Читать книгу Felapton oder Das letzte Glück - Andreas Wollbold - Страница 8
ОглавлениеErstes Kapitel Worin Jens eine Entdeckung macht, die seinen Fotos nicht nur viel Geld einbringt, und worin die Pressemaschine gehörig anläuft
Auf allen Schreibtischen klingelten Telefone. Keiner hob ab. Zehn Uhr. Alle vier Mitarbeiter waren ungewöhnlich früh zur Redaktionskonferenz einbestellt. Jack, der Chefredakteur des Day ’n’ Nite Weekly, der starke Mann, Macher und Hexenmeister, erwartete seine Leute, sein vibrierendes Gesicht über den Laptop gebeugt. Hastig stellte er einige Bilder seiner Präsentation um, achtete dabei aber genau auf alle Eintretenden und grüßte sie mit Namen und Aufmunterung: »Hi, Doris, siehst heute wieder top aus!«, »Urs, toll, nach dem Rosenmontag in Köln schon wieder sicher auf den Beinen?«, »Ralf, nimm dir nächstens ein Taxi, wenn’s regnet. Unserer Spesenkasse geht’s blendend.« Zuletzt kam Sophia, Chefin vom Dienst, die letzten Meldungen der Agenturen in der Hand. Jack folgte ihr mit den Augen, während er seine Power-Point-Präsentation sicherte: »Da bist du ja endlich! Gibt’s was Neues von diesem Sektenselbstmord oder weiß der Himmel, was in diesem gottverdammten Kloster heute Nacht los war? Ich will alles, was die Geschichte hergibt. Wie eine Zitrone press ich sie aus. Hey, das ist Wahnsinn. Genau der Stoff, von dem wir leben.«
Vertraulich zog sie ihn am Oberarm zu sich heran, deutete mit einem Stift auf die markierten Stellen ihrer Meldungen und flüsterte ihm zu: »Wie’s aussieht, hat Jens in allem recht. Fünf Opfer, also die gesamte Sekte. Außer ihrem Chef, Robert Schönherr. Der ist auf und davon. Vielleicht nur in Panik. Dadurch natürlich höchst verdächtig. Selbstmord oder Mord, die Kripo lässt nichts raus. Nur so viel ist klar: Es war ein schnell wirkendes Gas. Ihr Tod ist um kurz nach einundzwanzig Uhr eingetreten. Pressekonferenz der Polizei heute um halb eins. Ist aber noch nicht viel zu erwarten.«
»Von seinen Fotos hat Jens bei den Kriminalern also nicht geplaudert?«, raunte Jack so leise zurück, als könnte er keine Mitwisser gebrauchen. »Angeblich hat er beim Morgenspaziergang zum Kloster den grausigen Fund gemacht. Guter Junge, der hat echt Nerven. Vermasselt uns nicht den Aufmacher der nächsten Ausgabe.«
»Oder braucht Geld. Hast du ihm wirklich zwanzigtausend versprochen? Bist du irre?«
»Ja, aber für alle Fotos und mit allen Rechten. Musste ich doch. Kenne ihn nur zu gut. Dieser Ego-Shooter macht mir sonst zu viele Zicken.«
»Jack, bist du dir im Klaren, wie hoch du mit dieser Story pokerst? Entweder bist du völlig übergeschnappt oder genial.« Der feste Druck ihrer Fingerspitzen auf seinem Arm tat ihm gut. Sie war eben nicht irgendwer. Das kühle, schlaue Mädchen aus besseren Kreisen, so nannte er sie gerne.
