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Die Geschichte vom Kalifen
ОглавлениеEs ging um eine Operation in der Klinik, genauer: Ich war als Dolmetscher eingeschaltet worden, um die für die OP notwendige ärztliche Aufklärung für die Patientin ins Arabische zu übersetzen. Die Frau stammte aus Syrien und hatte gerade ein Kind geboren. Die Geburt war problemlos verlaufen, aber bei der Mutter hatte sich danach eine Komplikation eingestellt.
Als ich das Krankenzimmer betrat, saß die Frau auf der Bettkante, ihr Neugeborenes auf dem Schoß. Auf dem Stuhl daneben ihr Ehemann mit einem vielleicht zwei Jahre alten Mädchen. Der Arzt war noch nicht eingetroffen. Mir stieg sofort der strenge Geruch in die Nase. Offensichtlich musste das ältere Geschwisterkind gewickelt werden. Es litt sichtlich unter der vollen Windel.
Ich sprach das an, aber beide Erwachsenen machten keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Es war klar: Entweder musste der Vater das Kind wickeln, oder die Mutter musste es tun und in der Zeit das Neugeborene dem Vater anvertrauen. Der Vater sagte, er könne das Kind nicht wickeln – und das Neugeborene auf den Arm zu nehmen, das komme nicht infrage, das würde kein Mann tun.
Mir war die Situation unangenehm, und ich hätte am liebsten selbst gehandelt. Bei meinen beiden, inzwischen erwachsenen Söhnen die Windeln zu wechseln, war für mich immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. Aber mir war auch bewusst, dass hier jetzt Behutsamkeit und Zurückhaltung gefordert war. Ich sagte deshalb den beiden, ich würde ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Sie ging folgendermaßen:
„Der Kalif Omar war ein barmherziger und gottesfürchtiger Mann. Gelegentlich mischte er sich unerkannt unter sein Volk, um zu erfahren, was man dachte und sprach. Mit seinem Begleiter traf er auf einen Mann, der völlig aufgelöst vor seinem Zelt saß. Er fragte den Mann, was ihm fehle. Der erzählte: ‚Meine Frau bekommt gerade ein Kind, und ich weiß nicht, was zu tun ist.‘ Daraufhin bat der Kalif seinen Begleiter, zum Palast zu gehen und die Ehefrau des Kalifen zu holen. Der Kalif machte unterdessen Feuer, kochte Wasser und bereitete das Essen zu. Bald kam die Frau des Kalifen und half der Gebärenden, ihr Kind auf die Welt zu bringen. Aus dem Zelt heraus sprach sie zu ihrem Ehemann: ‚Kalif Omar, richte dem Mann aus, dass seine Frau ein gesundes Kind zur Welt gebracht hat.‘
Als der Mann begriff, dass der Kalif zugegen war, wollte er sich hinknien und sich ehrerbietig bedanken. Doch der Kalif sagte ihm: ‚Du brauchst dich nicht zu bedanken. Was du allerdings sollst: dich in Zukunft selbst um deine Familie kümmern.‘“---
Noch bevor ich die Geschichte ganz zu Ende erzählt hatte, bemerkte ich, dass der Mann aufgestanden war, seine Frau anblickte und das Neugeborene in die Arme nahm. Jetzt konnte sie sich um die ältere Schwester kümmern, und sogleich waren alle entspannt.
Isam El-Korhaly
Nichts ist so erfrischend
wie ein beherzter Schritt
über die Grenzen.
Keith Haring