während seine Umwelt sich biologisch anpasst (Ruffié /Sournia 2000: 229 – 239). Ökologische Herausforderungen bewirken also „kulturell“ bedingte Veränderungen der menschlichen Reproduktion, die gleichzeitig in einem kompetitiven Spannungsverhältnis zur biologischen Evolution der übrigen Organismen stehen. Dieses Verhältnis erfuhr durch die Neolithische Revolution eine erhebliche Intensivierung, wenngleich die ökologischen Effekte der Sesshaftigkeit menschlicher Populationen zunächst noch lokal begrenzt blieben. Diese Begrenzung traf jedoch auf nicht anthropogen verursachte Veränderungen der Umweltbedingungen nicht zu. Erdbeben oder Vulkanausbrüche stehen mit der Existenz der menschlichen Spezies auf der Erde in keinem Zusammenhang, beeinflussen diese jedoch durch ihre zerstörerische Wirkung unmittelbar, Letztere aber auch mittelbar durch ihren langfristigen Einfluss auf die klima­tischen Bedingungen. Vor allem in ihrer auf Sonnenenergie beruhenden vorindustriellen Phase blieb die Bevölkerungs- von der Klimageschichte nicht unwesentlich mitbestimmt – und das auch durch menschliche Eingriffe in die Natur. Anthropogene Faktoren können nämlich auch schon für den vorindustriellen Klimawandel eine begrenzte Wirkung gehabt haben (Mauelshagen 2010: 77 f.). Im Lauf des 20. Jahrhunderts hatten sie mehr und mehr langfristige globale Konsequenzen. Aber nicht nur in der Moderne haben menschliche Gesellschaften auf ökologische Herausforderungen in einer Form reagiert, die entweder nicht nachhaltig war oder überhaupt deren kausaler Ursache nicht entsprach, da ihre Adaption ja nicht vorrangig genetisch erfolgt, sondern kulturell erlernt wird. In historischer Perspektive ist das Gesellschafts-Natur-Verhältnis demnach nicht zuletzt kultureller Evolution ausgesetzt (Sieferle 1997a: 37 – 53). Aus den „gesellschaftlichen Naturverhältnissen“ (Jahn /­Wehling 1998: 75 – 93) lassen sich daher auch viele Befunde der historischen Demografie – Interdisziplinarität vorausgesetzt – erklären.

Die sich im 20. Jahrhundert und da vor allem seit den 1970er-Jahren methodisch in vielfacher Weise weiterentwickelnde historisch-demogra­fische Forschung hat ursprünglich ein wenig künstlich zwischen mikrohistorisch fundierter „moderner“ historischer Demografie und traditioneller,

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auf Makroebene argumentierender Bevölkerungsgeschichte unterschieden (Imhof 1977: 9 – 11). Diese begriffliche Unterscheidung erwies sich allerdings letztlich als nicht zielführend (Sokoll / Gehrmann 2003: 160 f.). Zum einen haben sich die Erwartungen an einzelne von der historischen Demografie entwickelte mikrohistorische Methoden nur zum Teil erfüllt. Ein Beispiel dafür ist die Methode der Familienrekonstitution. Dabei handelt es sich um aufwendige Rekonstruktionen von lokalen Populationen auf der Basis von Tauf-, Heirats- und Sterbematriken. Aus Familien­rekonstitutionen gewonnene Ergebnisse sind nur für den immobilen Teil untersuchter Populationen repräsentativ. Da Befunde der historischen Migrationswissenschaft jedoch auch für vormoderne Bevölkerungen ein quantitativ bedeutsames Wanderungsgeschehen belegen (Hochstadt 1983), wird die Aussagekraft solcher Studien erheblich relativiert. Zum anderen ist die Frage der Repräsentativität von Mikrobefunden ohne Bezug zur Makroebene nicht zu beantworten. Vollständige Rekonstruktionen historischer Bevölkerungen mit den Methoden der Familienrekonstitution und der Bevölkerungsrückschreibung (backward projection) sind – abgesehen vom Problem der Wanderungen über territoriale Grenzen hinaus – meist arbeitstechnisch nicht zu bewältigen und mangels fehlender Quellen vielfach gar nicht durchführbar, wenn auch einzelne beeindruckende Gegenbeispiele wie die Population History of England zu nennen sind (Wrigley / Schofield 1989). Die angeführte Problematik der Erfassung von Migration macht es jedenfalls erforderlich, die historische Migrationsforschung in die Bevölkerungsgeschichte einzubeziehen, obwohl sich diese methodisch zum Teil von der (historischen) Demografie weit weg bewegt hat. Ergebnisse der historischen Migrationsforschung sind aber schon allein aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Migration neben der Fertilität und Mortalität um einen der drei demografischen Basisprozesse handelt und Migrationsbewegungen Einfluss auf Fertilität und Mortalität besitzen, für die Bevölkerungsgeschichte von Relevanz. Der Begriff „Bevölkerungsgeschichte“ sollte aber auch darum beibehalten werden, weil historisch-demografische Prozesse auch von exogenen Größen beeinflusst wurden und diese ohne Einbettung in allgemeine Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung nicht zu erklären wären. Bevölkerungsgeschichte hat also auch manches mit allgemeiner

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Politik, Wirtschafts, Sozial- und Kulturgeschichte zu tun. Dazu ein Beispiel: Der Dreißigjährige Krieg und seine Wirkungen kostete etwa ein Drittel der mitteleuropäischen Bevölkerung das Leben. Wiewohl diese drastische Konsequenz des Krieges auch mit Spannungen im System „Population“, nämlich mit Anzeichen einer „Überbevölkerung“, zu tun hatte, ist sie doch mit diesen endogenen Einflussfaktoren allein nicht zu erklären. Das heißt freilich nicht, dass traditioneller Bevölkerungs­geschichte, wie sie zum Teil noch bis in die 1970er-Jahre betrieben wurde, das Wort geredet werden soll. Moderne Bevölkerungsgeschichte versteht sich als kritisch gegenüber Biologismen und „reinen“, in quantitativen Indikatoren gefassten „Wahrheiten“. Sie hat ein Quellenverständnis entwickelt, welches die gesellschaftliche Konstruiertheit einschlägiger Quellen bewusst macht (Rosental 2006). Quellenkritik bedeutet jedoch nicht den Verzicht auf verallgemeinerbare Aussagen und die interdisziplinäre Rezeption naturwissenschaftlicher Befunde.

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Bevölkerungsgeschichte Europas

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