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Coronado

„Eigentlich“, sinnierte Heinrich, „sollte ich glücklich sein, eigentlich.“ Die Kühle der Nacht wehte durch das offene Fenster, draußen dämmerte ein klarer Tag herauf. Die Luft noch still, nicht erfüllt vom Lärm des Tages und den Abgasen der endlosen Autoschlangen, die sich jedes Wochenende über die Coronado Brücke an den Silver Strand schoben. Von der Bay klang gedämpft das Heulen einer Schiffssirene herüber. Auf der Straße vor dem Haus klirrten die Flaschen des Milchmannes, der wie jeden Morgen, auch samstags, seine Kunden belieferte.

„In einer halben Stunde radelt der Zeitungsjunge vorbei“, dachte Heinrich. Er lag entspannt auf dem Rücken; die Augen halb offen blinzelte er zur Decke, wo der Ventilator müde herumhing, bevor er gegen Mittag, wenn die Hitze wie heißer Atem durch die Stadt fuhr, mit seiner Arbeit beginnen würde. Neben ihm, von einem dünnen Laken kaum verhüllt, zeichneten sich die Konturen seiner Frau ab. Sie wirkte jung, zart, und zerbrechlich. Ihre schwarzen Haare kringelten sich auf dem Kopfkissen. Einen Arm unter das Kissen geschoben, ruhte sie halb auf der Seite und schlief. Sie atmete leicht und gleichmäßig, wirkte ein wenig erschöpft von den Anstrengungen der Nacht. Erste fahle Lichtstrahlen tasteten sich durch das Schlafzimmer, schemenhaft schwammen die Möbel im Halbdunkel. Er wagte nicht sich zu rühren, auf keinen Fall wollte er sie wecken. Sein Blick schweifte ziellos durch den Raum, blieb am achtlos über den Stuhl geworfenen Kleid, ihrer Unterwäsche hängen.

Sie bewohnten ein schönes, geräumiges Haus mit einem großen Garten, hatten gute Jobs, in der Garage parkten zwei Wagen und sie konnten es sich leisten, die Straße hinunter zu bummeln, um bei ihrem Lieblingsmexikaner zu essen, wann immer sie Lust dazu hatten. Scharfe Tortillas, oder mit Fleisch gefüllte Tamales. Eine sanfte Meeresbrise bauschte die Vorhänge und schüttete einen Hauch kühle Luft ins Schlafzimmer. Heinrich fröstelte um die Schultern und er zog sein Laken höher. Die leichte Bewegung genügte, Cielo wach zu machen. Sie öffnete die Augen einen Spalt, forschte in seinem Gesicht, schob ihre kleine Hand unter sein Laken und suchte die seine.

„Kannst du nicht schlafen?“ Er nickte. Sie sahen sich unverwandt an, zu ermattet um zu reden. Ein wohliges Gähnen huschte über ihr Gesicht. Dankbar spürte er der Nähe zwischen sich und seiner Frau nach, genoss die stille Zärtlichkeit des erwachenden Morgens. Er räkelte sich ein wenig im Glück wortlosen Vertrauens.

„Komm“, flüsterte sie und hob ihr Laken leicht an. Er schlüpfte zu ihr. Sie schmiegten sich träge aneinander und er fühlte ihre schlaftrunkene Wärme auf seiner Haut.

„Es ist schön mit dir“, lächelte er. Er küsste zärtlich ihre Lider, strich über ihr schwarzes Haar, folgte der Wölbung ihres Nackens, ihres Rückens. Sie ließ es geschehen, lag da, matt und schnurrend wie eine Katze in der Morgensonne. Er liebkoste ihren Po, ihre Oberschenkel. Ein leichter Schauer huschte über ihren Körper.

„Schon wieder“, wisperte sie und zog belustigt die Augenbrauen hoch. Statt zu antworten küsste er ihren Mund, fuhr mit der Zunge zwischen ihre Zähne. Er liebte es morgens mit ihr zu schlafen. Es fühlte sich anders an als nachts, sanfter, zärtlicher. Kein wilder Trieb drängte sie zueinander, kein lustvolles Ringen, keine verzehrende Leidenschaft. Es glich eher – er suchte nach einem Vergleich – es glich den sanften Wellen des Meeres, die über seinen Körper plätscherten, wenn er am Strand in der Sonne lag. Sie kamen und gingen, streichelten die Haut, umspülten alles bis tief ins Herz hinein. Der Leib gab sich dem Rieseln des Sandes hin, den Strahlen der Sonne. Kein Gedanke mehr an die Arbeit, an den ständigen Ärger mit seinen Auftraggebern. Sich lautlos treiben lassen, eins werden mit dem Meer, der Sonne, dem Sand und ihr. Er tauchte ein in ihre Weichheit, ihre Wärme, ihre Liebe. Tiefe Freude durchflutete ihn, er hätte laut jauchzen können, so glücklich kam er sich vor.

„Ist es gut?“, hauchte sie. Sie roch seine Haare, die immer eine Spur nach Meer dufteten und schmeckte seine leicht salzige Haut.

„Ich liebe dich, ich liebe dich, mehr als alles auf der Welt.“

Sie streichelte ihm das Gesicht und er wurde gewahr wie eine Träne aus ihrem Augenwinkel über die Schläfe in das schwarze Haar rann. Behutsam, ohne sich von ihr zu lösen, küsste er sie weg.

„Es wird schon“, raunte er ihr tröstend zu. „Wir haben so viel Zeit.“

Sie wusste, er hatte recht – und doch. Eine bange Ahnung zog wie ein grauer hässlicher Schatten durch ihr Herz.

„Denk nicht daran, nicht jetzt.“

Sie schloss die Augen, so konnte er ihre Tränen nicht sehen. Und doch waren sie da. Er liebte sie ganz sanft, voller Inbrunst, als glitten sie, ineinander verschlungen durch das stille Wasser eines Sees, im gleichen Rhythmus, im gleichen Atem. Fast unmerklich kam es ihm und er genoss es anders, inniger, zärtlicher als im Dunkel der Nacht. Lange hielten sie sich im Arm, lagen eng aneinander geschmiegt, als müssten sie sich wärmen.

„Das war schön“, hauchte sie ihm ins Ohr, „lass uns noch ein wenig schlafen.“

Behutsam löste er sich von ihr, wickelte sich in sein Laken und schlief gleich einem Kind sofort ein. Cielo regte sich nicht. Lautlos liefen die Tränen über ihr Gesicht, tropften auf das Kopfkissen, bildeten einen feuchten Fleck. Sie wollte das nicht, wusste nicht einmal zu sagen, warum ihr gerade jetzt die Tränen kamen. Allein sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sie spürte den Kloß in ihrer Kehle, versuchte ihn hinunter zu schlucken, vergeblich.

„Ich bin doch glücklich, ich habe den liebsten Mann der Welt“, sprach sie sich in Gedanken Mut zu. Möglicherweise hatte er recht, vielleicht müssten sie sich nur gedulden; sie war noch jung, knappe 32 Jahre. Woher also kam diese dunkle Ahnung, die sie von Zeit zu Zeit heimsuchte? Sie bemühte sich, die trüben Gedanken zu verscheuchen, versuchte an etwas Schönes, Heiteres zu denken. Die ersten Sonnenstrahlen hüpften ins Schlafzimmer, malten lustige Kringel an die Decke, sprangen auf ihr rotes Kleid, ließen die Farben für einen Augenblick hell aufblitzen. Dann fielen ihr die Augen zu und sie sank in einen unruhigen Schlaf.

Sie erwachten spät, duschten endlos miteinander und frühstückten auf der Veranda. Der Wind schaukelte die Zweige der mächtigen kalifornischen Eiche, die einen Teil des Gartens in bläulichen Schatten tauchte. Im Laufe der Jahre stetig gewachsen überragte der Baum das Haus und er hätte schon längst gefällt gehört. Doch Heinrich brachte es nicht über das Herz, den alten Baum abholzen zu lassen. Zu viele Erinnerungen verband er mit dem knorrigen alten Gesellen.

Sprach ihn Cielo darauf an, antwortete er: „Solange ihn der Sturm nicht umreißt, mag er stehen bleiben. Sonne haben wir hier überall, aber Schatten, Schatten ist etwas Kostbares in Kalifornien.“ Schwarzer mexikanischer Kaffee dampfte in bunten Bechern, dazu aßen sie Tortillas, die Cielo gestern gebacken hatte. Für den Teig verwendete sie selbst angebauten Mais, den sie in einer sonnigen Ecke des Gartens mit Hingabe züchtete.

„Der eigene Mais schmeckt tausendmal besser als das gekaufte Zeug. Wer weiß, was da alles drin ist“, behauptete sie steif und fest, ließ sich auch durch die spöttischen Bemerkungen Heinrichs nicht davon abhalten. Gutmütig ließ er sie gewähren. Cielo stammte aus Oaxaca und diese Provinz ist die Maiskammer Mexikos. Die Liebe zum Maisanbau war ihr in die Wiege gelegt. Am Rande hatte er über Cielos Vater mitbekommen, dass in der Schatzkammer mexikanischer Maissaaten von merkwürdigen Vorgängen um den Mais gemunkelt wurden. Doch er interessierte sich nicht wirklich dafür. Mexiko war weit und sie lebten in Kalifornien. Sollte Cielo ihren kleinen Spleen haben. Insgeheim musste er ihr sogar recht geben. Die Tortillas mit ihrer Füllung aus kaltem Hähnchenfleisch und Tomaten schmeckten köstlich. Er musterte Cielo verstohlen von der Seite. Ihren schlanken Körper im luftigen Sommerkleid, das gebräunte, feingeschnittene Gesicht mit den vollen Lippen und den kräftigen Wangenknochen, die dunklen Augen, die unter den langen Wimpern hervor blitzten. All das liebte er an seiner betörend schönen Frau und manchmal konnte er sein Glück kaum fassen, sie zur Partnerin zu haben. Fünf Jahre waren sie verheiratet. Er erinnerte sich mit Vergnügen an die ausgelassene Hochzeitsfeier, die sie im Heimatdorf seiner Frau gefeiert hatten. Ganz Jamiltepec war auf den Beinen. Es wurde gegessen, getrunken, getanzt und wieder gegessen. Mitten im Festgewühl Padre Pio, der sich als über die Maßen trinkfest erwies.

„Behandle meine Cielo gut“, dröhnte der Kirchenmann zu später Stunde, „sonst soll dich der Teufel holen, Gringo, und dass ihr mir viele, nette Kinderchen macht.“

Unwillkürlich musste Heinrich lächeln, so greifbar stand das Bild vor ihm. Sie rückte ihren Stuhl an seine Seite, streichelte Heinrichs gebräunten Arm und sah ihn fragend an.

„Ich musste an Padre Pio denken“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. Sie lächelte, dann huschte ein Schatten über ihr Gesicht.

„Und“, wollte er wissen, „hätte ich das nicht erwähnen dürfen?“

Sie schüttelte tapfer den Kopf und er nahm wahr, wie sie schluckte.

„Es wird schon klappen, irgendwann“, munterte er sie auf.

„Sicher“, doch in ihrer Stimme schwangen unüberhörbare Zweifel mit.

Er merkte, es wäre besser das Thema zu wechseln.

„Was wollen wir heute unternehmen?“, fragte er betont fröhlich. Sie blickte ihn erleichtert an.

„Ich muss einkaufen, aber das geht schnell, dann könnten wir zum Strand gehen. Es wird ein heißer Tag. Ich würde gerne ein wenig schwimmen, du kannst windsurfen.“ Sie wusste, er liebte Windsurfen über alles und es war eine Freude ihm zuzusehen wenn er sportlich auf seinem Brett durch die Wellen kurvte, verfolgt von den bewundernden Blicken vieler Frauen. Cielo genoss es, wenn andere Frauen ihrem Mann nachschauten, es machte sie stolz und führte ihr vor Augen, wie viel Glück sie bei der Wahl ihres Mannes bewiesen hatte.

„Prima“, pflichtete er ihr bei, „dann kann ich gleich mein neues Board ausprobieren.“ Er küsste sie stürmisch auf den weichen Mund. Sie verstand es, ihm die Wünsche von den Augen abzulesen.

„Aber vorher gehen wir einkaufen.“

Er half ihr das Geschirr abzuräumen, stapelte alles ordentlich in die Spülmaschine. Er nannte es Spülmaschinen-Tetris. Dann fuhren sie mit dem Pickup zum Supermarkt. Dort herrschte wie jeden Samstag dichtes Gedränge. Mütter schoben ihre Einkaufswagen durch die engen Gassen, vorbei an den überquellenden Regalen, schimpften ihre Kinder, die quengelnd die Ständer mit den Süßigkeiten umlagerten. Zwei Jungen stritten lautstark um ein Mickey-Maus-Heft. Dazwischen quäkte die Ansage des Marktleiters, informierte über die heutigen Sonderangebote.

„Nichts wie raus hier“, raunte Heinrich. „Hast du alles?“

„Nur noch ein paar Tomaten und für morgen tiefgefrorene Garnelen, dann bin ich fertig.“

Sie zahlten, schoben ihren Einkaufswagen über den weitläufigen Parkplatz. Neben ihnen stand das Auto einer Frau, die zwei kleine Kinder, offensichtlich Zwillinge, in den Kindersitzen festgeschnallt hatte. Die Mutter verstaute ihre Lebensmittel im Kofferraum und die beiden Mädchen greinten trotzig. Cielo hätte am liebsten mit geweint, so ging ihr das Geschrei zu Herzen. Heinrich belud den Wagen. Wie gebannt stand Cielo vor dem Van mit den beiden Kindern. Sie lächelte ihnen zu, winkte, schnitt eine Grimasse. Die zwei zeigten sich wenig beeindruckt von der fremden Frau, die vor ihnen herum kasperte.

