Читать книгу Felapton oder Das letzte Glück - Andreas Wollbold - Страница 9
ОглавлениеZweites Kapitel Worin die Presse zeigt, was sie kann, und die Polizei, dass sie nicht jeden zum Reden bringt
»Am heutigen 10. Februar 2016 erhielt die Polizeiinspektion München-Westend um 9.03 Uhr einen von einem Handy abgegebenen Notruf seitens des Bildjournalisten Jens D. aus Zwickau. Er meldete den Fund von fünf männlichen Leichen, die er kurz zuvor in einem Kellerraum des Nonnenklosters am Prinzengarten entdeckt hatte. Die polizeilichen Einsatzkräfte erreichten das Kloster um 9.14 Uhr und wurden von Herrn D. an den bezeichneten Ort geführt. Die eingegangene Meldung erwies sich als zutreffend. Der Kellerraum war nach Art eines Meditationsraumes eingerichtet. Das Fenster wurde geöffnet vorgefunden. Zwei Kerzen brannten noch auf einem Podest des ansonsten kahlen Raumes. Die fünf Leichname lagen in verschiedenen Positionen auf dem Boden. Nach derzeitigem Ermittlungsstand gehören alle fünf einer katholischen Sekte an, die vor zwei Jahren im Kloster Zuflucht gefunden hat. Von ihrem Leiter, Robert S., fehlt noch jede Spur. Die bald nach dem Fund eingeleitete gerichtsmedizinische Untersuchung ergab für ausnahmslos alle einen Todeszeitpunkt von spätestens 21.30 Uhr am Vorabend. Als Todesursache kommt eine Kohlenmonoxidvergiftung in Frage. Die Spurensicherung geht davon aus, dass ein defekter Brenner im Raum das erstickende Gas ausströmen ließ. Es ist geruchlos und führt rasch zur Bewusstlosigkeit. Nach kurzer Zeit tritt der Tod ein. Unklar ist jedoch, wie dies gleichzeitig bei fünf Männern geschehen konnte, ohne dass wenigstens einer die Gefahr wahrgenommen hatte. Es besteht Grund zur Annahme, dass sich alle in einer Art Trance befanden. Ein weiterer unklarer Punkt ist das weit geöffnete Fenster. Die dadurch einströmende kalte Luft hätte gereicht, damit die Fünf am Leben geblieben wären. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass der vorne Liegende es noch öffnete, dann aber zu Boden fiel und verstarb, noch bevor die Frischluft das Gift verdrängte. Wahrscheinlicher aber ist es, dass ein Unbekannter später in den Keller kam und das Fenster öffnete. Vielleicht wollte er damit auch Spuren verwischen. Wer war der Unbekannte? Wir schließen dafür Robert S. nicht aus. Dieser Punkt macht die Suche nach ihm umso dringlicher. Die Fahndung ist eingeleitet.«
Wie zu erwarten, waren zur Pressekonferenz im Polizeipräsidium gegen Mittag desselben Tages viele Journalisten erschienen, darunter auch Sophia, die sich widerstrebend in Jacks Auftrag ergeben hatte, alles über Robert Schönherr herauszufinden. Intern hatte es in der Pressestelle der Polizei schon am Morgen einen Disput gegeben, weil das Wort vom »vermuteten Sektenselbstmord« in eine erste Pressenotiz gelangt war. Aus der Polizeidirektion war dann im Lauf des Vormittags die Anweisung gekommen, diese dramatisierte Darstellung des Falles sei strikt zu vermeiden. Einmal jedoch bereits publik geworden, getwittert, gemeldet, verlinkt, hatte sie nun zahlreiche Medienvertreter auf den Plan gerufen. Ihnen gegenüber saßen der Pressesprecher der Polizei, der das Wort führte, ein Vertreter der Stadt und Kommissar Landolf, aus dessen Miene seine Verachtung für Veranstaltungen dieser Art allzu deutlich sprach.
»Können Sie Gewaltanwendung ausschließen?«, so wurde Landolf gefragt, doch geschäftig gab der Pressesprecher für ihn die Antwort: »Wir haben keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens von außen, eines Kampfes oder sonstiger auf die Schädigung der fünf betroffenen Personen abzielender Handlungen feststellen können.«
»Demnach bleibt nur ein Unglück oder Selbstmord. Welche von beiden Möglichkeiten halten Sie für wahrscheinlicher?«
»Sie werden verstehen, dass wir bei der derzeitigen Indizienlage darüber noch keine definitiven Aussagen machen können.«
»Das heißt, Sie halten einen Selbstmord der Sekte weder für unwahrscheinlich noch für ausgeschlossen?« Die Fragen prasselten nur so auf die vorne Sitzenden ein.