Unvermittelt schnellte er empor. Mit erregtem Rot auf Stirn und Wangen fixierte er seine Leute und begann seinen Auftritt. Selbst ein Praktikant in der ersten Woche hätte jetzt erkannt: Der Chef hat einen ganz dicken Fisch an der Angel und braucht sie alle, um ihn an Land zu ziehen. »Guys, von den fünf Toten heute Nacht in diesem Gotteskeller habt ihr ja schon gehört«, schnarrte seine obertönige, wenig resonante Stimme. »Eine feine Nase für Stories besitzt ihr alle, und die schnauft jetzt sofort: Finger weg, das ist ein Stoff für die Tagespresse! Recht habt ihr! Wir können nicht jedem Toten zu einem Nachruf verhelfen, okay? Aber wozu trommelt euch der alte Jack dann mitten in der Nacht zusammen? Weil dieser ewige Egomane selbst auch einen Riecher hat, okay, und zwar einen aus einer richtigen Gérard Depardieu-XXL-Nase.«
»Na, XXL ist inzwischen doch eher sein Bauchumfang«, frotzelte Rolf lachend. »Der ist doch aufgegangen wie eine Profiterole!« Jack machte nur »Pfffhhh!«, als würde er die Luft aus dem aufgeblähten Schauspieler entweichen lassen, und fuhr fort: »Diese knollige Gérard Depardieu-Nase also, die hat euer Jack in etwas gesteckt, was ihr noch nicht habt: in Bilder.« Während der Eröffnung seiner Show hatte Jack sich in Bewegung gesetzt. Er umkreiste den Tisch, und bei den Höhepunkten blieb er stehen, starrte auf einen seiner Redakteure, bis dieser unter sich schaute, und setzte dann erst seinen Weg fort. »Stopp, Anfängerfehler, so sagt ihr: Bilder riechen nicht. Nein, selber Fehler! Genau das habt ihr nämlich in jeder einzelnen eurer grauen Zellen zu speichern: Unsere Bilder, ja, sie sollen riechen. Sie müssen einem nachgehen, sie müssen einen noch beim Zähneputzen verfolgen wie der Geruch eurer ersten Liebe. Wer Day ’n’ Nite durchgeblättert hat, dem müssen die Gespenster im Traum nirgendwoher sonst als aus unseren Fotos erscheinen. So, und jetzt kommen Jens’ Aufnahmen aus dem Kloster. Die ersten Bilder überhaupt, noch vor dem Eintreffen der Polizei! Verdammt cool, wie diese Trantüte das hingekriegt hat! Wie hat er bloß von der Sache Wind gekriegt? Da lässt er absolut nichts raus. Also, reißt die Augen auf, und ihr werdet zugeben: Das ist der Aufmacher für die nächste Ausgabe. Statt Koalitionskrise. Die setzen wir auf Seite drei. Wie ich die Dame in Berlin kenne, läuft die uns ja doch nicht davon – die Krise natürlich, nicht die Dame! Was habt ihr denn gedacht?« Heiteres Raunen in der Runde, etwas unterwürfig. Jack, eigentlich Jakob Leicht, brauchte eine solche Darbietung wie der Lachs den Sprung aus dem Wasser.
Mit dem linken Zeigefinger berührte er das Touchpad und wies mit einer ausladenden Geste auf die startende Präsentation. Zu sehen waren etwa dreißig Fotografien. Jens hatte sie Jack heute Morgen um kurz vor neun aus seinem Wagen zugesandt. Dann erst hatte er die Polizei benachrichtigt. »I love it!«, hatte der Chef des Day ’n’ Nite Weekly schon nach den ersten Bildern aufgeschrien.