„Süß, nicht?“, sprach sie die Mutter an, die mit dem Verladen der Milchkartons und der übrigen Einkäufe fertig war, nun um das Auto herum gegangen kam und neben Cielo stehen blieb.

„Sehr süß“, seufzte Cielo.

„Schon, aber bisweilen furchtbar nervig. Sie machen alles gemeinsam. Sie wollen zur gleichen Zeit essen, sie weinen gleichzeitig und sie wollen zugleich getröstet werden. Das macht einen fertig“, stellte die Mutter erschöpft fest. Manchmal wünschte ich mir sechs Arme zu haben, wie diese indische Gottheit.“

„Trotzdem schön“, mutmaßte Cielo, „wie heißen sie denn?“

„Wir haben sie Scarlett und Britney getauft. Mein Mann hat ein Faible für Filmstars, besonders für die jungen blonden“, lächelte die Mutter schwach.

„Darf ich sie mal halten?“, bat Cielo und ihre Stimme zitterte ein wenig. Die Frau lachte überlaut.

„Warum nicht, vielleicht beruhigt sie das.“

Sie befreite die Zwillinge aus ihren Gurten und drückte Cielo in jeden Arm eines der schreienden und zappelnden Bündel.

„Ganz schön schwer, nicht?“, grinste sie. Allein das Gewicht spürte Cielo nicht. Sie fühlte die kleinen, weichen und scheinbar so zerbrechlichen Körper, die an ihren Busen drückten. Ein kaum vernehmlicher Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Sie nahm eine innere Erregung wahr, ähnlich dem Zustand heute Morgen, als Heinrich bei ihr lag. Die Zwillinge starrten sie erstaunt mit ihren großen braunen Kulleraugen an. Was war jetzt das? Sie verzogen die Gesichter, wollten entrüstet anfangen zu schreien. Cielo begann sie instinktiv in den Armen zu wiegen und besänftigt ließen es die Mädchen geschehen. Heinrich, der hinzugetreten war, betrachtete die Szene amüsiert.

„Sie wäre eine prachtvolle Mutter“, dachte er bei sich.

„Wirklich goldig die beiden“, meinte seine Frau und ihre Stimme klang dunkler als sonst. Einer der Zwillinge fuhr ihr mit der kleinen Hand ins lose Haar, krallte sich fest und zog kräftig.

„Aua, das tut weh“, rief Cielo erschrocken.

„Lass das, Britney“, fuhr die Mutter das Kind scharf an und erschrocken ließ es los.

„Manchmal muss ich streng mit ihnen sein, sonst tanzen sie mir auf der Nase herum“, versicherte die Mutter.

„Sie sind sich so ähnlich“, wunderte sich Cielo und bemerkte wie ihre Brustwarzen hart wurden.

„Kein Wunder“, freute sich die Frau, „es sind eineiige Zwillinge.“

Die Mutter mochte 5-6 Jahre älter sein als Cielo, sie war modisch gekleidet, nicht so aufdringlich wie die meist eher flippig angezogenen jungen Leute, die täglich die Straßen Coronados bevölkerten. Der Schmuck und das Auto ließen auf einen gewissen Wohlstand schließen. Sie zeigte den typischen Gesichtsausdruck einer gestressten Mutter. Die dunklen Augenringe zeugten vom Schlafmangel und der ständigen Aufmerksamkeit, die sie den quirligen Zweien entgegenbrachte. Kleine Falten hatten sich in ihre Mundwinkel eingegraben, die angespannten Gesichtszüge verrieten die Strapazen, unter denen sie litt. Trotzdem beneidete Cielo sie, mit ihrem süß, schmerzlichen Gesicht schien sie ihr wunderschön, ähnlich der Madonna im Rosenhag auf dem mittelalterlichen farbenprächtigen Bild des Stephan Lochner. Verlegen stand Heinrich daneben, er wusste nicht, sollte er sich einmischen oder einfach ins Auto steigen, als ginge ihn die Geschichte nichts an.

„Möchten Sie auch eines halten?“, fragte die Mutter, die über ihre Kinder ein wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhr.

„Warum nicht“, murmelte Heinrich, der wusste, er konnte Cielo damit eine Freude machen. Vorsichtig, als hätte er ein Stück kostbares Glas in der Hand, nahm er Cielo das kleine Mädchen ab. Doch diesem missfiel der Wechsel. Es fing an herzzerreißend zu schluchzen und dicke Tränen kullerten aus seinen Augen. Erschrocken drückte Heinrich der Mutter das Baby wieder in den Arm.

„Mit Männern haben sie es nicht so“, lachte die Mutter und wiegte ihren kleinen Schatz, bis sich dieser wieder beruhigt hatte.

Heinrich spürte die aufkommende Unruhe der Mutter, die sich die erlittene Pein von der Seele reden wollte.

„Wissen Sie“, erzählte die Mutter, die Vertrauen gefasst zu haben schien, „es war nicht einfach. Eigentlich konnten wir keine Kinder bekommen. Die Samen meines Mannes, er ist schon älter, waren zu langsam. Lange haben wir uns geplagt und was am Anfang Spaß und Freude für uns war, wurde unmerklich zur Last. Ich bekam schon Angst wenn mein Mann zu mir ins Bett kroch, so verkrampft war ich. Das Eheleben wurde zur Qual für uns, denn wir wollten unbedingt Kinder. Mit der Zeit wuchs meine Verzweiflung und zwischen uns kriselte es heftig. Schließlich haben wir es auf Anraten des Arztes mit einer Insemination versucht. Es klappte nicht beim ersten Mal und ich wurde immer mutloser und gereizter. Grundlos beschimpfte ich meinen Mann, überfordert durch das ständige Warten, dieses Wechselbad zwischen Hoffnung und Enttäuschung.“

„Ich wurde depressiv und mein Arzt verordnete mir Psychopharmaka, aber die halfen nicht wirklich. Ohne ein Kind hatte das Leben keinen Sinn mehr für mich. Ich fühlte mich minderwertig, gänzlich nutzlos. Mein Mann hat mir damals sehr geholfen. Schließlich, als wir entmutigt aufgeben wollten, überredete uns mein Frauenarzt zu einem letzten Versuch. Viel Hoffnung hatten wir nicht, nach den vielen gescheiterten Versuchen. Doch vielleicht gerade, weil wir die Hoffnung fast aufgegeben hatten, klappte es.“

Cielo hörte mit wachsender Erregung zu. Das Baby in ihrem Arm hielt sie fest umklammert, als wäre es ihr eigenes.

„Naja“, lächelte die Mutter, „heute sind wir eine glückliche Familie, aber nochmals könnte ich diese Tortur nicht durchstehen.“

Daher die tiefen Falten, die diese schmerzliche Erfahrung in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Daher der leichte Hauch von Traurigkeit, der die Mutter noch immer wie eine Aura des Leids umgab. Erschüttert durch diese Beichte reichte ihr Cielo das Baby zurück.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie zur Mutter gewandt, „es tut mir leid. Ich verstehe Sie.“ Abrupt wandte sie sich ab und schlüpfte rasch in den Pickup. Sie gurtete sich an und in der Geborgenheit des Wagens brach ein Schluchzen aus ihr hervor. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen, ließen sich durch nichts zurückhalten.

„Entschuldigen Sie“, sagte Heinrich leise, „meiner Frau geht es nicht gut.“

Die Mutter stutzte, lächelte verstehend. Sie warf Cielo einen schnellen mitfühlenden Blick zu.

„Viel Glück“, flüsterte sie, „viel Glück.“

Zum Lunch nahmen sie nur eine Kleinigkeit, die sie sich vom Schnellimbiss Pollo Loco mitgebracht hatten. Die Stimmung gedrückt, vermieden sie es sich anzusehen. Cielo hatte sich die Augen ausgewaschen, doch die Spuren der Tränen konnte sie trotz aller Bemühungen nicht verbergen. Schweigend und lustlos nagten sie an ihren scharfen Chicken Wings, die in einer roten, vom Geschmack her undefinierbaren Sauce schwammen. Einige Wespen surrten über die Terrasse und stürzten sich fressgierig auf Fleisch und Sauce. Cielo seufzte abgrundtief. Heinrich litt still mit ihr, er konnte sich jedoch nicht aufraffen, sie in den Arm zu nehmen. Zu sehr fürchtete er einen neuerlichen Gefühlsausbruch, schon der Gedanke ängstigte ihn. Er war sich seiner Hilflosigkeit bewusst.

„Wir wollten doch zum Strand, oder ist dir nicht mehr danach?“, brach er schließlich das Schweigen.

„Ja, lass uns gehen, es hilft nichts hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen. Die Begegnung hat mich mit solcher Wucht getroffen, unvorbereitet: sie war so offen und ihre Lage der unseren so ähnlich.“

„Möchtest du reden?“, fragte Heinrich zaghaft. Sie schüttelte den Kopf, wollte ihren Schmerz nicht zerreden. Heinrich packte das Surfbrett auf den Pickup, die Strandtasche war schnell gepackt, ein paar frische Handtücher, das Badezeug. Alles andere blieb ständig in der Tasche. Cielo wühlte in der Schublade nach ihrer größten Sonnenbrille, um ihre Augen zu verstecken, griff sich ihren breitkrempigen mexikanischen Strohhut. Als der Wagen langsam aus der Ausfahrt rollte, rannte Mary, die Nachbarin, mit den Armen fuchtelnd, aus dem Haus.

„Entschuldigt, aber könntet ihr Manuel mit zum Strand nehmen?“, stieß sie nach Atem ringend hervor. „Ich muss dringend nach Diego und er langweilt sich dabei nur. Sein Vater hat dieses Wochenende Dienst auf der Marinebasis und ich habe niemanden, der auf ihn aufpassen könnte.“

Heinrich schickte einen schnellen fragenden Blick zu seiner Frau hinüber. Cielo nickte.

„Manuel“, rief Mary, „Manuel, beeile dich, du darfst mit den Gerstones an den Strand.“ Manuel, ein quirliger achtjähriger Junge mit einem roten Haarschopf stürmte aus dem Haus, die Badetasche unter dem Arm.

„Danke, dass Sie mich mitnehmen“, grinste er zufrieden, warf seine Tasche auf die Ladefläche des Pickups und schlüpfte in den Wagen. Er fing gleich an zu quatschen, die trübe Stimmung von Heinrich und Cielo schien er nicht zu bemerken.

„Cool, alleine zuhause ist es langweilig und im Fernseher kommen nur die blöden Simpsons, da kenne ich schon alle Folgen."

Er verfiel in die Sprache des Rotzlöffels Bart und das gelang ihm so täuschend echt, dass Cielo lächeln musste. Gemächlich rollte der Wagen den Ocean Boulevard hinunter, am Hotel del Coronado vorbei, in dem sie den Film „Manche mögen es heiß“ gedreht hatten, und weiter auf die Landzunge des Silver Strand State Beach. Sie suchten einen Platz, auf dem nicht ein Handtuch das andere berührte, machten es sich im warmen Sand bequem. Jetzt Ende Mai war die Luft noch nicht so drückend heiß wie im August. Die beiden Männer stürzten sich sofort ins Wasser. Sie planschten, bespritzten sich und schwammen einträchtig ein Stückchen nebeneinander her. Cielo in ihrem knappen schwarzen Bikini beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie lag auf dem Bauch, die Wochenendzeitung vor sich, doch ihre Augen konnten den Zeilen nicht folgen. Mit den Gedanken weilte sie bei der Mutter der Zwillinge. Sie neidete der Frau ihr Glück, schämte sich dabei ein bisschen. Das Rauschen der Wellen und die leichte Brise schläferten sie ein. Sie erwachte von einem kalten Schwall glitzernder Wassertropfen, die auf ihren Rücken fielen. Die beiden Männer machten sich den Spaß, die nassen Haare über ihr auszuschütteln.

„Das ist gemein!“, schrie sie und sprang auf. Sie jagten den Strand hinauf, bis die zwei trocken waren.

„Manuel, du bist noch immer ganz durchgefroren“, rief Cielo fürsorglich.

„Wickle dich in dein Handtuch, bis dir wieder warm ist.“

„Wenn du auf den Jungen aufpasst, würde ich gerne eine halbe Stunde surfen“, lachte Heinrich. Er packte sein Brett und weg war er. Cielo sah ihm nach. Sie liebte es, ihm beim Surfen zuzusehen, wie er geschickt die Wellen schnitt. Sein braungebrannter Körper wiegte sich elegant auf dem schwankenden Brett, das blonde Haar leuchtete in der Sonne. Zärtlichkeit berührte ihr Herz und erneut war ihr zum Weinen zumute.

Es geht uns doch gut, beruhigte sie sich. Manuel hockte neben ihr, zusammengekauert. Er zitterte, trotz des wärmenden Handtuchs.

„Wenn ich groß bin, werde ich ein berühmter Surfer“, verkündete der Junge. „Vielleicht lässt mich Ihr Mann mal auf sein Brett.“ Cielo lachte.

„Dann“, fuhr er eifrig fort, „fliege ich nach Hawaii und nehme an den Wettbewerben teil. Ich verdiene viel Geld und mache eine eigene Surfschule auf.“

Sie schwiegen eine Weile, sahen Heinrich zu, der durch die Wellen kurvte.

„Warum haben Sie eigentlich keine Kinder?“, fragte Manuel in kindlicher Unschuld. Cielo schluckte. Eine Wolke von Traurigkeit wehte über ihr Gesicht.

„Weißt du, es klappt irgendwie nicht.“

„Wieso?“

Cielo zuckte mit den Schultern.

„Sie wären bestimmt eine tolle Mutter, und Ihr Mann ein super Vater.“

„Mal sehen“, meinte Cielo kurz angebunden.