»Dafür gilt die eben getroffene Aussage. Die Ermittlungen werden gewissenhaft unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Landolf durchgeführt, und wir sind zuversichtlich, dass auch die letzten Unklarheiten in dieser Sache beseitigt werden können.«
»Ist diese Sekte von der katholischen Kirche anerkannt?« Der Nachrichtenwert des Ereignisses wurde ausgelotet, das war nicht zu überhören.
»Der Bischof hat sich von ihr distanziert. Näheres entnehmen Sie bitte der Erklärung, die die Pressestelle des Bistums heute Nachmittag herausgeben wird.«
»Dass junge Männer in der Kirche einschlafen, kann ich ja noch verstehen. Aber eine Trance? Woraus schließen Sie das?« Sophia fuhr zusammen. Die Trance? Wieso interessierte sich ein Kollege für dieses Detail aus dem Kurzvortrag des Pressesprechers? Etwa, weil er bereits etwas wusste von der Verklärung auf den fünf Gesichtern? Vorne ergriff nun endlich Kommissar Landolf das Wort: »Ich habe schon viele gewaltsam ums Leben Gekommene gesehen. Glauben Sie doch nicht, ihnen allen müsse der Abschied aus diesem bisschen Leben schwerfallen. Aber das mit der Trance, das ist Unsinn. Das hat irgendein Besserwisser erfunden, der offenbar noch nie persönlich einen Toten vor Augen gehabt hat.«
Ein Journalist wollte sich wichtigtun und warf ein: »Ausgehend von Japan und Südkorea gibt es inzwischen überall Chatrooms, in denen sich Lebensmüde zum gemeinsamen Abschied aus dem Dasein verabreden können. Da ist übrigens auch Kohlenmonoxid beliebt, ein Renner ist die qualmende Holzkohle im Barbecue, den man mitten ins Wohnzimmer stellt. Wirkt schmerzlos und ist todsicher.« Die Kollegen lachten. Ein bisschen Angeberei gehörte bei diesen Pressekonferenzen einfach dazu. »Wenn die fünf Toten einander wildfremd waren, könnten sie sich auf ähnliche Weise unter der Anleitung dieses Robert S. zum letalen Ausstieg zusammengefunden haben?«
»Nein, nein, nein! Ich wiederhole noch einmal, für solche Phantastereien besteht nicht der geringste Anlass.« Landolfs Stimme kam tief aus dem Keller und erhob sich auch nicht, wenn er sich ärgerte.
Sophia saß neben einem Kollegen von einer überregionalen Zeitung und beugte sich seitlich zu ihm: »Was ist mit diesem Guru, Robert Schönherr? Warum wird über ihn nichts Genaueres mitgeteilt?« Nur der Kugelschreiber, den sie unaufhörlich zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, verriet ihre Spannung.
»Die Ermittler sagen, es sei ein Unfall. Da brauchen sie ihn nur als Zeugen, und auch das ist eigentlich gar nicht mehr nötig, denn angeblich wissen sie ja schon die Todesursache und alles. Aber wenn du mich fragst, spielen sie seine Rolle nur herunter, um ihn ungestört jagen zu können. Ich wette, das Tamtam mit dem Sektenselbstmord macht ihnen noch einen Strich durch die Rechnung. Da will doch keiner mehr an Unfall glauben. Nur schade, dass es alles Männer waren. Da fehlt mir das Prickeln.«
»Vielleicht waren diese Frömmler ja auch allesamt schwul«, warf Sophia ein, während sie wie beiläufig ein paar Notizen machte und dann ihre Blicke durch das Fenster wandern ließ. Obwohl die Pressekonferenz im ersten Stock stattfand, hüllte der mächtige Bau der benachbarten Michaelskirche den Raum ins Halbdunkel. Nur Mauerwerk, wohin man auch blickte. Es war zum Verzweifeln.
Etwas überrascht von Sophias Zurückweisung seiner doch bloß lockeren Bemerkung, versuchte ihr Sitznachbar einen kleinlauten Rückzieher: »Robert Schönherr? Du hast recht, da ist was faul dran. Angeblich fand man in seinem Zimmer nichts, was auf eine Abreise schließen ließ. Und doch ist er scheinbar getürmt. Warum sollte so einer seine Jünger in den Tod treiben? Selbstmord oder Unfall oder eben … ?«
»Wer waren seine Jünger?« Sophia hatte genug von seinen Schwafeleien. Vielleicht besaß er ja wenigstens ein paar handfeste Informationen. Die könnte sie immer noch aus ihm herauslocken.