Der Anfang war nur Beiwerk: die Außenansicht des Klosters, der Eingang, die Treppe zum Keller. Bloßes Vorgeplänkel, das war auch den Mitarbeitern klar, und sie begannen, ihre Wichtigkeit durch gezielte Fragen und Bemerkungen unter Beweis zu stellen. Den Anfang machte Urs mit vom Karneval noch angegriffener Stimme: »Ich weiß nicht, ob ihr alle die Vorgeschichte kennt. Jens hat neulich schon einmal ein bisschen geplaudert. Also, vor zwei Jahren hat so ein Nobody behauptet, er kommt direkt vom Papst und soll hier ein Kloster aus dem Boden stampfen. Endlich mal wieder so ein richtig grausam strenges Kloster. Ein paar Extrafromme hatte er schon gesammelt. Höchstwahrscheinlich Leute mit echt netten Geschichten: Verrückte, Bekehrte, Alles-auf-eine-Karte-Setzer. Aber nichts Genaues weiß man nicht. Bei denen war das Vorleben nämlich absolut tabu. Keine Fragen über früher, niemals!«
»Warum denn? Wozu gibt’s Facebook? Ein Klick, und du weißt alles, vom letzten Date bis zur Marke der ersten Windeln«, warf Ralf ein. Aber Jack wollte sich die Schau nicht weiter stehlen lassen und fuhr persönlich fort: »Nein, absolut keine Fragen, was vorher war – das war dort strenge Regel. Aber was faselt euer Chef da, will er auf seine alten Tage noch fromm werden? Naja, dieser Gottesclub aus Rom – mein Beitrittsformular liegt immer noch unausgefüllt was weiß ich wo. Habe einfach keine Zeit für mein Seelenheil, okay? Aber eins weiß auch euer Jack, dieser laue Christ. Bei den Katholiken gilt: Roma locuta, und alle halten die Klappe oder so ähnlich. Da kann schon einmal ein solcher Niemand mit einem römischen Wisch dahergelaufen kommen. Er reibt den Kirchenbossen hier sein Blatt mit lateinischem Siegel unter die Nase, und schon wird es sein Sesam- öffne-dich. Nur, ihr könnt euch die Begeisterung bei den deutschen Popen vorstellen. Immerhin, eine Story! Aber nur eine Nachricht der dritten Kategorie, maximal eine Spalte, wenn mal ein Artikel verpatzt wurde, oder halt als was Frommes zu Ostern oder meinetwegen auch noch zum Muttertag, okay? Auf jeden Fall, der Lokalguru, der Bischof hier, er tobt, darf sich aber wegen Rom nichts anmerken lassen. Diese Kirchenbonzen schielen doch alle, aber nicht nach innen, sondern nach oben. Wollen noch was werden. Jedenfalls bugsiert der Bischof diese sechs Jungs in ein halbverfallenes Kloster. Dort hausen nur noch zwei alte Schwestern. Die wollte dieser Kirchenfürst sowieso schon längst vor die Tür setzen. Ihren Schuppen mit Garten und Mauer könnte die Caritas ja bestens für ein Pflegeheim gebrauchen. Und seinem Finanzchef kommt schon beim Gedanken an die flotten Millionen aus einem Verkauf das Delirium tremens.«
Jack setzte zu einer neuen Runde um den Tisch an, und Doris fragte sich, wie lange das hier noch dauern sollte. Gleich würde sich das Büro eines Ministers melden, und diesen Anruf durfte sie auf keinen Fall verpassen. Vielleicht könnte sie ja wenigstens den Hörer ihres Telefons neben die Gabel legen? Aber der Chef schwadronierte schon weiter: »Die Schwestern wollen nicht ausziehen. Bleiben einfach. Kirche von unten! Echt, solche Leute sind doch die Kommune Eins von heute. Jedenfalls zieht dieser Robert Schönherr mit seinen fünf Leuten dort ein, und die steinalten Nonnen vertragen sich prächtig mit diesen Boatpeople aus Rom. Na ja, vielleicht liegt’s ja auch am Gelübde der Schwestern, immer den Mund zu halten. Das gefällt mir. Ich sollte mir das mit dem Kircheneintritt wirklich mal überlegen. Und dir, meine kalte Sophie, würde dieses Schweigegelübde nicht auch dir behagen?«
»Natürlich, wenn du endlich gelernt hättest, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen!« Sophias Schlagfertigkeit wurde mit Gelächter belohnt. »Aber dann sag doch mal: Du starrst so gerne meine Augen an. Welcher Wunsch spricht denn im Moment aus ihnen? Ich sag’s dir: Quatsch nicht rum, sondern komm endlich zum Punkt!« Doris dachte, vielleicht gibt es ja doch so etwas wie Frauensolidarität, und hoffte auf Wirkung. In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Sie sprang auf und hob ab. Doch nach einigen halblauten Sätzen legte sie wieder auf. »Und, lädt dich der Minister persönlich auf seine Jacht ein?«, frotzelte Urs.