„Magst du einen Keks?“ Der Junge griff zu und für Cielo war das Gespräch beendet. Sie wollte ihren Seelenzustand nicht mit einem kleinen Jungen teilen. Cielo musste sich eingestehen, sie selbst hatte noch keine rechte Klarheit über dieses Thema gewonnen. Bis heute hatten sie und Heinrich nicht wirklich über ein Kind gesprochen und ganz sicher war sie sich auch nicht, ob sie schon Mutter werden wollte. Ihr morgendlicher Gefühlsausbruch überraschte und erschreckte sie. Sie brauchte Zeit, um sich über ihre Empfindungen klar zu werden und zunächst müsste sie mit Heinrich darüber reden. Vielleicht heute Abend. Sie wollte einen Zeitpunkt abwarten, der ihr günstig erschien. Gewiss, sie wurde dreiunddreißig, eigentlich ein gutes Alter um Kinder zu bekommen. Warum klappte es dann nicht? Lag es vielleicht an ihr, oder an Heinrich? Die Ungewissheit belastete sie und sie stellte eine wachsende Unzufriedenheit bei sich fest.

„Kommen Sie, lassen Sie uns Ball spielen“, forderte Manuel sie auf. Sie spielten eine Runde Beach-Volleyball und die schnellen Bewegungen, die Konzentration auf das Spiel verscheuchten ihre trüben Gedanken. Die Sonne neigte sich dem Meer zu, in der Ferne schimmerten bläulich die Berge im Dunst des Abends. Eine kühle Brise wehte vom Meer her, die beiden fröstelten.

„Wir sollten gehen, es wird kalt.“ Sie winkten Heinrich aus dem Wasser, packten ihre Sachen zusammen und fuhren nach Hause.

Sie hatten gut gegessen, Burritos mit scharfer Soße. Heinrich fühlte sich behaglich, er reckte und dehnte sich, wohlige Müdigkeit steckte in seinen Gliedern. Sie saßen auf der Veranda, die laue Nacht ließ es zu, auch wenn er sich einen leichten Pullover übergezogen und sie ein gesticktes Rebozo um die blanken Schultern gelegt hatte. Das Windlicht flackerte auf dem Tisch und die Kerze brachte den Cabernet Sauvignon in den Gläsern rot funkelnd zum Leuchten. Er legte seinen Arm um Cielo und drückte sie leicht an sich. Doch Cielo war mit ihren Gedanken nicht bei ihm. Er küsste sie auf den Hals, versuchte ihre vollen roten Lippen zu erhaschen. Sie wich ihm mit einer leichten Drehung des Kopfes aus.

„Wir müssen reden“, sagte sie schließlich mit gepresster Stimme.

„Ja.“

Sie wartete, doch er machte keinerlei Anstalten mehr zu sagen. Cielo seufzte. Verstand er sie nicht oder hatte er nur Angst das Problem anzusprechen. Nach ihrem morgendlichen Gefühlsausbruch kein Wunder. Beide fühlten sie, sie sollten über Cielos Kinderwunsch reden, alleine sie scheuten sich. Ein Gespräch hätte eine Entscheidung nach sich ziehen müssen. Aufschieben schien aber auch keine Lösung zu sein. Cielo seufzte erneut. Heinrich nahm ihre Hand, strich zärtlich mit dem Daumen über ihren Handrücken.

„Ja“, wiederholte er aufmunternd.

Cielo fasste sich ein Herz.

„Ich verstehe nicht, warum es einfach nicht klappen will. Ich weiß, du hättest auch gerne Kinder.“

Heinrich pflichtete ihr bei.

„Wir sind jetzt sechs Jahre zusammen. Anfangs habe ich verhütet, doch seit über zwei Jahren nehme ich keine Pille mehr. Trotzdem tut sich nichts. Ich werde nicht schwanger. Wir haben uns so viel Mühe gegeben.“

„Vielleicht liegt es daran, dass wir uns zu sehr auf ein Kind fixiert haben, zu sehr verkrampfen.“

„Hast du das Gefühl ich bin verkrampft?“

„Eigentlich nicht.“ Er sah ein, er hatte die Ursache unbewusst bei ihr gesucht. Dass er der Grund ihrer Kinderlosigkeit sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Stille Tränen rannen über Cielos Gesicht. Erschrocken bemerkte er, wie tief er sie verletzt hatte.

„Entschuldige“, stotterte er. Er streichelte ihr sanft die Schultern, drückte sie ein wenig fester an sich. Da überflutete das angestaute Leid alle Dämme. Sie weinte laut auf, warf sich an seine Brust.

„Ich bin so verunsichert“, stieß sie zwischen zwei Schluchzern hervor. Mit einer hilflosen Geste versuchte Heinrich sie zu beruhigen. Doch all der unausgesprochene Kummer, die quälende Unsicherheit mussten jetzt heraus. Unaufhörlich liefen die Tränen. Sie mussten geweint werden, waren zu lange unterdrückt. Der heutige Tag hatte sie überfordert, ihre dunkelsten Gefühle nach oben gespült. Cielo warf sich vor als Frau versagt zu haben: sie konnte nicht Mutter werden, glaubte sie.

„Sogar Manuel hat schon gefragt“, klagte sie.

„Dieser Schlingel.“

„Aber er hat recht“, wimmerte sie, „verstehst du mich nicht?“

„Auch ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Kind von dir“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie sah ihn mit tränenüberfluteten Augen an.

„Warum, warum nur?“, jammerte sie.

„Ich weiß es nicht, Liebes.“

Jetzt da sie das erste Mal bewusst darüber sprachen, wich der Druck ein wenig von ihnen. Der zarte Körper der Frau wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.

„Meine Geschwister haben alle Kinder. Julio sogar Zwillinge. Ich schäme mich so. In Mexiko ist Kinderlosigkeit eine Schande.“

„Nicht doch mein Engel, vielleicht kannst du nichts dafür.“

„Wie meinst du das“, fragte sie misstrauisch.

„Vielleicht besteht ein körperliches Hindernis. Ich habe gehört, man könnte die Tuben durchblasen.“

„Und wenn es nicht an mir liegt?“

Heinrich schwieg. Darüber wollte er nicht nachdenken.

„Wir können nichts ausschließen. Doch einfach warten sollten wir auch nicht.“

Erleichtert und dankbar sah sie ihn an.

„Die Frau heute Morgen hat noch von einer anderen Möglichkeit erzählt.“

„Im Reagenzglas, pfui Teufel“, Cielo schüttelte sich.

„Ich meine ja nur, aber darüber brauchen wir uns heute Abend nicht den Kopf zu zerbrechen.“

„Es ist doch immer so schön mit uns“, seufzte Cielo.

„Daran ändert sich nichts“, meinte er und wollte ihr damit Mut zusprechen.

„Es hat sich schon geändert“, flüsterte sie, „ich kann die Gedanken an ein Kind nicht abschalten.“

Heinrich erschrak.

„Ich halte den Druck nicht mehr lange aus. Heute war ich am Rande eines Nervenzusammenbruches.“

„Sag nicht so etwas.“

„Du verstehst mich nicht“, weinte Cielo traurig. Der Vorwurf wog schwer. Heinrich löste den Arm von seiner Frau.

„Warum? Denkst du, ich leide nicht?“

„Du machst nicht den Eindruck“, stieß sie trotzig hervor.

„Cielo, ich liebe dich, du bist die einzige Frau mit der ich bis ans Ende meines Lebens zusammen bleiben möchte, ob mit oder ohne Kinder.“

Der Mond leuchtete durch die Blätter der Eiche, sein weiches Licht stimmte die beiden versöhnlich. Sie fröstelten, spürten die kalte Nachtluft auf der bloßen Haut.

„Lass uns ins Haus gehen.“

Das Sofa fühlte sich weich und gemütlich und gleich viel wärmer an. Tröstlich und freundlich schimmerte das Licht der Deckenleuchte. Das Windlicht auf dem Couchtisch brannte ruhig.

„Wir sind keinen Schritt weiter gekommen“, meinte Cielo, die aufgehört hatte zu weinen. Er reichte ihr ein Kleenex und sie schnäuzte sich ausgiebig.

„Vielleicht“, hub Heinrich gedankenvoll wieder an, „sollten wir uns beraten lassen.“

„Daran habe ich auch gedacht“, flüsterte Cielo und Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. Sie kuschelte sich an ihren Mann, schloss die Augen, seufzte tief. Heinrich strich ihr über das blauschwarz schimmernde Haar.

„Wie schön sie ist“, dachte er.

„Cielo, geliebte Cielo“, hauchte er ihr ins Ohr. Mutlos saßen sie, schweigend, eng umschlungen, hielten sich tröstend in den Armen.

„Ich stehe das mit dir durch.“ Voller Zutrauen sah sie ihn an.

„Lass uns nach oben gehen.“

Hand in Hand stiegen sie die Treppe hinauf. In dieser Nacht liebten sie sich mit verzweifeltem Mut und doch so zärtlich, bis sie zu guter Letzt erschöpft in einen unruhigen Schlaf sanken.

„Montag mache ich einen Termin“, überlegte sie, bevor sie in fiebrige Träume hinüberglitt.

Allein das Schicksal hatte anderes mit ihnen vor. Gegen 10:00 Uhr morgens, die Gerstones saßen auf der Terrasse beim Frühstück, läutete das Telefon. Cielo sprang auf, eilte ins Wohnzimmer. Um diese Zeit pflegte sie mit ihrer Mutter in Mexiko zu telefonieren. Doch es war nicht die Mutter. Cielo brachte Heinrich das Telefon.

„Es ist dein Halbbruder“, rief sie und hielt die Sprechmuschel zu.

„Was will der denn?“, brummte Heinrich unwillig. Die beiden verstanden sich nicht sonderlich und ihn beschlich immer ein unangenehmes Gefühl, wenn er Eduard am Telefon hatte.

„Hier Heinrich.“

Cielo verstand nicht was die beiden sprachen, aber es schien kein Anruf aus purer Höflichkeit zu sein. Heinrichs Stimme klang heiser.

„Wann?“, fragte er und, „Wo ist er jetzt?“

Die Kaffeetasse in seiner Hand zitterte. Er stellte sie behutsam zurück auf den Tisch. Cielo ahnte: das waren keine guten Nachrichten.

„Ich komme, so schnell ich kann“, krächzte Heinrich ins Telefon. „Ich gebe dir Bescheid, wann das Flugzeug landet.“

Er unterbrach die Verbindung. Cielo wartete geduldig. Ihr Mann würde erzählen, was vorgefallen war, wenn er sich wieder beruhigt hatte. Heinrich nahm einen Schluck Kaffee, starrte ins Leere. Er saß minutenlang, wie versteinert.

„Was ist passiert?“ Cielo hielt die Spannung nicht mehr aus. Wie aus einem hässlichen Traum erwachte Heinrich. Er sah seine Frau an und sie bemerkte das Glitzern, von Tränen, in seinen Augen.

„Vater hatte einen Herzinfarkt. Er liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte meinen, es geht zu Ende. Er möchte mich noch einmal sehen“, flüsterte er kaum hörbar.

Cielo legte ihre Hand mitfühlend auf die seine. Sie schwieg. Was hätte sie auch Tröstendes sagen können.

„Ich habe es kommen sehen“, stammelte Heinrich. „Es ist nicht sein erster Infarkt. Doch dieser scheint schlimmer zu sein als die vorherigen.“

„Soll ich mitkommen?“, bot sich Cielo an. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, da muss ich alleine durch.“

Er erinnerte sich: sein Vater verweigerte ihnen die Zustimmung zu ihrer Hochzeit. Darüber entbrannte vor Jahren ein heftiger Streit.

„Mein Sohn heiratet keine Mestizin, hatte der Vater ihn mit rotem Gesicht angebrüllt. Mein Sohn nicht.“

Doch Heinrich blieb hart. Trotz aller Verwünschungen ließ er sich nicht umstimmen, wollte nicht auf seine Liebe verzichten. Wütend trennten sie sich und Heinrich war zu stolz, mit dem alten Sturkopf wieder ernsthaft Kontakt aufzunehmen. Er schrieb die obligaten Geburtstagsgrüße, die Weihnachtsglückwünsche und ganz selten nur rief er an. Der Alte blieb beleidigt, obwohl ihre Auseinandersetzung sechs Jahre zurück lag.

„Weiße heiraten Weiße, keine Farbigen“, hatte ihm der Vater damals unversöhnlich ins Gesicht geschleudert. Er hatte etwas von Familienehre gefaselt, von Rassenschande. Rassenschande, ein Wort mit dem Heinrich nichts anfangen konnte, das jedoch Furchtbares beinhaltete.

„Wie sollen deine Kinder aussehen? Mischlinge, kleine Bastarde.“ Das wenigstens stand nicht zur Debatte. Um ein Haar hätte der Vater sich dazu hinreißen lassen, den Sohn zu verstoßen. Im Zorn waren sie auseinandergegangen. Seitdem hatten sie dieses Thema nicht mehr angeschnitten. Und jetzt das. Heinrich fühlte sich elend beim bloßen Gedanken, den Vater besuchen zu müssen, ihn vielleicht nicht mehr lebend anzutreffen. Er wünschte sich, sie könnten in Frieden voneinander scheiden, denn trotz allem blieb er sein Vater. Er hatte ihm das Leben gegeben, er hatte ihn aufgezogen, sein Studium ermöglicht, bis zum frühen Tod der Mutter, für eine unbeschwerte Kindheit gesorgt. In Gedanken versunken frühstückten sie weiter. Heinrichs Bewegungen wirkten schleppend, als zögere er die anstehende Reise so lange wie möglich hinaus. Cielo schenkte ihm Kaffee nach, gab einen Schuss Milch dazu, zwei Stück Zucker. Er bemerkte es kaum, dankte nicht. Sollte es so zu Ende gehen? Würde ihn der Vater überhaupt willkommen heißen oder würde er ihn erneut mit Vorwürfen überschütten? Er hatte keine Ahnung, spürte nur dieses flaue Gefühl im Magen. Keine leichte Reise.