»Habe ich alles«, trumpfte der Reporter auf, eifrig bemüht, seine selbstbewusste Kollegin an seinem gut recherchierten Eigentum teilhaben zu lassen. »Die sind allesamt Versager, wie sie im Buche stehen. Sind nicht mit dem Leben zurechtgekommen, das konnte man sich ja auch schon so denken. Aussteiger, die nichts zu verlieren hatten, eine leichte Beute für jede Sekte. Das liegt doch auf der Hand. Aber eigentlich weiß man absolut nichts von ihrem Vorleben. Völliges Schweigen über das, was früher war, das war so etwas wie ihr heiliges Prinzip.«
»Weiß ich, weiß ich längst«, spielte Sophia seine Kenntnisse herunter. »Aber dieser Robert Schönherr? Er muss irgendetwas an sich haben, was die Menschen …« Sie brach ihre Beschreibung sofort wieder ab. Nein, von den Fotos und ihrem Eindruck sollte noch niemand etwas erfahren. Es war schon problematisch genug, dass der da offensichtlich mindestens ebenso gut über diese Sekte Bescheid wusste wie Jack.
»Na ja, was wird das schon sein? Einige Gramm Opium genügen für fünf Leute, die es im Leben nicht weit gebracht haben.«
Um Sophia zu imponieren, erhob der Kollege sich und stellte öffentlich eine Frage, nein, er begann, eine Geschichte zu konstruieren, an die er vor fünf Minuten nicht einmal selbst geglaubt hätte: »Herr Landolf, ich werde Ihnen nun eine Version des Hergangs vortragen. Wenn Sie können, legen Sie mir schlüssige Gegenbeweise vor. Folgendes: Feststeht, da war ein Guru, Robert S. Ohne ihn wären seine fünf Anhänger nie zusammengekommen und wären auch nie religiöse Fanatiker geworden. Und sie wären noch am Leben! Das aber ist nur noch ihr Guru, und der ist auf und davon. Mit ihrem Geld vielleicht? Mit ihrem erzwungenen Schweigen? Vielleicht hatte er die Vertuschung von Vorfällen bitter nötig. Wir befinden uns ja im Kloster einer Kirche, die im Vertuschen bekanntlich Weltmeister ist. Bedenken Sie, da sind lauter junge Männer, streng katholisch keusch. Und wo sind die Frauen? Die zwei steinalten Nonnen? Ich bitte Sie! Oder war es vielmehr so: Frauen brauchten sie nicht, aber … aber dafür hatte Robert S. ja seine strammen Männer, ihm religiös unbedingt ergeben. Bis dann einer von ihnen Zweifel an ihrem Tun bekam. Da half nur noch … Wie nannten Sie es? Eine Art Trance! Niedliche Umschreibung, beinahe selbst schon Beteiligung an der Vertuschung. Der Guru also steht vorne, an erhöhter Stelle, und lässt die Jünger in die Knie sinken. Dorthin, wo am Boden schon die Schicht Kohlenmonoxid schwebt, die alle Probleme wunderbar sanft löst.«
Sophia wandte sich von diesem Angeber ab. Seine Version war doch nichts als ein Strohfeuer. Ein paar heißgelaufene Nichtigkeiten, mehr erwartete er nicht von der ganzen Geschichte. Bei solchen Kollegen könnte sie vielleicht die eine oder andere Information über Robert erhalten, aber ihn verstehen musste sie selbst, sie alleine. Verstehen und keine billigen Vermutungen anstellen, noch viel weniger ihn unter einem Berg von Klischees begraben. In diesem Moment war sie wie eine Taucherin, die unter der Wasseroberfläche auch das vertraute Ringsherum hinter sich lässt, lassen muss. Verstehen muss man wollen. Jack hatte von einem Geheimnis gesprochen. Ob er wusste, was er damit sagte? Ja, es traf zu, dieser Robert Schönherr hatte ein Geheimnis, es hatte diese Gesichter berührt, und sie wollte es verstehen. Sophia war Journalistin geworden, weil sie voll Neugier war und täglich das Fremde suchte. Sie kommunizierte gerne, konnte zuhören und andere wunderbar unterhalten. Sie war in der