»Es war die Änderungsschneiderei«, gab Doris kleinlaut zu. Ein Gelächter wollte einsetzen, da sprang Jack ihr rasch bei: »Also etwas wirklich Wichtiges, dieser Anruf, nicht nur irgend so ein Minister. Wichtiges hat bei uns immer Vorrang. Ein Fältchen im Kleid von Doris, und es steht schlecht um den Day ’n’ Nite. Das richtige Parfüm, und sie ist der Star des Presseballs.« Jack besaß einfach den Blick für jeden Einzelnen, und dafür liebten sie ihn. Dabei schaute er aber nicht Doris an, sondern Sophia, grinste und kostete seinen kleinen Triumph aus. »Thanks, good girl!«, sprach er zu ihr. »Meinen Punkt willst du wissen? Es gibt ein Geheimnis. Dieses Geheimnis ist auf Jens’ Fotos zu sehen, und die haben wir, nur wir. Achtung, und jetzt seht ihr unseren nächsten Aufmacher!«
Der Innenraum einer bescheidenen Kapelle im Halbkeller des Klosters war zu erkennen. Ganz vorne stand ein Altar, darauf ein kleiner, von weißen Tüchern verhüllter Buchständer, in der Mitte ein Kreuz. Links und rechts zwei niedergebrannte Kerzen, schräg dahinter eine kreisrunde Fensteröffnung. Alle weiteren Bilder waren ebenfalls schwarzweiß, in einer leichten Grautönung, wodurch auch den hellsten Stellen alles Grelle genommen war. Lichte und verschattete Partien flossen ineinander wie bei einem See, auf dessen gekräuselter Oberfläche Baum und Himmel schaukeln. Erst beim genaueren Hinsehen offenbarte sich das Drama der vergangenen Nacht. Fünf junge Männer lagen da, zwei auf dem Rücken, zwei auf der Seite und einer bäuchlings. Behutsames Morgenlicht drang aus dem Fenster über den Altar in den Raum und legte sich über den Boden wie ein von barmherziger Hand ausgebreitetes Leichentuch. Der Dunst, vielleicht vom Ruß der Kerzen oder von Weihrauch, zeichnete aus den Streifen des einfallenden Lichtes vom Fenster bis zur Erde einen hellen Schacht. In seiner Mitte verdichtete er sich zu einem winzigen Schatten, einem Strahl aus Finsternis, der dunklen Innenfläche einer Hand gleich, die man vor die Sonne hält. Der Zauberstab dieses Schattenglanzes breitete sich am Boden in Wellen bis zu den Wänden aus. Seine Berührung schien den am weitesten vorne Liegenden um Millimeter emporzuheben, so als wollte dieser sich wieder vom Schlaf erheben. Zwei andere streifte der Schimmer im Gesicht und ließ ihre Augenlider glänzen, wie um das Aufschimmern dieses Morgens zu dämpfen. Ein Vierter war über die Stufen zum Altar ausgestreckt, ein Letzter lag ruhig im Dunkel. Kein Zweifel, die Fünf waren vom Tod überrascht worden und lagen wie zufällig nebeneinander. Nur der Lichtstrahl verband sie miteinander. Was war das? Ein jäher, grausamer Tod, doch zu sehen war ein Morgen nach einer Nacht voll des Geheimnisses.