Und dann der Halbbruder mit seiner proletenhaften Familie, ganz zu schweigen von der übergriffigen Stiefmutter. Er verabscheute sie aus tiefstem Herzen, er wusste nicht warum, denn sie hatte ihm nichts getan, zugleich aber übte sie eine dunkle Anziehung auf ihn aus. Wenn er einmal davon absah, dass sie die kümmerliche Erinnerung an die Mutter in seinem Herzen zu verdrängen suchte. In seiner Kindheit empfand Heinrich die Ablehnung seiner Stiefmutter wie eine immerzu schwärende Wunde. Er seufzte tief. Der Besuch musste sein. Es ging um seinen Vater und vielleicht müsste er nicht lange bleiben. Er könnte wichtige Arbeiten vorschieben und sich bald wieder aus dem Staub machen. Irgendwie feige, schoss es ihm durch den Kopf. Andererseits hatte er nie das Gefühl zur neuen Familie des Vaters zu gehören.

„Soll ich im Internet nach Flügen suchen?“, bot sich Cielo fürsorglich an.

„Danke, das mache ich schon.“

Er erhob sich schwerfällig, streifte mit einem abwesenden Kuss das seidige Haar seiner Frau und schlurfte ins Arbeitszimmer. Es war nicht einfach, einen Flug nach Montgomery zu bekommen. Heinrich musste für die schnellste Verbindung in Dallas umsteigen und darauf kam es an. Von Montgomery, Alabama aus konnte er sich einen Mietwagen nehmen. Selma, sein Ziel, lag knapp 50 Meilen vom Flughafen entfernt.

„Warum musstest du auch so weit weg ziehen“, fluchte er leise. Sein Vater lebte auf der Farm der Stiefmutter, dort residierten sie in einer alten Südstaatenvilla, umgeben von schattigen Parkanlagen und endlosen Baumwollfeldern. Das entsprach dem Geschmack des alten Herrn, der gerne die Dienstboten herumkommandierte. Heinrich selbst besuchte die Familie nur wenige Male und er betrachtete die Fotos abschätzig, die von Zeit zu Zeit mit der Post auf seinen Schreibtisch flatterten, seinen Vater mit der Stiefmutter und den Enkeln zeigten.

„Ich habe einen Flug“, rief er Cielo zu, „spätestens um 15:00 Uhr muss ich einchecken.“

„Ich helfe dir packen.“

„Lass nur, das schaffe ich alleine.“ Seine Frau ließ sich nicht abhalten, ihm zur Hand zu gehen. Im Wohnzimmer löste Cielo das verblichene Hochzeitsfoto seiner Eltern aus dem Rahmen und steckte es in Heinrichs Jackett. Für gewöhnlich lehnte das Portrait auf dem Kaminsims versteckt zwischen anderen alten Erinnerungsfotos. Der Anlass schien ihr passend, ihm den vergilbten Abzug mitzugeben. Heinrich bemerkte es und runzelte die Stirn.

„Wozu das Bild?“, fragte er argwöhnisch.

„Vielleicht tröstet es dich. Wenn es zu schlimm wird, kannst du dich an die Zeiten erinnern, in denen deine Eltern glücklich miteinander waren. Dann wird es leichter.“ Heinrich schluckte, ihre liebevolle Geste rührte ihn. Er ließ sich nichts anmerken.

„Ich fahre dich zum Flughafen. Mit dem kleinen Wagen geht es schneller und du brauchst keinen Parkplatz.“ Dankbar nickte er. Es tröstete ihn, den schweren Weg nicht alleine antreten zu müssen.

„Ich friere die Garnelen ein, wir essen sie, wenn du wiederkommst.“

Kurz nach Mittag fuhren sie zum Flughafen. Die Straßen am Sonntag wie ausgestorben, sie mussten nicht fürchten in einen der werktäglichen Staus zu geraten. Sie sprachen kaum, hingen ihren Gedanken nach. Viel zu früh rollten sie auf den Flughafenzubringer. Cielo suchte einen Kurzparkplatz, begleitete ihren Mann zum Check-in. Bis zum Abflug blieb ihnen eine gute Stunde.

„Möchtest du etwas trinken?“, erkundigte er sich.

„Ein Kaffee wäre nicht schlecht.“

„Und für mich einen Cognac.“

Sie setzten sich an die Bar, tranken Kaffee und Cognac. Leise Spannung hing in der Luft. Sie nahm seine Hand, sah ihn forschend an.

„Hast du Angst?“

„Einfach ist es nicht. Ich habe meinen Vater lange nicht mehr gesehen. Ob er sich sehr verändert hat?“

„Es wird schon gehen“, munterte sie ihn auf. „Es ist ja nur für einen kurzen Besuch. In ein paar Tagen bist du wieder da.“

Er spürte, seine Frau fehlte ihm schon jetzt. Zärtlichkeit wehte durch sein zerrissenes Herz.

„Jetzt wollte ich doch, du könntest mitkommen“, seufzte er. Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist keine gute Idee, glaube ich. Sicher darf er sich nicht aufregen.“

Natürlich hatte sie recht. Trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher als Vaters Segen für sich und seine Frau. Er fühlte sich sehr alleine. Merkwürdig, dachte er und er kam sich wie der kleine Junge vor, der schuldbewusst vor dem Vater stand, weil er etwas ausgefressen hatte. Vielleicht ist es immer so, wenn man den Eltern gegenübertreten muss, schoss es ihm durch den Kopf. Ob das jemals aufhörte? Sein Flug wurde aufgerufen. Er umarmte Cielo einen langen, langen Augenblick, drückte sie fest an sich, als wäre es ein Abschied für immer. Sie zu küssen scheute er sich vor den vielen Menschen.

„Es ist nur für kurze Zeit“, flüsterte sie und knabberte zärtlich an seinem Ohrläppchen. Er nickte, mit dem Verstand hatte er das begriffen, doch sein Herz dachte anders. Sie machte sich los, gab ihm einen kleinen Schubs.

„Nun geh schon, sonst fliegt die Maschine ohne dich ab.“

Da ging er, drehte sich nur einmal kurz um und winkte ihr zu. Wenig später saß er im Flugzeug. Er hörte das Aufheulen der Düsen, spürte wie die Maschine abhob, ihn in die Polster presste und wenige Augenblicke später im blassblauen Himmel verschwand. Auf dem Flug quälten Heinrich trübe Erinnerungen.

Das gleichmäßige Dröhnen der Turbinen schläferte ihn ein. Ein Buch mitzunehmen hatte er in der Eile vergessen und die Wochenendzeitung kannte er schon. Da piekste ihn, als sein Kopf auf die Brust sank, ein spitzes Papierstück unangenehm. Halb verärgert zog er das Foto seiner Eltern, Sara und Klaus aus der Brusttasche. In der Hektik des Aufbruchs war ihm entfallen, dass Cielo ihm das Bild zugesteckt hatte. Vorsichtig glättete er die gestauchte Ecke mit dem Nagel des Zeigefingers. Sein Blick blieb am Gesicht der Mutter hängen. Wie glücklich sah sie aus, in ihrem weißen Hochzeitskleid, ein kleines Kränzchen aus weißen Margeriten durchflochten von filigranem Schleierkraut im dunklen Haar. In der Hand hielt sie einen Strauß aus rosa Zwergrosen und weißen Lilien. Er glaubte das kleine Bäuchlein der Mutter zu erahnen. Wie ihm der Vater später erzählte, war die Mutter im dritten Monat schwanger, als die beiden endlich heirateten. Sie wirkte glücklich, strahlte von innen heraus. Sein Vater machte einen ernsten, verschlossenen Eindruck, in seinem altmodisch geschnittenen schwarzen Zweireiher. Vielleicht glaubte er sich zu jung für die Ehe, fühlte sich aber genötigt zu heiraten, jetzt da seine Geliebte ein Kind von ihm erwartete. Heinrich konnte nur erahnen, wie seinem Vater zumute war, die Eltern hatten nie darüber gesprochen. Das Baby, ein Mädchen, war kurz nach der Trauung abgegangen. Der Verlust traf die Mutter schwer und von diesem Zeitpunkt an verstärkten sich die Kummerfalten um ihren Mund. So jedenfalls hatte es der Vater berichtet. Sie lachte nur noch selten, nicht einmal die Geburt Heinrichs, zwei Jahre später, vermochte sie aus ihrer Depression zu reißen. Jahre später erzählte ihm der Vater, seine Mutter wäre jüdischer Abstammung. Saras Großeltern und ihr Vater wurden im Dritten Reich im KZ Birkenau ermordet. Die Großmutter, damals mit Sara schwanger, war nur durch einen fast unglaublichen, glücklichen Umstand dem Tod in den Gaskammern entronnen. Wie, darüber schwieg sie bis zu ihrem Tode beharrlich. Nach dem Krieg folgte sie einem GI nach Amerika, hoffte so dem Tag und Nacht allgegenwärtigen Grauen zu entkommen. Das schreckliche Schicksal der Großmutter warf schon früh einen Schatten auf das Leben der Mutter, der sie nie mehr ganz los lassen sollte. Sein Vater hatte ihm andeutungsweise einmal davon erzählt, als er wieder, wie oft, zu viel getrunken hatte. Das musste um die Zeit seines sechzehnten Geburtstags gewesen sein. Bis heute verstand er nicht, warum sein Vater aus dieser tragischen Geschichte ein Geheimnis machte. Heinrich spürte damals nur, es wäre besser nicht in den Vater zu dringen. Etwas lastete offenbar wie ein Stein auf seiner Seele. Was das war hatte Heinrich auch später nie erfahren und er hütete sich, das Thema erneut anzusprechen. Nach dem Tod der Mutter scheuten sich die zwei erst recht das Geheimnis zu berühren, sie fürchteten beide den mühsam verborgenen Schmerz aufzurühren. Möglicherweise wollte Heinrich auch nicht die ganze Wahrheit wissen, eine warnende innere Stimme hielt ihn zurück, weiter nachzufragen. Sie sprachen überhaupt wenig, schon gar nicht über die Familie, denn sie waren vorrangig damit beschäftigt, den gemeinsamen Alltag zu bewältigen. Er erinnerte sich lückenhaft an eine glückliche Kindheit, mit der Mutter. An die windschiefe Schaukel am weit ausladenden Ast der Eiche im Garten des Hauses in Coronado. Der kleine Heinrich schaukelte stundenlang, manchmal angeschubst von der Mutter, meist jedoch alleine. Die alte Schaukel hing noch immer da. Er müsste das Sitzbrett erneuern, vielleicht die Seile, aber damit wollte er warten bis ihm ein Sohn geboren würde. Alte, fast vergessene Bilder tauchten auf. Er sah die Mutter lächelnd auf der Terrasse sitzen im großen weißen Schaukelstuhl, der heute noch in einer Ecke der Veranda lehnte. Cielo wiegte sich gerne darin. Es sah ihr dabei zu und die warmen Gefühle zu seiner Mutter mischten sich in seinem Herzen mit der Liebe, die er für Cielo empfand. Die Bilder der beiden Frauen, flossen ineinander, wie Tusche in einem Wasserglas. Er seufzte lautlos.

„Darf ich Ihnen etwas anbieten“, riss ihn eine, blond gelockte Stewardess mit betont fröhlicher Stimme aus seinen Erinnerungen.

„Vielleicht eine Cola“, brummte er unwillig. Das kalte süße Getränk tat gut in der stickigen Luft des Fliegers. Die Turbinen summten gleichmäßig und ohne größere Turbulenzen bahnte sich das Flugzeug seinen Weg durch die Lüfte. Gedankenverloren lutschte Heinrich einen Eiswürfel. Er erinnerte ihn an die Zitronenlimonade, die seine Mutter ihm im Sommer, wenn er von der Schule kam, anbot. Auch darin schwammen immer einige Eiswürfel, damit die Limonade schön kalt blieb. Eine wunderbare Frau, seine Mutter, sanft und zärtlich, immer für ihn da. Abends las sie ihm aus vergilbten deutschen Märchenbüchern vor, sprach auch meist Deutsch mit ihm. In der Schule tat sich Heinrich leicht mit dieser Sprache. Sein behütetes Glück währte nur wenige Jahre. Zu kurz für eine Kinderseele. Die Mutter wurde zunehmend unpässlicher. Oft saß sie mit rot verweinten Augen und Heinrich fragte sich beklommen, ob er etwas angestellt habe, auch wenn er sich keiner Schuld bewusst war. Der Vater lief mit besorgtem Gesicht herum. Mit seinen zwei linken Händen versuchte er der Mutter im Haushalt zu helfen, doch er war so ungeschickt, dass die Mutter ihn mit einem gequälten Lächeln aus der Küche schob. Zu tollpatschig stellte er sich an und Kochen war schon gar nicht seine Stärke. Er hatte es ein paar Mal versucht, doch das Ergebnis seiner Bemühungen schmeckte so abscheulich, dass sie das Essen in die Mülltonne kippen mussten. Mutter weinte ein wenig, sie hatte sich auf ihr Lieblingsessen, den bayerischen Schwärtelbraten gefreut. Meist machten sie dann eine Dose Ravioli auf. Der Vater beschränkte sich in seiner unbeholfenen Art darauf, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, den Tisch zu decken, eventuell die Töpfe abzutrocknen. Eines Morgens wurde die Mutter vom Sanitätswagen ins Krankenhaus gefahren. Auf Heinrichs bange Frage antwortete der Vater nur: das verstünde er noch nicht. Er sah ihn lange und traurig an. Da ahnte Heinrich, etwas Furchtbares musste geschehen sein. Er durfte die Mutter nur wenige Male besuchen. Kam er, lag sie blass in den hoch aufgetürmten weißen Kissen. Sie strich ihm zärtlich über das krause Haar, ein paar Tränen kullerten über ihre Wangen. Seine Frage wann die Mutter wieder nachhause käme, wurde mit einem ausweichenden „bald“ beantwortet. Allein Heinrich sah zweifelnd auf die vielen Schläuche von denen zwei in Mutters Nase verschwanden und die anderen sich unter das geblümte Nachthemd ringelten. Ein mulmiges Gefühl ängstigte ihn. Verlegen hielt er die Hand der Mutter, wusste nichts zu sagen.