Lage, von einem usbekischen Tierarzt oder von der Kairoer Börse so zu schreiben, dass jeder, der nur zehn Zeilen zu lesen begann, auch den Rest verschlingen musste. Manchmal verkroch sie sich einen ganzen Tag lang hinter einem enormen Soziologie- Schinken und ging dann abends noch auf eine Party, um sich die Seele aus dem Leib zu tanzen. Ein anderes Mal konnte sie auf einen Schlag alles stehen und liegen lassen, um von ihrem kräftigen Körper zwei Stunden Joggen auf der großen Isarrunde zu verlangen. Sophia lebte ein erfülltes Leben, selbstbestimmt und tolerant, und sie machte Menschen nicht zu Göttern. »Let it be« war ihre Devise. Alles erfahren und nichts verurteilen. Leicht bleiben und sich zwischen allem in der Schwebe halten. Doch jetzt auf einmal hatte ihre Lebensphilosophie einen Riss erhalten. Nur ein Haarriss, aber nicht mehr zu ignorieren. Denn was sie auf Jens’ Bildern gesehen hatte, war wirklich und keine Trance, kein Opiumrausch. Wenn es aber wirklich war, dann war es nicht beliebig. Es stellte Fragen, denen man nicht ausweichen konnte. Wie lebt einer, der den Seinen ein solches Sterben geben konnte? Was war er für einer? Was wollte er? Das geöffnete Fenster!, durchfuhr es sie. Bei diesem Gedanken ging ihr mit einem Mal auf: Ja, es traf sicher zu, was die Polizei vermutete, jemand war noch einmal in den Keller gekommen. Dieser Jemand war Robert. Er musste in der Nacht oder am Morgen noch einmal zurückgekehrt sein. Dabei hatte er die Fünf gesehen. Ihre seligen Gesichter. Sophia hatte hier nichts mehr verloren, stand auf und verließ den Raum. Einige Blicke folgten ihr.
»Sie heißen?« Kommissar Landolfs letzte Berührung mit der Kirche lag schon Jahre zurück. Seiner Meinung nach hätten Pfarrer gerade genug damit zu tun, bei einem Unglück die Angehörigen zu beruhigen. Alle weiteren Ansprüche kamen ihm wie die Abschweifungen eines Tatverdächtigen vor, und nichtssagende Verhöre gehörten für ihn nun einmal zu dem nicht wenigen, was ihm seine Tätigkeit als Ermittler seit Jahren verleidet hatte. Auf der anderen Seite eines Klausurgitters stand ihm nun eine der beiden einzigen Schwestern des Unglücksklosters gegenüber. Ihr ledriges, straffes Gesicht hätte denjenigen eine Warnung sein müssen, die bei der Klosterauflösung auf die biologische Lösung gesetzt hatten. Erstmals seit langem regte sich in Landolf ein Anflug von Neugier. Er war ins Sprechzimmer bestellt worden. Dann war die Schwester eingetreten und hatte sich neben einen Hocker ohne Lehne gestellt. Sie hatte ein Kreuz über sich geschlagen, sich aber nicht niedergelassen. Selbst im Stehen überragte sie den Kommissar kaum, der doch sitzen geblieben war. Für den Bruchteil einer Sekunde warf sie einen Blick auf ihn, aber nicht flüchtig, sondern so durchdringend, als ob er nichts vor ihr hätte verbergen können. Wie hatte sie es nur gelernt, in einem Augenblick ihr Gegenüber so umfassend zu ermessen? Graugrüne Augen in knochigen Höhlen sammelten ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Besucher, und ungehindert glitt ihre Wahrnehmung in sein Inneres, als läge es offen vor ihren Augen. Landolf empfand diesen Blick keineswegs als aufdringlich. Im Gegenteil, er kannte das: die Augen einfach nicht wie die anderen vor etwas verschließen zu können. Beinahe fühlte er Sympathie. Die Schwester schwieg und schaute nur. Kaum merklich drückte sich ihre Oberlippe auf die Zähne. Schließlich öffnete sich ihr Mund zu einem Lächeln. Mehr nicht. Weiterhin schwieg sie. Nur ihre Augen senkte sie zu Boden.