Minuten verrannen. Selbst die Telefone schienen das Außergewöhnliche dieses Augenblicks zu achten und schwiegen. Endlich ertrug es Jack nicht länger und räusperte sich: »Bilder macht unser Jens, die sind einmalig.« Durch die eigene Stimme zu sich gekommen, fiel er zurück in seinen flapsigen Ton: »Leute, das ist der Punkt, weshalb das genau meine Geschichte ist. Folgende Logik: Sicher ist nur der Tod, okay? Darum ist Sterben immer das beste Sujet. Die Challenger explodiert, ein Hundertundzweijähriger, beinahe noch aus dem vorletzten Jahrhundert, will und will nicht das Zeitliche segnen, Geiseln in der Wüste werden vor laufender Kamera enthauptet, Muhammed Ali stirbt an Alzheimer – ja, das sind Geschichten! Keiner kann sagen: Interessiert mich nicht, geht mich nichts an. Omne animal mortale, jedes Lebewesen stirbt auch wieder – ja, ob ihr’s glaubt oder nicht, Jack heißt auch Jakob und war einmal der brave Bub kleiner Leute und Musterschüler in einem Fachwerkdorf. Jeder stirbt also. Aber wie er stirbt, das ist die große Frage. Die Antwort geben wir in der nächsten Ausgabe, mit diesen Bildern!«
Trotz lichtstarkem Beamer ließ Jack die Sichtblenden an den Fenstern herunter, sodass die nächsten Bilder das Auge beinahe schmerzten. Er setzte die Projektion mit einer Reihe von Nahaufnahmen der Gesichter fort. Fünf Persönlichkeiten, charaktervolle Gesichtszüge. Unverkennbar waren darin die Spuren des Todes zu sehen. Doch über ihre trockene Ledrigkeit breitete sich ein silbriges Lächeln aus. Wie das Blatt eines Baumes war es auf sie herabgeschwebt, immer sanfter auf sie gefallen und lag nun still auf ihnen. Die Toten schwiegen – wie hätten sie auf diese Berührung auch anders als mit Schweigen antworten können? Jedem Betrachter krampfte ihr früher Tod alles zusammen, sie selbst aber wirkten seltsam heiter und gelassen. Das war ihr letztes Wort an die Lebenden, das kein späteres mehr verneinen konnte. Ja, sie waren an ihr seliges Ende gekommen. Das Lächeln ruhte auf ihnen, unvergänglich gemacht durch den Tod. Ihr Glück müsste niemals wieder vor einem Stärkeren abtreten, wie es auf der Bühne des Lebens üblich ist. Ihr letzter Moment war kein flüchtiger. Das Lächeln konnte sich auf ihnen ausbreiten und über Stirn, Nase und Augen fließen. Ein Alb war von ihnen genommen, und sie konnten sich endlich unverstellt zeigen, wie sie waren. Letztes Glück.
Bei der Projektion blieb wiederum alles still. Jacks Leute, an die Eruptionen ihres Chefs gewöhnt und sie meistens nur absitzend, waren von den Bildern gefangen. Allein Sophia hatte sich nach der zweiten Nahaufnahme aus dem Raum entfernt. Jack trat bei jedem Lichtbild weiter zurück, zum Fenster hin, und hielt den Presenter weit von sich. Schließlich war das letzte Foto gezeigt worden, und an seine Stelle trat der blassblaue leere Bildschirm. Immer noch blieb es still. Die Bilder füllten innerlich alles aus. Niemanden ließen sie unberührt: Der Tod lässt die Lebenden verstummen. Vielleicht sah jemand in den Verstorbenen sich selbst, ausgelöst durch eine äußere Ähnlichkeit, und kam ins Nachdenken über seinen eigenen Lebensweg. Wenn er da und dort einen anderen Pfad zugewiesen bekommen hätte, eben einen solchen, wie ihn einer dieser Fünf zu gehen hatte, hätte er sich dann nicht ebenso unter diesen Toten befinden können? Vielleicht hielt einen auch das ferne Empfinden zurück, mit jedem Wort eines Lebenden stoße dieser sich weiter von den endgültig Verstummten ab. Aus den Augen, aus dem Sinn – aber wollte er sie denn bloß so rasch wie möglich wieder vergessen? Was, wenn jeder von ihnen in der Redaktion seinen Eindrücken treu bleiben könnte? Es sich erlaubte, ihnen nachzugehen, darüber nachzudenken? Wie ist das etwa: Eben noch war ein Leib lebendig, beseelt, agil, und jetzt hatte er sich in eine bloße Hülle verwandelt? Was geschah in dem Moment, da dieses gewisse Etwas sich vom Leib löste? Sicher, das war zu hoch für sie. Wie für jeden Menschen. Ein Geheimnis. Aber eben keines, nach dem man einfach wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Auf den Bildern zeigte sich etwas, was ihre Schreibe, ihre Sprüche nie und nimmer erreichen würden. Sollte jetzt nicht einer von ihnen aufstehen und sagen: »Das da behalten wir besser für uns«? Sie hätten noch eine Weile still dagesessen und wären dann, einer nach dem anderen, wieder an ihre Arbeit gegangen, an Berichte, Features und Interviews, eben an die Aufgaben, die sie zu bewältigen gewohnt waren.