In dieser Zeit lernte Heinrich Krankenhäuser zu hassen und er hatte es bis heute geschafft, keines mehr zu betreten. War einer seiner Freunde krank, erfand er rasch eine Ausrede, um ihn nicht im Hospital besuchen zu müssen.

Keiner wollte ihm sagen was seiner Mutter fehlte. Bis zu jenem Abend, als er ein Telefongespräch des Vaters belauschte. Sein Vater dachte, er läge längst im Bett und schliefe, doch Heinrich konnte nicht schlafen, wie so oft in den vergangenen Wochen. Er stand heimlich auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Als er im Dunklen die Treppe hinunter tappte, hörte er aus dem düsteren Wohnzimmer die Stimme seines Vaters. Er wusste nicht mit wem er telefonierte, konnte auch nur einige wenige Brocken verstehen. Was er hörte, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.

„Brustkrebs“, hörte er die Diagnose, mit der er damals nichts anfangen konnte.

„Totaloperation, rechts.“

„Nein, die Achsellymphknoten sind auch befallen. Ja, sie bekommt Chemotherapie, aber die schlägt nicht an.“

Die erstickte Stimme des Vaters wurde undeutlich und so sehr sich Heinrich anstrengte, er konnte von dem Gespräch nichts mehr aufschnappen. Als der Vater später mit schweren Schritten die Treppe hinauf stapfte, fand er Heinrich weinend auf dem Treppenabsatz sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben. Der Junge schluchzte, doch kein Laut kam über seine bebenden Lippen. Erschrocken setzte sich der Vater neben den schmächtigen Sohn, legte den Arm um seine Schultern. Sie saßen in der Dunkelheit, schwiegen in ihrer Trauer und keiner vermochte den anderen zu trösten.

„Stirbt Mutter?“, flüsterte Heinrich schließlich. Der Vater zuckte hilflos mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht“, krächzte er heiser. Heinrich ahnte, seine schlimmsten Befürchtungen würden wahr werden.

„Warum?“ Auf diese Frage gab es keine Antwort.

„Du musst jetzt sehr stark sein, Heinrich“, flüsterte der Vater unter Tränen. Heinrich barg den Kopf an der Brust des Vaters und beide hielten sich, weinend, eng umschlungen. Nach einer endlosen Zeit des Schweigens, des Weinens, nahm der Vater Heinrich sanft auf den Arm und trug ihn zurück in sein Bett.

„Du musst schlafen“, meinte er. „Ich bleibe bei dir bist du eingeschlafen bist.“ Erst weit nach Mitternacht fielen Heinrich die Augen zu. Lautlos schlich der Vater aus dem Raum, schlurfte ins Wohnzimmer und goss sich einen Bourbon ein. Mit dem randvollen Glas in der Hand saß er im Lehnstuhl, starrte in die furchterregende Dunkelheit. In dieser Zeit fing der Vater an zu trinken.

Mutter kam nicht mehr nach Hause. Das letzte Mal als Heinrich sie besuchen durfte, lag sie, bis auf die Knochen abgemagert, in den weißen Kissen. Ihr seltsam kahler Kopf glänzte in der Sonne, die Augen noch größer als sonst, schon ermattet, blickten liebevoll auf ihr Kind. Ihr Atem ging schwer, ihre Brust hob und senkte sich unter Anstrengungen. Der Arm, der kraftlos neben ihr auf dem Bett lag, übersät von blauen Flecken. Die Schläuche waren gezogen. Ab und zu nahm die Mutter etwas Sauerstoff aus einer Maske, die über die Nase gespannt war. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme war zu schwach. Eine Schwester kam, nahm Heinrich an der Hand, führte ihn aus dem Zimmer und brachte ihn in die Wachstation, wo sie ihm einen Orangensaft anbot.

„Lass deinen Vater ein wenig mit deiner Mutter alleine“, sagte sie begütigend. „Er kommt gleich.“

„Ich will zu meiner Mutter“, weinte Heinrich leise.

„Das geht nicht.“

Sie lockte den Jungen mit einem Lutscher. Er bedankte sich artig, doch er rührte die Schleckerei nicht an. Hilflos vertiefte sich die Frau in ihren Krankenakten.

Im Lauf der nächsten Woche kam eine dicke Mexikanerin ins Haus, Dolores. Sie hatte ein breites freundliches Gesicht und gute fleischige Hände. Sie kümmerte sich um die Küche und putzte das Haus. Sie passte auf Heinrich auf, wenn er nach der Schule mit dem Mountainbike nach Hause geradelt kam. Ab und zu drückte sie ihn an ihren gewaltigen Busen, seufzte und radebrechte in schlechtem Englisch:

„Armes Jungchen, komm ich mach dir was Leckeres zu essen.“

Jeden Abend nahm sie die Fähre zum Broadway Pier, stieg am America Plaza in die Straßenbahn und fuhr zurück nach Tijuana, wo ihre Familie wohnte. Ein oder zweimal schleifte sie Heinrich mit, doch der fühlte sich zwischen den vielen quirligen Kindern nicht wohl, kam sich wie ein Fremdkörper vor in der lauten und fröhlichen Familie. Dolores unternahm keinen weiteren Versuch, den Jungen aus seinem trostlosen Umfeld herauszureißen.

Das Siechtum der Mutter zog sich hin. Der Vater war nicht mehr ansprechbar. Schweigend mit gesenktem Kopf ging er morgens zur Arbeit, schweigend kehrte er abends aus den Flugzeugwerken zurück, in denen er als Ingenieur an der Entwicklung neuer Düsenflugzeuge arbeitete. Stumm nahmen sie das Nachtmahl ein. Über die Mutter sprachen sie nie, zu sehr steckte die Angst in ihnen. Mit knappen stockenden Worten berichtete der Vater von seinen täglichen Besuchen im Krankenhaus. Sobald Heinrich zu Bett gegangen war, zog sich der Vater in das Arbeitszimmer zurück. Er trank mehr als ihm gut tat. Immer öfters fand ihn Heinrich morgens dort, eingeschlafen, den Kopf auf der eichenen Schreibtischplatte liegend, daneben umgekippt die leere Flasche Bourbon. Ein dünner eingetrockneter Speichelfaden hing in seinem Mundwinkel.

An einem Dezembermorgen gegen 5:00 Uhr schrillte das Telefon. Heinrich schrak hoch, tappte schlaftrunken zum Apparat, hob ab. Es war das Krankenhaus.

„Kann ich deinen Vater sprechen?“, fragte eine männliche Stimme. Heinrich rüttelte den Vater an der Schulter, bekam ihn kaum wach.

„Das Krankenhaus“, rief er wieder und wieder voller Panik. Schließlich zerrte er den Benommenen ans Telefon. Endlich öffnete der Vater die Augen, sah ihn mit glasigem Blick an.

„Ich komme“, lallte er mit gebrochener Stimme in den Hörer. Fahrig schlüpfte er in seine Hose. Heinrich stand zitternd daneben. Angst umkrampfte sein kleines Herz.

„Du musst heute nicht in die Schule“, krächzte der Vater. „Warte auf mich.“

Heinrich hörte die Tür ins Schloss fallen, hörte den Motor des Wagens aufheulen, dann war er alleine. So alleine wie noch nie in seinem Leben. Betäubt stand er im Flur, unfähig auch nur ein Glied zu rühren. Nicht einmal Tränen hatte er mehr, die waren alle geweint.

Nun war es also geschehen, dachte er. Seine Mutter war tot. Er hatte es erwartet, wie sein Vater und trotzdem konnte und wollte er es nicht glauben, klammerte sich bis zuletzt an das kümmerliche Fünkchen Hoffnung. Gleichzeitig, und er schämte sich es einzugestehen, war er erleichtert. Erleichtert, dass die Qual ein Ende gefunden hatte. Zu grauenvoll war die Anspannung der letzten Wochen für ihn. Das Wechselbad zwischen Hoffnung und tiefster Verzweiflung. Jedes Mal, wenn es der Mutter ein wenig besser ging, hatten sie gebangt: endlich, endlich sei alles überstanden, war die teuflische Krankheit besiegt. Nur um am nächsten Tag umso mutloser einen erneuten Rückfall beobachten zu müssen. Eine zu große Last für einen kleinen Jungen. Der Vater konnte ihm keine Hilfe sein, der vergrub sich in seinem Schmerz, sah den Sohn schon lange nicht mehr. Heinrich setzte sich, im Schlafanzug, mit bloßen Füßen auf die Fließen im Gang und wartete. Im Haus Totenstille. Der Lärm des anbrechenden Tages drang nicht zu ihm. Nicht einmal weinen konnte er und das erschreckte ihn am meisten. Dolores hatte sich heute frei genommen, so dass der Junge in seiner brennenden Einsamkeit gefangen blieb, aus der ihn niemand retten konnte. Irgendwann hörte er auf zu denken, saß nur da, betäubt, sprachlos, traurig und vor Kälte zitternd. Die Zeit stand still. Er versuchte sich die Mutter vorzustellen und bemerkte erschreckt, ihr Bild begann sich bereits aufzulösen. Er konnte sich nicht mehr klar an sie erinnern. Ihre Gesichtszüge wurden unscharf, die Gesten, die Stimme, alles verschwamm im blutigen Nebel seines Schmerzes. Er fühlte sich schuldig, schwor sich sie nie, nie zu vergessen. In seiner Herzensangst floh er ins Schlafzimmer der Mutter, warf sich auf das gemachte Bett. Es war immer gemacht, obwohl die Mutter schon lange nicht mehr darin lag. Das Bettzeug duftete schwach nach der Mutter. Da kamen ihm, mit der Erinnerung die Tränen. Aus der Tiefe seines gequälten Herzens strömten sie aus ihm heraus. Endlos schien ihr Fluss. Er schämte sich nicht, spürte nicht wie das Laken feucht wurde. Es blieb still im Haus, totenstill. Schatten wanderten durch das Schlafzimmer, ein leichter Wind blähte die Vorhänge. Heinrich fror obwohl es draußen warm war, er fühlte es nicht. Seine Einsamkeit wurde grenzenlos und sie würde es bleiben, lange Zeit. Gerne hätte er nach der Mutter gerufen, doch er erkannte die Nutzlosigkeit dieses Versuchs. Er setzte flüsternd an, allein das Wort „Mutter“ kam ihm nicht über die Lippen. Er faltete die Hände zum Gebet, doch auch ein Gebet fiel ihm nicht ein. Nur ein Kindervers, den die Mutter vor dem Einschlafen mit ihm gesprochen hatte.

Ich bin klein

Mein Herz ist rein

Soll niemand drin

Wohnen als du allein

Gegen Mittag verspürte er Durst in der ausgetrockneten Kehle. Halb von Sinnen wankte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, wollte sich ein Glas Milch nehmen. Es gab keine Milch, außer ein paar aufgeweichten Tortillas starrte ihn nur gähnende Leere an. Nicht einmal einen Apfel konnte er finden. Er nahm einen Schluck aus der Wasserleitung, benetzte das verweinte Gesicht. Die Stunden vergingen und Heinrich wartete. Einmal tönte der Türgong, der Junge öffnete nicht. Erstarrt saß er, wartete und wartete.

Gegen Abend kam der Vater. Sein Gesicht aschgrau und eingefallen, der Gang schleppend und schwer.

„Ist sie tot?“

Der Vater nickte stumm, schloss den Sohn in die Arme. Sie hatten keine Tränen mehr, pressten sich aneinander und fanden darin keinen Trost. Die Nacht dämmerte herauf, hüllte das Haus in blaue Schatten, als sich der Vater los machte.

„Hast du etwas gegessen?“ Heinrich schüttelte den Kopf. Der Vater öffnete eine Dose Hot Dogs. Sie aßen sie kalt. Dann brachte der Vater ihn ins Bett.

„Wir müssen jetzt stark sein, mein armer Junge.“

Er saß bei ihm, zusammengefallen, bis Heinrich eingeschlafen war. Irgendwann in der Nacht hörte er den Vater im Arbeitszimmer schluchzen. Er fand nicht die Kraft zu ihm zu gehen. Wie hätte er ihn auch trösten können, wo er doch selbst Trost so nötig gehabt hätte.

In dieser Nacht begann er, immer wenn er sich einsam und verlassen fühlte, den Daumen in den Mund zu stecken und daran zu saugen. Und er war oft alleine. Diese Angewohnheit hatte er bis heute beibehalten. Als der Vater es später einmal entdeckte, nannte er Heinrichs Daumen belustigt: Trösterchen.

Die Beerdigung fand an einem nassgrauen Montag statt. Dicke Regenwolken hingen über der Bay, aus denen ein leichter, durchdringender kalter Nieselregen auf die Trauernden fiel. Heinrich klammerte sich an die Hand des Vaters. Stumm schritten sie hinter dem einfachen Fichtenholzsarg her. Die Rosen und die weißen Lilien des Bouquets hingen vom Regen schwer herab. Ab und zu tropften ein paar dicke Wasserperlen aus den Blütenkelchen, dann wippten die Lilien leicht mit den Köpfen. Der Pfarrer sprach ein paar Worte, segnete den Leichnam und der schlichte Sarg tauchte in das schwarze Loch aus feucht schimmernder Erde. Vater und Sohn traten an das offene Grab, warfen Margerittensträußchen ins Dunkel, eine Schaufel Erde, die auf den Deckel des Sarges prasselte. Die wenigen Trauergäste drückten ihnen still die Hand ehe sie im Schutz der aufgespannten Regenschirme zurück ins Trockene ihrer Autos flüchteten. Eine Frau, die Heinrich nicht kannte, grell geschminkt, drückte ihn an ihren Busen. Er mochte sie nicht. Sie trug ein aufdringliches Parfüm. Dann war alles vorüber.