Geräuschvoll lehnte er sich zurück, versuchte auch seinerseits, mit ostentativem Kriminalistenblick alles an ihr zu erfassen und auf diese Weise die im Schweigen verlorengegangene Oberherrschaft zurückzugewinnen. Reden würde sie ja doch noch, gewiss, sie würde reden, monoton, beherrscht und fromm. So zumindest stellte er sich eine Klosterschwester vor. Am Ende aber würde sie reden wie alle, die er vernommen hatte. Ihre Aussagen würden sich wie ein Mäander ausbreiten, würden immer breiter werden, um am Ende nur um die eine Beteuerung zu kreisen: »Was wollen Sie denn von mir? Es ist doch alles in Ordnung.«
»Sie heißen?« Schwester Josepha hieß sie, das wusste er längst, doch routinemäßig eröffnete er jedes Gespräch mit der Frage nach dem Namen. Er war auf ihre Stimme gespannt. Aus Kindertagen klang ihm noch die einer Gemeindeschwester im Ohr. Deren Ton hatte nie die Beherrschung verloren, alle aber hatten sich vielleicht gerade aus diesem Grund vor ihr geduckt. Dergleichen erwartete er auch jetzt. Schwester Josepha schwieg weiter. Landolf ließ ihr noch Zeit und musterte ihre Erscheinung, nicht durch ihren Blick behindert. Ein weiter schwarzer Schleier fiel ihr über den Rücken, Gesicht und Brust schloss ein weißes Leinen ein, das Ordensgewand selbst war braun und aus grobem Stoff. Ein breiter schwarzer Gürtel umschloss es an der Hüfte, darüber noch der ebenfalls braune, von den Schultern herabfallende Streifen des Skapuliers, der der geraden, gesammelten Haltung eine große Würde verlieh. Seitlich fiel ein Rosenkranz vom Gürtel herab. Das Ordensgewand machte es schwer, ihr Alter zu schätzen. Die Wand des Sprechzimmers war mit grobem Mörtel verputzt. In der Mitte hing das Kreuz und rechts davon das Ölbild einer Nonne im gleichen Gewand wie Schwester Josepha, neben ihren Lippen eine lateinische Inschrift: »Aut pati aut mori.« Wirkte all das auf den kirchenfernen Kommissar schon sonderlich, so doch am meisten das doppelreihige Gitter, das den Raum durchschnitt. Die leben ja wie Gefangene, kam es ihm. Aber nein, die Schwester verhielt sich völlig anders als auf die Weise, die er an vielen Untersuchungshäftlingen wahrgenommen hatte: Sie ließ sich durch Gunst oder Ungunst des Besuchers nicht im Mindesten bestechen.
Noch immer schwieg Schwester Josepha. Landolf wurde zusehends unduldsam. Wenn seine Zeugen redeten, dann hatte er sie im Griff, und sie redeten sich um Kopf und Kragen. Die Schwester aber sagte kein einziges Wort. »Himmel noch mal, so sagen Sie doch endlich was! Irgendwas, egal, das Vaterunser!« Sie rührte sich nicht. Die Neugier hatte Landolf schon wieder verlassen. Frauenseelen blieben ihm fremd, das hatte er in der Abendstunde jenes sechzehnten März begriffen, als seine Frau ihm nach dreiundzwanzig Ehejahren nicht mehr als einen Zettel hinterlassen hatte: »Ich bin weg. Es geht nicht mehr. Frag nicht!« Der ganze Fall hier im Kloster war schon nicht mehr der seine, noch bevor er richtig begonnen hatte. Er würde weiter ermitteln, das war seine Pflicht, und diese vier verbleibenden Jahre bis zu seinem Ruhestand zu erfüllen, hatte er sich anbefohlen. Die ganze Welt der Frömmigkeit verstand er nicht, und sie interessierte ihn auch nicht. Was den Fall selbst anging, so hielt er Mord für ausgeschlossen, und alles andere lief für ihn ohnehin auf das Gleiche hinaus. Leute, die nicht genug praktischen Sinn hatten, einen Ölofen vor Inbetriebnahme genau zu inspizieren, waren für ihn nicht weniger Spinner als solche, die ihre Himmelsideen so lange verdrehten, bis sie freiwillig Kohlenmonoxid einatmeten.