Langsam zog Jack die Blenden an den Fenstern wieder hoch. Er beugte sich über den Projektor und manipulierte einige Einstellungen. Schließlich beendete Udo, der Älteste unter ihnen – und das hieß in ihrem Team, das aus der Web-Redaktion hervorgegangen war, dass er knapp über vierzig war –, das Schweigen und wandte ein: »Glückwunsch, gut, aber was haben wir damit zu tun?«
»Das ist nicht nur verdammt gut, Udo, das ist ein echtes Geheimnis.« Jack fuhr sich mit der Hand ins Genick, schaute dabei aber nicht Udo oder einen anderen von ihnen an, sondern blickte zum Fenster hinaus. »Unser Geheimnis! An uns liegt es nun, alles darüber herauszukriegen. Recherche, gnadenlose Recherche, das genau ist euer Job in den nächsten Tagen, vielleicht sogar Wochen. Wir müssen alles wissen. Was hat die fünf Männer wirklich zu Tode gebracht? Was haben sie zuletzt getan? Waren Drogen im Spiel? Wann ist ihr Gründer verschwunden, dieser Robert? Und wohin? Dann benötigen wir natürlich noch die üblichen Umfeldberichte: spektakuläre Sektenselbstmorde, Jonestone und so. Was geschieht die letzten Sekunden vor dem Ersticken – aber Vorsicht: Das Zyklon B der Nazis lassen wir draußen. Ein bisschen Sterbehilfe könnt ihr aber bringen, die Schweiz, Belgien, Holland. Deutschland nur in homöopathischen Dosen. Also etwa: Wie sanft befördert Natrium-Pentobarbital wirklich ins Jenseits? Ob’s einer wohl noch bereut, im letzten Moment, wenn’s schon zu spät ist? Na ja, aber das ist vielleicht schon zu düster, und bei uns ist das anders. Hier geht’s um das letzte Glück: Kann Sterben schön sein?« Jack hatte sich vom Fenster wieder seinen Redakteuren zugewandt. Er breitete die Arme aus und wiederholte diese Frage noch einmal mit Nachdruck auf jeder Silbe. Dann widmete der Chef sich jedem Einzelnen von ihnen, verteilte im Handumdrehen die Aufgaben und übersah dabei keinen – ein Erfolgsprinzip bei vielen seiner Titelgeschichten. Erst am Ende bemerkte er, dass Sophia nicht mehr an ihrem Platz war. »Sophia?«, fragte er halblaut, als hoffte er, niemand werde seine Sorge bemerken.