„Wir verlassen jetzt unsere Reiseflughöhe und setzten zur Landung in Dallas an“, tönte es blechern aus dem Bordlautsprecher.

„Bitte schnallen Sie sich an und klappen Sie die Tische hoch. Bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position.“

Heinrich barg das Bild der Eltern in seiner Brusttasche. Die junge Stewardess mit dem berufsmäßigen Lächeln schritt durch die Reihen, kontrollierte die Anschnallgurte.

„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sie sich zu Heinrich gewandt.

„Alles in Ordnung“, antwortete er mit gepresster Stimme, voll quälender Erinnerungen.

Auf dem Airport herrschte hektisches Treiben. Menschen hasteten durch die weiten Gänge, schwere Rollkoffer hinter sich her ziehend. Lautsprecheransagen quäkten durch die Hallen. An den Check-in-Schaltern lange Schlangen ungeduldiger Reisender. Heinrich konnte sich Zeit lassen. Sein Anschlussflug würde erst morgen in aller Frühe aufgerufen. Die ganze Nacht im Wartesaal zu verbringen, dazu verspürte er nicht die geringste Lust, also nahm er ein Zimmer im Flughafenhotel. Wenigstens ein paar Stunden Schlaf wollte er sich gönnen. Er kaufte bei Burger King einen Whopper, kaute lustlos darauf herum und spülte mit einer Pepsi nach. Das war nicht nach seinem Geschmack. Er dachte an die Garnelen, die Cielo heute bereiten wollte. Die rote klebrige Sauce tropfte ihm über die Finger. Es war laut und zugig in der Halle, von draußen schwappte das Dröhnen der startenden und landenden Maschinen herein. Zwischen all den hin und her hetzenden Menschen fühlte sich Heinrich alleine, sehr alleine. Er rief seinen Halbbruder an, teilte ihm kurz seine Ankunftszeit am nächsten Morgen mit. In Montgomery plante er einen Mietwagen zu nehmen, um unabhängig zu bleiben, sich eine Fluchtmöglichkeit offen zu halten, sollte es gar zu unerträglich werden. Was könnte so schauderhaft werden, fragte er sich im Stillen. Die Stiefmutter mit ihrer aufdringlichen Art, der Halbbruder mit seiner Bande schreiender und unerzogener Kinder, oder vielleicht der Vater selbst? Ihre letzte Begegnung klebte Heinrich noch immer im Gedächtnis wie ein ausgelutschter Kaugummi. Sie waren im Streit auseinandergegangen, wie fast immer. Vater, der alte Choleriker, hatte einmal mehr herumgeschrien, ihn einen undankbaren, nichtsnutzigen Sohn geschimpft. Und Heinrich titulierte seinen Vater als alten Säufer, der nicht mehr im Stande sei einen klaren Gedanken zu fassen. Augenblicklich tat ihm sein unkontrollierter Wutausbruch leid. Er schaffte es nicht sich zu entschuldigen. Wortlos trennten sie sich, jeder mit seinem Groll, seiner tiefen Verletzung, die nicht das Geringste mit der auslösenden Situation zu tun hatte.

Sein Bruder bestand darauf, ihn vom Flughafen abzuholen. Heinrich versuchte es mit einer Ausflucht, die kam irgendwie halbherzig herüber und so willigte er schließlich gequält ein. Er fühlte sich als sei er in einem Käfig gefangen aus dem es kein Entrinnen gab. Jetzt war er darauf angewiesen, mit seinem Halbbruder zu fahren, oder mit einem anderen Familienmitglied. Im Stillen hoffte er, wenigstens ein paar Augenblicke alleine mit dem Vater verbringen zu können. Ob das unter diesen Umständen möglich wäre, daran zweifelte er. Er ahnte, möglicherweise könnte dies die letzte Gelegenheit sein. Heinrich haderte mit sich. Wieder einmal hatte er nachgegeben, gegen seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse gehandelt. Warum nur passierte ihm das immer wieder? Hing es mit dem frühen Tod der Mutter zusammen? Wie sehr sie ihm fehlte, begriff er erst mit den Jahren. Doch dieses Sinnieren machte keinen Sinn. Cielo gab ihm nie das Gefühl er handle falsch. Sie war überhaupt eine wunderbare Frau. Automatisch griff er in die Tasche, fischte sein Handy heraus, um sie anzurufen. Er sehnte sich nach ihrer warmen weichen Stimme. Sie verstand es wie sonst niemand ihn mit wenigen Worten zu trösten. Da ähnelte sie der Mutter. Das Telefon läutete lange, Cielo hob nicht ab. Vielleicht hörte sie das Klingeln nicht, schlief schon, doch nein, dazu schien es zu früh. Besuchte sie eine Freundin? Oder war sie gar ins Kino gegangen? Heinrich fühlte sich mutterseelenallein. Ein Gefühl, das er verdammt gut kannte und das ihn sein Leben lang begleitete. Immer in schwierigen Situationen spülte seine Seele diese grenzenlose, dunkle und abgrundtiefe Einsamkeit nach oben. Obgleich es hierfür selten einen Anlass gab. Es lief alles reibungslos in seinem Leben. Zu glatt. Manchmal beschlich ihn eine bange Furcht, vor etwas Namenlosem, Grausamen, einem plötzlichen Schicksalsschlag. Er konnte diese Urangst nicht benennen, doch sie war da, verstärkte sich in letzter Zeit noch.

„Was spinnst du dir wieder für einen Blödsinn zusammen“, versuchte er die düsteren Gedanken zu verscheuchen. Doch so einfach ging das nicht. Heinrich schüttelte unwillig den Kopf. Um sich abzulenken bummelte er durch die Boutiquen, stöberte im Buchladen. Er fand nichts, was ihn interessierte. Müde und unzufriedenen warf er sich auf das Bett und schaltete, um sich zu beruhigen, einen Pornokanal ein. Er brauchte Sex wie andere Menschen ihren täglichen Morgenkaffee. Den Weckdienst hatte er für 5:00 Uhr bestellt. Sein Flug nach Montgomery startete als einer der ersten. Bald fiel er in einen fiebrigen Schlaf, den Daumen im Mund. Angstträume peinigten ihn die halbe Nacht. Im Traum begegnete er der Mutter, doch jedes Mal wenn er sie ansprach, oder umarmen wollte, zerstob ihr Bild im wabernden Nebel. Mehrmals wachte er schweißgebadet auf, versuchte sich mit einem Glas kalten Wassers zu beruhigen, bevor er wieder in seinen unerfrischenden Schlaf sank. Am Morgen wälzte er sich schlaftrunken aus dem Bett. Er hatte vergessen, den Rasierapparat einzupacken und er musste unrasiert zum Frühstück. Er trödelte mit Brötchen und Kaffee so lange herum, dass er, als er sich endlich aufraffte, sich als letzter durch den Einstieg der Boeing 737 quetschte. Außer Atem ließ er sich in den Sitz fallen. Er wollte ein wenig Schlaf nachholen, doch seine Gedanken entführten ihn erneut in die Vergangenheit. Er tastete nach dem Bild in seiner Brusttasche und nahtlos knüpfte er an die Ereignisse nach dem Tod der Mutter an.

Die Wochen und Monate nach Mutters Tod lasteten wie Blei auf Vater und Sohn. Wie ein dumpfer schwerer Schleier hing die Trauer über dem Haus, wehte durch die Räume, dämpfte jedes laute Wort, jede Fröhlichkeit. Dolores versuchte Heinrich aufzuheitern, es glückte ihr nicht. Besonders bedrückend waren die Wochenenden, wenn er mit dem Vater alleine blieb. Jeden Abend betrank sich der Vater und oft versuchte Heinrich ihn verzweifelt am nächsten Morgen wachzurütteln. Montags räumte Dolores kopfschüttelnd die leeren Bourbonflaschen in den Abfalleimer.

„Der Kummer bringt ihn noch um, wenn er weiter so trinkt, wird seine Leber das nicht lange mitmachen“, sagte die dicke Mum eines Mittags beiläufig zu ihm. Da hatte Heinrich gerade seinen zwölften Geburtstag überstanden. Feiern konnte er das nicht nennen. Der Vater hatte seinen Jahrestag vergessen, wie schon die Jahre vorher. Am Abend machte er ein betretenes Gesicht, versprach ihm ein tolles Geschenk, auf das Heinrich vergeblich wartete. Er entschuldigte sich unter Tränen, zog sich eine halbe Stunde später wortlos in sein Arbeitszimmer zurück. Heinrich hörte, wie er eine neue Flasche entkorkte. Weinend schlich er in sein Bett, schlief unter Tränen ein. Die Bemerkung seiner Nanny schürte zusätzliche Ängste in seinem Herzen. Der Vater war der einzige Mensch auf der Welt, der ihm blieb. Was, wenn auch ihm etwas zustieße. Dann wäre er ganz alleine und er fühlte sich doch noch so klein. Manchmal auch überfiel ihn eine grenzenlose Wut und er haderte mit dem Vater und der Mutter, die ihn so früh verlassen hatte. Dann stürzte er in sein Zimmer und trat mit dem Fuß gegen die Schranktür. Dem Vater gegenüber jedoch ließ er sich nichts anmerken. Der hätte ihm möglicherweise auch noch das letzte Quentchen Liebe entzogen. Er überlebte die Jahre mit dem Mut der Verzweiflung, bemühte sich nicht über sein Elend nachzugrübeln. Für ihn gab es nur eine Chance, er musste schnell erwachsen werden, schneller als all die anderen Kinder in der Schule, schneller als die Mädchen in der Nachbarschaft. Und Heinrich wurde erwachsen, lange vor seiner Zeit. Das Gesicht mit den brennenden dunklen Augen wirkte immer eine Spur zu ernst. Seine täglichen Aufgaben bewältigte er klaglos, ja er bemühte sich ein Übriges zu tun. Bald übertrug ihm der Vater auch wichtigere Aufgaben als Abspülen und Putzen und Heinrich erledigte diese Pflichten mit großer Sorgfalt. Wenn er sich jedoch unbeobachtet fühlte, fielen seine Schultern herab und nicht selten kämpfte er mit den Tränen. Stillschweigend sorgte er für den Vater. Er achtete darauf, dass dieser wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu sich nahm. Mit leisem Vorwurf quittierte er es wenn der Vater sich eine neue Flasche aus dem Schrank holte. Er begann auf den Flaschen des Vaters mit wasserfestem Stift Markierungen anzubringen und er vereinbarte mit dem Vater wie viel dieser pro Nacht trinken durfte. Natürlich hielt sich dieser nicht daran, beschimpfte den Jungen unwirsch. So wurde Heinrich, ohne es zu wollen zum heimlichen Komplizen des Vaters. Da zählte er gerade einmal dreizehn Jahre. Äußerlich gab es im Haus der Gerstones nichts auszusetzen und doch hatte der frühe Tod der Mutter Heinrich die Kindheit geraubt, ihn für immer geprägt. Die Angst einen Menschen, den er liebte zu verlieren, begleitete ihn sein ganzes weiteres Leben. Er konnte diese Furcht gut verbergen, doch stets lauerte sie auf dem Grund seiner Seele, bereit bei der nächstpassenden Gelegenheit hervor zu kriechen, ihm die Kehle zuzuschnüren, ihm die Lebensfreude auszusaugen, ihn zu vernichten.

An einem warmen Sonntagvormittag nahm der Vater ihn zur Seite.

„Heinrich“, sagte er und starrte verlegen auf den Boden, vermied es den Sohn anzusehen, „es wird Zeit, dass wir wieder eine Mutter für dich finden.“

Heinrich erschrak zutiefst. Was sollte diese Ankündigung, die wie eine Drohung klang? Er verstand die Welt nicht mehr. Hatte er nicht alles getan, damit es dem Vater gut ging.

„Ich brauche keine Mutter“, stieß er heftig hervor, „ich habe eine Mutter und die ist tot. Habe ich nicht alles getan, damit du dich wohl fühlst? Sag, was muss ich noch tun?“

Tränen standen in seinen Augen.

„Das verstehst du nicht“, meinte der Vater und kaum hörbar fügte er hinzu, „ich glaube, ich schaffe es nicht, alleine zu sein.“

„Aber du hast doch mich“, schluchzte Heinrich.

„Ich liebe dich über alles, aber ich denke, es ist das Beste für dich.“

Es schien, als sei die Entscheidung schon gefallen. Der Vater versuchte, den weinenden Jungen zu trösten, legte versöhnlich den Arm um ihn. Heinrich stieß ihn schroff von sich und stürzte blind vor Tränen in sein Zimmer, wo er sich heulend auf das Bett warf. Sie erwähnten das Thema nicht mehr. Am übernächsten Wochenende schleppte der Vater diese Weibsperson ins Haus. Sie war jung, sehr jung sogar. Heinrich erinnerte sich, die Frau auf der Beerdigung der Mutter gesehen zu haben. Sie trug dieses aufdringliche Parfüm, hatte ein dünnes Sommerkleid an, das mehr von ihren Brüsten zeigte, als es verhüllte. Sie lachte laut und schrill, war breit geschminkt mit einem scharlachroten Lippenstift, was auf Heinrich vulgär wirkte. Wehmütig erinnerte er sich daran, wie schlicht und unaufdringlich seine Mutter gekleidet und geschminkt gewesen war. Der Vater hatte sich, wie schon seit langer Zeit nicht mehr, herausgeputzt, ein weißes Hemd angezogen, sich rasiert.

„Dein Vater hat dich seit dem Tod deiner Mutter gut versorgt“, stellte sie fest und tätschelte Heinrich gönnerhaft den Arm. Er lächelte bitter.

