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Überraschung

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Fünf bange Tage dauerte es nach der Lateinarbeit, bis unsere Lehrerin, Frau Herbold, mit den zensierten Arbeiten unterm Arm den Klassenraum betrat. Latein war mein Problemfach und meine Versetzung in diesem Jahr akut gefährdet.

Ich hatte auch Englisch bei der jungen Lehrerin, schon seit der 5. Klasse. Meine Begeisterung für diese Sprache spiegelte sich – auch als Ergebnis ihrer Art zu unterrichten – positiv in den schriftlichen Noten wider.

Ich muss dazu erklären, dass ich als Kind und Jugendlicher ein starker Stotterer war und mich nur dann meldete, wenn ich mir hundertprozentig sicher war. Frau Herbold hatte dafür Verständnis, denn sie nahm mich nur dran, wenn ich mich mit strahlendem Gesicht gemeldet hatte. Oder sie stellte ihre Fragen so, dass eine knappe Antwort möglich war. Andere Lehrer waren nicht so einfühlsam. Mit Schrecken denke ich noch heute daran, wie ich mathematische Formeln an der Tafel vor der Klasse erklären musste.

Jedenfalls liebte ich Frau Herbold. Und sie mochte mich wohl auch.

In der letzten Stunde vor der Klassenarbeit hatte Frau Herbold uns den eher vagen Hinweis gegeben, dass es um eine Übersetzung ginge. Als wir den Klassenraum verließen – ich war der letzte Schüler – sprach sie mich an und zeigte mir kurz die betreffende Textstelle im Lateinbuch.

Mit diesem „Geheimwissen“ ging ich am Nachmittag zu Herrn Kosta. Dieser lebte in unserm Dorf und es wurde so einiges über ihn gemunkelt – etwa dass er fälschlicherweise einen Doktortitel geführt hätte. Dennoch war er bei den Bauern im Dorf gern gesehen, weil er ihre Buchführung professionell erledigte. Auch die Damen mochten ihn. Herr Kosta – stets mit Anzug und Krawatte unterwegs – war von ausgesuchter Höflichkeit und redete sie mit „Gnädige Frau“ an, wobei er einen Handkuss andeutete, was nicht nur meine Mutter zu entzücken schien.

Überdies gab der Mann, der über hervorragende Sprach- und Mathematikkenntnisse verfügte, Dorfkindern wie mir, die zum Gymnasium gingen, Nachhilfe-unterricht. Ich bat nun Herrn Kosta, mir den lateinischen Text zu übersetzen, was er prompt erledigte. Danach lernte ich alles Satz für Satz auswendig und machte mir zur Sicherheit noch einen Spickzettel. Aber das erwies sich als überflüssig, der Text ging mir, als es ernst wurde, auch so gut von der Hand.

Nun kam also Frau Herbold mit den durchgesehenen Arbeiten und begann sie an die einzelnen Schüler zu verteilen. Es dauerte und dauerte, ich wurde zusehends nervöser. „Bernd, sehr gut!“, hörte ich sie zu meinem Nachbarn sagen. Danach sah sie mich an:

„Überraschung, Fritz, eine Eins! Weiter so!“

Die Eins hatte zur Folge, dass die Versetzung doch noch klappte.

Fritz Rinne

Was wäre das Leben,

hätten wir nicht den Mut,

etwas zu riskieren.

Vincent van Gogh

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