Seine wichtigste Mitarbeiterin stand auf dem Flur, den Blick abgewandt. Ihre Statur war unverkennbar: tadellos aufrecht stehend, von der Haarpracht bis zu den eleganten Schuhen attraktiv, selbstbewusst, eine Erscheinung, der man sich kaum entziehen konnte. Sie stand am geöffneten Fenster und hielt eine Zigarette mit ausgestrecktem Daumen und Ringfinger vor dem Kinn. Den Rauch blies ihr spitzer Mund nach unten. Ohne Jack anzuschauen, fragte sie: »Und, fertig mit deiner Show?«
Jack trat von hinten nahe an sie heran. Er war ein anderer als eben, irgendwie verlegen, unsicher in der Frage, was sie an seiner Präsentation gestört haben könnte und wie er sich daraufhin rechtfertigen sollte, und bemerkte schließlich nur: »Ist wohl nicht dein Thema, Sophia?« Sie schwieg und starrte nach draußen. Warum arbeitete sie immer noch im vierten Stock eines No-name-Hauses am Frankfurter Ring, unten bloß ständig Staus und gegenüber eine nichtssagende Mietskaserne, bei der eine Formel-1- Übertragung auf dem Großbildschirm irgendeines Assis den aufregendsten Anblick seit Tagen bot? Warum konnte man von ihrem Redaktionsbüro aus nicht wenigstens einen Blick auf das bisschen Skyline ergattern, die München zu bieten hatte, und sei es das schreckliche Uptown-München oder in Gottes Namen auch diese zwei klobigen Welschen Hauben mit Alpenpanorama? Sie riss sich aus ihrer Träumerei zurück, warf sich herum und fuhr ihn an: »Doch, Jack, doch, das ist mein Thema. Das ist absolut mein Thema. Tu nicht so, als wäre das nichts fürs schwache Geschlecht. Erst recht brauche ich keinen seelischen Beistand, weil mir irgendwas irgendwie unter die Haut gegangen wäre. Nein, nicht diese Tour!« Sophia wechselte die Zigarette von einer Hand in die andere, drehte sie zwischen den Fingern, zog einmal daran und nahm sie wieder in die Rechte.
»Okay, okay, ganz sachlich und professionell!«, bemühte sich Jack, wieder die Oberhand zu gewinnen und die Situation unter Kontrolle zu bekommen. »Aber dann spiel bitte auch nicht die Madame von und zu! Du hältst hier keine Audienz. Denk nicht, weil dein Liebhaber nicht ganz standesgemäß ist, kannst du dir alle Zicken erlauben. Zur Sache also! Erstens: Die Fotos sind Wahnsinn. Einwand? Zweitens: Unsere Philosophie ist: Alles geht, aber nur mit Human Touch. Drittens: Glück, Männer, Tod, das ist einmalig. Okay? Und viertens haben wir jetzt dreizehn Stunden, um daraus etwas zu machen. Die Leser müssen die Augen weit aufreißen: Hier ist es, das Geheimnis des Glücks. Noch Fragen?« Das war gelungen. Jack imponierte gern, vor allem Sophia. Die Festung im Sturm zu nehmen, das war seine Devise. Nur keine Grabenkämpfe!
»Jack, der Sensationsmacher!«, spöttelte sie, und das war ein Ton, den er nicht gerne hörte. »Das ist das Thema. Na gut! Aber was ist das, das Glück? Das ist meine Frage. Nach dem Studium bin ich in den Journalismus gegangen, und du weißt, wie ich’s mir von meinem feinen Anwalts-Papa ertrotzen musste. Meinst du, das habe ich nur getan, um jede Woche einen immer blödsinnigeren Aufmacher zu produzieren, der irgendwelchen Yuppies die Langeweile vertreiben soll? Nein, ich will mir die Freiheit nehmen, so wie unsere Kollegen von vorgestern zu denken: Presse, das heißt hinter alle Türen zu schauen. Herauskriegen, was wirklich geschehen ist. Aber dich interessiert doch nur, wie die Türen aufgehen.«
So richtig begriff er diese gescheite Bemerkung nicht, aber wenn sie sich gehen ließ, konnte er gewinnen. Jack setzte sein charmantestes Lächeln auf, sah sie mit schräg geneigtem Kopf an und meinte: »Gut gebrüllt, Löwe! Oh, meine liebe Sophia! Wie sehr liebe ich deine Zornesfalten. Aber jetzt lass es gut sein und gib mir mildernde Umstände! Du weißt doch, fürs Feine hab ich nie getaugt. Ich bin halt bloß in einer Dreizimmerwohnung groß geworden, wo den ganzen Tag die Glotze lief. Egal, mir passt die Arbeitsteilung gut: Ich reiße alle Türen auf, und du inspizierst, was sich dahinter verbirgt. Konkret, du solltest nach diesem Robert Schönherr suchen. Er ist der Schlüssel zu allem: zu deinem Glück und zu meiner Knete.«