„Richtig groß bist du geworden, sicher hast du schon eine kleine Freundin.“ Sie wollte ihn an sich drücken, doch Heinrich, der genau das befürchtet hatte, wich mit einer schnellen Drehung aus. Später aßen sie auf der Veranda. Vater hatte den Tisch festlich gedeckt. Mutters weißes Porzellan mit den kleinen blauen Blüten, das sie als einziges Erbstück aus Europa in die neue Welt hinüberretten konnte. Seit dem Tod der Mutter war dieses Festtagsporzellan nicht mehr auf den Tisch gekommen. Es weckte zu viele Erinnerungen an die Tote und sie hatten das Geschirr in stillschweigender Übereinkunft weggeschlossen. Nun stand es auf dem Tisch und Heinrich kam dieses Handeln des Vaters wie ein Tabubruch vor. Die Erwachsenen tranken eine Margarita, die der Vater galant servierte. Sie prosteten sich zu und die Frau beugte sich dabei so weit vor, dass der Vater in ihren weiten Ausschnitt starren konnte. Dabei lachte sie tief und kehlig. Sie war sich ihrer Wirkung bewusst und Heinrich wurde das Gefühl nicht los, diese Frau wollte seinen Vater verführen. Sie aßen Steaks und der Vater bemühte sich ein aufmerksamer Gastgeber zu sein. Er schenkte Wein nach, legte Fleisch vor, reichte die Schüssel mit den gebackenen Kartoffeln. Die beiden leerten zwei Flaschen Wein. Heinrich belauerte sie peinlich berührt. Vater streichelte die Hand der Frau, wenn er sich von Heinrich unbeobachtet fühlte. Er registrierte es trotzdem, missbilligend. Ihr Name war Michelle und sie stammte aus irgendeiner Stadt in Alabama. Der Junge senkte schamhaft den Blick, aufstehen durfte er nicht, denn der Vater hatte ihm eingeschärft, sich tadellos zu benehmen. Leicht angetrunken vollführte der Vater eine fahrige Bewegung. Ein halbvolles Rotweinglas fiel um, der Inhalt ergoss sich über den Tisch und tropfte von dort auf das geblümte Sommerkleid der Frau, wo der Wein einen widerlichen blutroten Fleck bildete. Sie sprang auf, blitzte den Vater an.

„Pass doch auf, du Tollpatsch!“, fauchte sie. Während sie in die Höhe schoss, geriet ihr Teller ins Rutschen, in Zeitlupe kippte er über den Rand des Tisches. Mit angsterfüllten Augen beobachtete Heinrich wie das zarte Porzellan mit der Kante auf dem Steinboden aufschlug und in tausend weiße, hässliche Splitter zersprang.

„Mutter“, flüsterte der Junge kreidebleich.

„Mein Kleid“, kreischte die Frau.

„Ich helfe dir“, aufgeregt der Vater. Heinrich saß wie versteinert. Der Vater versuchte den Fleck mit einer Serviette abzutupfen, machte jedoch alles nur schlimmer.

„Wo ist das Badezimmer?“, herrschte Michelle den Vater an. „Bring mir Salz, schnell, vielleicht kann ich das Kleid noch retten. Es war sehr teuer.“

Heftig gestikulierend verschwanden die beiden im Haus. Langsam löste sich Heinrichs Erstarrung. Er schlich in die Küche, holte Besen und Schaufel. Aus dem Badezimmer hörte er das aufreizende, dunkle Lachen der Frau. Heinrich kehrte die Scherben zusammen und schüttete den Teller mit den zersprungenen blauen Blumen in den Abfalleimer. Auf der Unterseite des geborstenen Tellers entdeckte er ein Wappen mit dem Namen: Herend. Aus dem Badezimmer kein Mucks. Vom Vater und der Frau keine Spur. Heinrich räumte den Tisch ab, setzte sich auf die Schaukel unter den tiefhängenden Zweigen der schützenden Eiche. Seine Gedanken weilten bei der Mutter, die feengleich das Haus mit ihrer Liebe erfüllt hatte. Nach einer Weile tauchten die beiden wieder auf. Der Vater mit gerötetem Gesicht, die Frau im zerknitterten Kleid. Der Fleck auf ihrem Schoß noch immer zu sehen, ihre Haare seltsam verwirrt und ihr Mund erschien ihm noch breiter, noch röter. Verlegen lächelnd nahmen die beiden wieder am Tisch Platz.

„Wie wäre es mit einem Kaffee?“, meinte der Vater. Sie nickte.

„Den mache aber ich, du süßer kleiner Tollpatsch“, sagte sie mit ihrer rauchigen Stimme, die nochmals ein wenig tiefer klang. Von diesem Tag an besuchte sie Michelle häufiger. Sie mischte sich in alles ein, kommandierte Dolores herum, die sich ihren Ton, gutmütig wie sie war, gefallen ließ und trug dem Jungen alle möglichen Verrichtungen auf. Sie selbst machte es sich auf der Veranda gemütlich, sonnte sich und ließ sich bedienen. Meist lag sie im Liegestuhl, bräunte sich in einem knappen Bikini, an dessen Oberteilen sich der Busen herausdrückte. Nur selten blinzelte sie über den Rand ihrer zu groß geratenen dunklen Sonnenbrille. Heinrich beäugte sie des Öfteren von der Seite und er stellte fest: Sie war eine attraktive Frau. Und eines musste er ihr zugute halten, seit sie im Haus verkehrte, hatte der Vater die nächtliche Trinkerei erheblich eingeschränkt. Er begann sogar wieder Sport zu treiben, um seinen Bauchansatz zu kaschieren. Offenbar verstanden sich Vater und Michelle prächtig, denn häufig klang nachts ihr gurrendes Lachen aus dem Schlafzimmer des Vaters, wo sie, wie selbstverständlich im Bett der Mutter schlief. Das Thermometer kletterte in diesem Sommer über die 40-Grad-Marke und noch nach Mitternacht trieb die Hitze den Schweiß auf die Haut. Heinrich, den die Wärme nicht schlafen ließ, holte sich im Dunkeln aus dem Kühlschrank ein Glas Wasser. Da klappte die Tür des Schlafzimmers und Michelle huschte in die Küche. Im nur vom fahlen Licht der Straßenlaternen spärlich erhellten Raum sah Heinrich, sie war nackt. Seine Mutter hatte er nie unbekleidet gesehen. Sie wirkte angetrunken. Schamhaft drehte er sich zur Seite. Sie winkte ihn zu sich.

„Hast du noch nie eine nackte Frau gesehen?“, stammelte sie mit schwerer Zunge. Heinrich schüttelte den Kopf.

„Da ist doch nichts dabei.“ Ihre Brüste schimmerten matt und zwischen den Beinen zeichnete sich schemenhaft ein schwarzes Dreieck ab. Heinrich spürte wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Die Geliebte seines Vaters völlig ohne Scham vor sich zu sehen, verwirrte ihn. Er kam sich wie ein ertappter Spanner vor. Sie schenkte sich ein Glas Wasser aus der Flasche ein und das funzelige Licht des Kühlschranks warf einen flüchtigen Strahl Helligkeit auf ihr erhitztes Gesicht. Ihre Haare hingen in wirren Strähnen in die Stirn und kleine Schweißperlen standen zwischen den Brüsten. Ihre Brustwarzen schimmerten dunkelrot und Heinrich stellte nüchtern fest, sie standen deutlich hervor.

„Komm her, mein Kleiner“, lockte sie ihn mit vibrierender Stimme. Zaghaft trat Heinrich einen Schritt näher.

„Na komm schon, ich beiße nicht.“ Heinrich machte einen Schritt und noch einen. Er stand dicht vor ihr. So nah, dass er glaubte die Wärme ihres Körpers zu spüren. Er zitterte, fühlte sich seltsam erregt. Sie packte mit einer flinken Bewegung seine Hand, legte sie auf ihren schweißnassen Busen.

„Du musst sie streicheln“, flüsterte sie. Und Heinrich, in seiner Not, fuhr zaghaft über die blauschimmernden Nippel.

„Fester, ein bisschen fester, mein Kleiner.“

Heinrich tat wie ihm geheißen.

„Wie ist das?“

Heinrich schämte sich zu Tode. Er kam sich wie ein Verräter vor, zugleich jedoch spürte er ein merkwürdiges, ihm unbekanntes Verlangen. Seine Kehle wurde staubtrocken.

„So ist es gut“, wisperte sie. Mit wenigen geschickten Handgriffen knöpfte Michelle sein Schlafanzugoberteil auf. Sie fuhr mit der Hand hinein und streichelte seine kleinen Brustwarzen. Das fühlte sich süß und wehmütig an. Heinrich wurde gewahr, dass sich zwischen seinen Beinen etwas rührte.

„Streichele mich tiefer“, raunte sie erregt und führte Heinrichs Hand zu dem schwarzen Dreieck. Er wagte nicht sich zu wehren, legte gehorsam seine Rechte auf das feuchte Haarbüschel, mit der linken massierte er den üppigen Busen.

„Du bist ja richtig erfahren, kleiner Mann“, lächelte sie, „greif zu.“ Heinrich schauderte als er tiefer drang. Ihre lüsternen Hände wanderten in seine Shorts, fanden das steil aufgerichtete Glied und begannen damit zu spielen.

„Was für ein nettes kleines Spielzeug“, hauchte sie ihm ins Ohr. Seine kindliche Unschuld reizte sie. Sie drückte ihn fest an sich, presste ihren Busen an sein Gesicht, ihre Hüften an die seinen, wiegte sie sich leicht hin und her. Sie roch säuerlich, fischig durchweht von einem Hauch ihres schweren Parfüms. Vor Heinrichs Augen ballten sich rote Nebel, er fühlte sein Blut rasen, in seinen Ohren dröhnte es. Gleich würde er explodieren im Taumel der Verzückung. Da öffnete sich im ersten Stock die Schlafzimmertür und ein greller Lichtstrahl tastete sich durch die Dunkelheit.

„Wo bleibst du?“, rief der Vater ungeduldig.

Erschreckt fuhren sie auseinander. Michelle legte den Finger auf ihren Mund, bedeutete ihm still zu schweigen und schritt aufreizend langsam nach oben. Tat, als sei nichts geschehen.

„Ich bin schon da.“

Die Tür fiel klackend ins Schloss, kurz darauf hörte Heinrich ihr gurrendes Lachen. Beschämt stand er im Dunkeln, unfähig sich zu rühren und unschlüssig, was er mit seiner aufgestauten Erregung anfangen sollte. Er schlich ins Bad, kühlte die heißen Wangen mit frischem Wasser, allmählich kehrten seine klaren Gedanken zurück. Er schlüpfte aus der Hose, ließ in der Dusche eiskaltes Wasser über sein erhitztes Glied laufen. Abgekühlt stahl er sich zurück in sein Zimmer und warf sich auf sein Bett. Seine aufgewühlten Gefühle schwappten durcheinander, wie bewegte Wellen.

Mit keinem Wort erwähnten sie diese Nacht. Heinrich ging Michelle aus dem Weg so gut es eben ging. Heimlich jedoch spionierte er der Frau nach, hinter der Gardine seines Zimmers versteckt beobachtet er sie, wie sie sich in der Sonne räkelte. Ab und zu, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, legte sie ihr Bikinioberteil ab. Heinrich sah es und er schob die kleine Hand in seine Hose. Ohne dass er es merkte, wurde ihm dies zur Gewohnheit, so wie er auch wenn er sehr einsam war den Daumen in den Mund steckte und daran nuckelte.

„Es ist Sünde“, dachte er und schämte sich sehr. Michelle hatte ein wollüstiges Trugbild in ihm geweckt und des Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, rief er sich die Szene in der Küche ins Gedächtnis. Seine erregte Fantasie malte sich die verbotene Begegnung so lange in schwülen Farben aus, bis ihm das Glied in der Hose stand.

Die Wochen danach konnte Heinrich dem Vater kaum in die Augen blicken, und die spöttischen Blicke Michelles quälten ihn. Meist hockte er stumm am Mittagstisch, antwortete nur das Nötigste auf ihre Fragen und fühlte sich so verlassen wie lange nicht mehr in seinem kurzen Leben. Dabei sehnte er sich nach den nie gekannten zärtlichen Berührungen. Der Vater in seiner blinden Verliebtheit bemerkte es kaum. Fragte er den Sohn etwas Belangloses, schoss Heinrich die Röte ins Gesicht.

„Vielleicht ist er verliebt“, stichelte Michelle und lächelte vielsagend.

Zwei Monate später zog Michelle in das Haus in der Tolita Avenue. Sein Vater schien überglücklich, doch Heinrich litt sehr. Er verbarg seinen Kummer, das hatte er seit dem Tod der Mutter gut gelernt. Ab und zu an einem sonnigen Nachmittag schwang er sich auf sein Mountainbike und radelte zum Friedhof. Am Grab der Mutter legte er ein paar Blumen nieder, die er im Garten gepflückt hatte, dabei weinte er bitterlich.

Heinrichs erste sexuelle Erfahrungen führten dazu, dass er sich fast zwanghaft den halbwüchsigen Mädchen in seiner Klasse zuwandte. Er ging mit ihnen in die Nachmittagsvorstellung des Kinos, legte seine Hand verstohlen auf ein nacktes Knie. In seiner ungelenken Art versuchte er, die eine oder andere zu küssen, jedoch endeten diese Annäherungsversuche meist beschämend. Er wurde ausgelacht, wenn nicht, noch schlimmer, eine Ohrfeige auf seiner Wange brannte.

Die Stimmung blieb aufs Äußerste gespannt und Heinrich vermied es, wo immer er nur konnte, seine Tage zuhause zu verbringen, lieber schrieb er sich für alle möglichen Kurse ein. Ein Außenstehender hätte meinen können, der Junge entwickle einen besonderen Ehrgeiz, doch in Wirklichkeit war sein Fleiß nichts anderes als eine hilflose Flucht. Gewiss lernte Heinrich eine Menge und er war einer der Besten in seinen Kursen. Allein auch der größte Ehrgeiz reichte nicht aus, seine innere Leere, seine Verzweiflung, sein unbewusstes Suchen nach Liebe zu stillen. Selten nur musterte ihn der Vater verstohlen von der Seite. Er bemerkte wie sein Sohn heranwuchs, ein wenig zu ernst, ein wenig zu verschlossen. Doch er wagte es nicht, ihn anzusprechen. Ab und zu legte er fürsorglich den Arm um die Schultern des schmächtigen Jungen. Dann spürte Heinrich einen Kloß der in der Kehle würgte und gewaltsam unterdrückte er die Tränen, die aus seinem Innersten nach oben drängten.