Überhaupt, bei den allermeisten der Gewaltverbrechen, bei denen er je zu ermitteln gehabt hatte, waren Leute im Spiel, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen hatten. Wurden sie Täter, wurden sie Opfer? Darüber entschied manchmal bloß der Zufall, der banale Zufall, nichts weiter. Eine Dreiundfünzigjährige hatte an einem Nachmittag dreimal versucht, ihre beste Freundin zu erreichen. Aber diese saß in der Praxis ihres Tierarztes fest. Ihr Hund hatte sich an einer Glasscherbe eine Blutvergiftung zugezogen. Nach dem dritten Anrufversuch ging die Frau in einen Supermarkt, kaufte ein Fleischermesser und erstach ihren Mann, der, von einer Grippe geschwächt, im Bett lag. Bei seinen Untersuchungen war Landolf dann auf einen unerklärbaren Einparkunfall des Opfers wenige Tage zuvor gestoßen. Seine Frau war bereits aus dem Wagen ausgestiegen, da gab er Gas und krachte rückwärts gegen die Garagenwand. Er musste doch davon ausgegangen sein, dass sie sich noch in der Garage befand. Vorsatz oder fahrlässige Tötung? Im Prozess schwieg die Frau zu diesem Vorkommnis beharrlich und wollte in diesem Augenblick bereits ins Haus gegangen sein. Schwieg sie vielleicht sogar aus Liebe? Gab es so etwas?
»Schwester Josepha, ich bin hier, weil in Ihrem Kloster fünf Menschen umgekommen sind. Bedenken Sie: Fünf Menschenseelen, die gestern noch unter uns weilten, sind heimgerufen worden, wie Sie es vielleicht ausdrücken würden! Das dürfte mir doch wohl das Recht zu ein paar ganz einfachen Fragen geben, oder? Was haben Sie letzte Nacht mitbekommen? Wer hat diesen Ölofen nach Jahren erstmals in Betrieb genommen? Wo ist der Chef der ganzen Sekte? Hat er seine Leute den Selbstmord gelehrt?« Landolf sah die Schwester erwartungsvoll an, die aber machte immer noch keine Anstalten, zu antworten. »Ganz einfache Fragen, wie gesagt. Da gibt es nichts vorher zu meditieren, sich zu versenken und nicht mehr aufzutauchen. Nichts als antworten, ohne lange nachzudenken, nichts als die Fakten, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Von Ihrer ganzen Frömmigkeit weiß ich nichts, und wenn sie Ihnen etwas bringt, finde ich sie sogar gut. Aber meine Fragen, bitte!«
Er hatte den letzten Satz kaum beendet, da tat die Schwester etwas Unvorhersehbares. Immer noch wortlos trat sie dicht an das Klausurgitter, streckte Landolf darin ihren rechten Arm weit entgegen und blickte ihn ein zweites Mal an, nun aber ohne die Augen sofort wieder zu senken und mit der stummen Aufforderung, näherzutreten. Die Falten im ledrigen Gesicht zogen sich in die Breite und gaben ihm dadurch etwas freundlich Verschmitztes, so als wollte sie ihn zum Lachen darüber bringen, dass er die Welt noch ernst nehmen musste, anders als sie. Fühlte er sich vorhin bei ihrem Eintreten durch und durch erkannt, so begegnete ihm, dem alten Raunzer, nun darin eine solche Anteilnahme, ja ein Vertrauen, dass er wusste, er hätte hier nur zu fragen brauchen, und dieses armselige, aussterbende Kloster hätte ihm ein Zimmer gegeben, umstandslos und ohne Fristen. Ohne zu verstehen, ohne es eigentlich zu wollen, machte er einen Schritt nach vorne und streckte seinerseits die Rechte tief in das Gitter unter ihre Hand. Wie von selbst wechselte ein kleiner Zettel in seine Finger. Sie musste ihn also die ganze Zeit bei sich getragen haben. Er zog den Arm zurück und las ihre sorgfältig geschriebenen Zeilen: »Ich habe mich vor Gott mit einem besonderen Gelübde zu ewigem Schweigen verpflichtet. Nur unsere ehrwürdige Mutter könnte mich von diesem Gelübde entbinden. Doch infolge der schrecklichen Ereignisse hat sie einen Schock erlitten und befindet sich, wie Sie wissen, im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Bitte, haben Sie Verständnis! Ich werde für den Erfolg Ihrer Arbeit beten.«
»Aber aufschreiben können Sie mir doch, was sie gesehen haben?«, witterte Landolf seine Chance. Die Schwester überlegte und schüttelte dann den Kopf. Ein zweiter Zettel wechselte in seine Hand: »Leider nur mit Erlaubnis der Mutter Oberin. Es tut mir schrecklich leid.« Landolf musste diese Mitteilung drei Mal lesen, bis er verstand, dass hier augenblicklich nichts zu machen war. »Dann können wir uns erst unterhalten, wenn die andere ihren Schock überwunden hat?« Schwester Josepha nickte, dann verneigte sie sich freundlich, bekreuzigte sich und verschwand.