Der Vater und Michelle lebten seit geraumer Zeit zusammen und die drei hatten sich mehr schlecht als recht arrangiert. An einem schönen Sonntagnachmittag saßen sie auf der Terrasse, beobachteten die weißen Segel auf dem Meer, tranken Kaffee und aßen Blaubeermuffins. Die Sonne schien warm und Heinrich fühlte sich seit langer Zeit wieder behaglich. Der vorherige Abend mit Susan hatte ihm keine Abfuhr beschert und noch immer spürte er ihre weichen Lippen, die sie ungeschickt auf die seinen gepresst hatte.

„Heinrich“, hob der Vater an, „wir müssen dir etwas sagen.“

Eine düstere Vorahnung überfiel Heinrich, er schluckte und wartete geduckt wie ein Hund, auf den gleich eine Serie von Hieben niederprasseln würde.

„Wir werden heiraten“, sagte der Vater, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, dabei nahm er Michelles Hand und blickte sie zärtlich an. Heinrich hatte es geahnt, gefürchtet. Nun war es ausgesprochen.

„Was sagst du dazu?“, wollte der Vater wissen.

„Was soll ich dazu sagen, und was würde es ändern“, antwortete der Junge trotzig.

„Ich denke dabei an dich, sieh mal, Michelle könnte sich um dich kümmern.“

„Hat sie bis jetzt nicht getan“, wollte er sagen, doch er verschluckte die zornigen Worte rasch. Stattdessen saß er mit gesenktem Kopf, er sah den Vater nicht an, er sah Michelle nicht an. Unbehagliches Schweigen entstand.

„Wir dachten du freust dich“, mischte sich die Frau ein, „du könntest Mutter zu mir sagen.“

„Niemals, niemals, ich habe eine Mutter und die ist tot“, stieß Heinrich hervor. Er sprang heftig auf, so dass sein Stuhl mit lautem Gepolter umfiel, stürzte wortlos in sein Zimmer. Dort warf er sich schluchzend auf sein Bett. Die beiden folgten ihm nicht, sahen sich betreten an.

„Lass ihm Zeit, er wird sich daran gewöhnen“, meinte der Vater. Doch Heinrich gewöhnte sich nicht daran. Hatte er gehofft durch sein abweisendes Verhalten den Entschluss der beiden torpedieren zu können, sah er sich getäuscht. Die Hochzeit fand an einem Sonnabend statt. Pflichtschuldigst wohnte Heinrich der Zeremonie bei. Im ganzen Haus wimmelte es von übertrieben lustigen, lauten Gästen. Michelle hatte ihre ganze Südstaaten-Verwandtschaft eingeladen. Eine Ansammlung locker gekleideter Menschen, die sich etwas einbildeten auf ihre Vorfahren die auf Seiten der Konförderierten im Sezessionskrieg gekämpft hatten. In diesem Kreis zählte nur die Familie bei der wenigstens ein männliches Mitglied gefallen war. Sie prahlten mit ihrem Reichtum als Baumwollfarmer, ihren Feldern die bis zum Horizont reichten. Heinrich erschienen sie hochnäsig und was er auf den Tod nicht leiden konnte, waren die vielen tätschelnden Gesten, denen er ausgesetzt war. Michelle blühte in der Gesellschaft auf, sie tänzelte zwischen den Gruppen hin und her, lachte laut und machte den Eindruck einer Frau, die endlich ihr Ziel erreicht hatte. Als sie Heinrich entdeckte, zog sie ihn an sich und sie ließ es sich nicht nehmen den Jungen jedem ihrer vielen Vettern und Basen vorzustellen.

„Das ist mein Heinrich“, flötete sie.

„Ich bin nicht dein Heinrich“, knurrte er wütend. Sie überhörte seinen Protest. Er musste unzählige Hände schütteln, nichtssagende Worte mit nichtssagenden Menschen wechseln, schon wurde er zum nächsten Grüppchen gezerrt. Sein Vater lehnte mit einigen Männern, die breitkrempige Hüte trugen, an der Bar und Heinrich sah aus den Augenwinkeln, er hatte mehr getrunken als ihm gut tat. Er wirkte nicht glücklich. In einem günstigen Augenblick, Michelle hatte den klammernden Griff um sein Handgelenk etwas gelockert, entkam er. Er verdrückte sich in die Küche, wo seine mexikanische Nanny Hors d’œuvres herrichtete. Platten gefüllt mit Lachsforellenfilets mit Sahnemeerrettichhäubchen, rot glasierte Truthahnbrüste mit goldglänzenden kleinen Maiskolben. Dazwischen alle Sorten von Obst, Trauben aus Mendocino, Äpfel aus dem Joaquin Valley, daneben eingelegte Artischocken und die kalifornische Spezialität gebackene Knoblauchzehen. Auf der Anrichte standen Platten mit mexikanischen Leckerbissen wie Burritos und knusprige Empanadas, dazwischen saftige Kaktusfeigen in Anislikör. Als Dolores Heinrich erblickte, der verloren in der Tür stand, ließ sie die Arme sinken.

„Mein armes Jungchen“, seufzte sie und drückte ihn an sich. „Das wird schon“, meinte sie begütigend. Heinrich zweifelte daran. Er schlich in sein Zimmer, legte sich im Anzug aufs Bett und starrte die Decke an. Im allgemeinen Trubel vermisste ihn niemand. Eingelullt durch das Stimmengewirr, die Musik, schlief er ein. Er erwachte mitten in der Nacht, wie spät es war wusste er nicht, die Gäste waren gegangen. Heinrich lag noch immer bekleidet auf dem Bett. Als er sich ausgekleidet hatte und ins Bad huschen wollte, hörte er den Vater und Michelle heftig streiten. Lautstark warfen sie sich Schimpfwörter an den Kopf. Der Vater hatte zu viel getrunken. Mit lallender Stimme beschuldigte er Michelle mit einem anderen Mann geflirtet zu haben. Bekümmert schlüpfte Heinrich zurück unter die Decke. Michelle und seine Mutter waren gegensätzlich wie Feuer und Wasser. Er vermisste die Mutter, die immer sanft und zärtlich zu ihm war, die nie ein lautes Wort über die Lippen brachte.

Knapp ein Jahr später wurde sein Halbbruder geboren. Ein fettes kleines Kind, das ununterbrochen schrie und an dem Michelle mit einer wahren Affenliebe hing. Sie nannten ihn Robert Eduard, nach dem berühmten Südstaatengeneral der Sezessionskriege. Und tatsächlich zeigte der Kleine im Laufe seiner Entwicklung ein herrisches Gehabe, welches Heinrich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Mit dem Familienleben stand es nicht zum Besten. Vater und Michelle gerieten immer öfters in Streit, der Vater konnte die Ansprüche seiner jungen Frau nicht befriedigen. Heinrich fand ihn wieder öfters über einem Glas Whiskey brütend im Arbeitszimmer. Er sah müde aus und verloren. Es schmerzte ihn in der Seele, den Vater so elend zu sehen, doch er konnte ihm nicht helfen. Er selbst besuchte inzwischen die University of California in San Diego, hatte sich für ein Architektur-Studium entschieden. Nicht von ungefähr, denn durch seine Leidensgeschichte war es ihm eine Herzenssache geworden, in seinem Leben etwas aufzubauen, etwas Festes, im Boden Verankertes, das Halt gab und Schutz, in dem man sich geborgen fühlen konnte. Seine Dozenten sagten von ihm, das Talent wäre ihm wohl in die Wiege gelegt worden. Es machte ihm Freude, klar abgegrenzte Räume zu entwerfen, funktionelle Abläufe zu gestalten und in Zeichnung und Modell umzusetzen.

Eines Tages, Heinrich präsentierte stolz das Modell eines Fabrikgebäudes, sagte der Vater:

„Dein Großvater war zu seiner Zeit ein bekannter Architekt.“ Dann verstummte er. Als Heinrich mehr wissen wollte meinte er abwehrend:

„Später mein Junge, später.“ Damit musste sich Heinrich zufrieden geben. Zu seinem achtzehnten Geburtstag schenkten sie Heinrich sein erstes Auto. Einen gebrauchten orangeroten VW Käfer. In Kalifornien waren diese Fahrzeuge bei den jungen Leuten in Mode. Er fuhr mit dem Wagen über das Land, genoss seine Unabhängigkeit, zeichnete Gebäude, besichtigte alte Kirchen und Klöster, Wohnhäuser und Wolkenkratzer. Besonders hatte es ihm der Architekt Frank Lloyd Wright angetan. Das von ihm entworfene Haus „Fallingwater“ liebte er über alles.

Als er eines Abends von einer mehrtägigen Exkursion zurückkehrte, fand er die Stiefmutter in Schwarz mit rot verweinten Augen. Ihre Mutter war gestorben, den Vater hatte sie schon in jungen Jahren verloren. Am nächsten Tag flog sie mit dem Vater und dem Halbbruder nach Selma, um die Beerdigung zu arrangieren. Michelle war die einzige Tochter und, wie sich bei der Testamentseröffnung herausstellte, die Alleinerbin eines beträchtlichen Vermögens. Zu ihrem Besitz gehörten ein Herrenhaus von schlossähnlichen Ausmaßen nebst einer Baumwollfarm und eine Firma zur Vermarktung von Agrarprodukten. Im Haus dienten eine schwarze Köchin, ein schwarzer Diener, ein Zimmermädchen und ein Gärtner, der den weitläufigen Park in Ordnung hielt. Heinrich, den eine dringende Klausur hinderte, konnte nicht mitfahren. In Selma erwartete Michelle ein Leben im Überfluss, wie sie es aus ihrer Kindheit kannte. Die Frage, ob sie die Farm weiterführen würde, stellte sich für sie nicht. Hier war sie aufgewachsen, herrschte wie eine Königin. Es bedurfte nur minimaler Überredungskünste und einer leidenschaftlich verbrachten Nacht, schon stimmte der Vater einem Umzug nach Alabama zu. Zwei Wochen später, die beiden kamen kurz zurück, wurde Heinrich vor vollendete Tatsachen gestellt. Es kränkte ihn, dass sie ihn nicht gefragt hatten, andererseits war er froh, die ungeliebte Stiefmutter und den lästigen Halbbruder loszuwerden. Für ihn kam eine Übersiedelung nicht in Betracht, er wollte sein Studium auf keinen Fall unterbrechen und in Alabama wären seine Möglichkeiten als Student nicht annähernd so gut gewesen. Nach kurzer Beratung entschieden sich die Gerstones für eine Trennung. Heinrich blieb in Coronado, behielt das Haus, das ursprünglich seiner Mutter gehört hatte. Der Vater, die Stiefmutter und Eduard zogen nach Alabama. Jahrelang hatte er davon geträumt sein eigener Herr zu sein. Jetzt konnte er tun und lassen was er wollte, doch die ungewohnte Stille im Haus ängstigte ihn. Ein halbes Jahr ließ er die Räume unverändert, eine heilige Scheu hinderte ihn, die Möbel zu verrücken oder das verschlissene Sofa wegzuwerfen. Jedes Stück erinnerte ihn an die verstorbene Mutter. Den Vater vermisste er weniger. Er fühlte sich sogar erleichtert, denn noch immer lastete die Verantwortung für den Vater auf ihm, auch wenn er diese Bürde nicht mehr tragen musste. Heinrich erkannte rasch, dass ihm das Alleinsein nicht gut tat und er pinnte einen Zettel an das schwarze Brett der Universität.

„Zimmer in ruhiger Umgebung an Studenten zu vermieten.“

Schnell hatten sich zwei Kommilitonen gefunden und das Leben kehrte zurück in das stille Haus in der Tolita Avenue. Sie feierten wilde Partys mit Mädchen und jeder Menge Alkohol oder sie lagen gemeinsam faul am Strand in der Sonne. Ab und zu brachte Heinrich eine Studentin mit nach Hause, die blieb eine Nacht, manchmal auch einen Monat oder zwei. Etwas Ernsteres entwickelte sich nicht daraus. Trotz des lockeren Lebens vernachlässigte Heinrich nie sein Studium. Der Kontakt zu seiner Familie blieb spärlich, selten nur, in den Ferien flog er nach Alabama, sah den Vater, ging er mit ihm im Park spazieren und sie sprachen über belanglose Dinge. Am bekannten Geruch merkte er, der Vater trank wieder, und sie hatten sich nicht viel zu sagen. Heinrich spürte eine gewisse Lethargie bei ihm. Der viele Bourbon tat ein Übriges. Heinrich erlebte den Vater öfters mit triefenden Augen und manches Mal musste er ihn bei den gemeinsamen Spaziergängen stützen. Die ständige Alkoholfahne, schon am frühen Morgen, ekelte ihn und er fragte sich mehr als einmal: „Warum tust du dir das an?“ Seine Stiefmutter hingegen entwickelte sich mehr und mehr zu einer tüchtigen Geschäftsfrau. Sie kommandierte die Arbeiter auf der Farm herum, wirbelte durch das Kontor und hielt alle auf Trab. Ihren Gläubigern gegenüber verhielt sie sich knallhart. Mehr als eine Rechtsanwaltskanzlei war damit beschäftigt, ihre Streitigkeiten auszufechten und Außenstände einzutreiben. Eduard, der Sohn zeigte immer mehr sein hässliches Gesicht. Vom Nichtstun war er so fett geworden, dass ihm der Hemdknopf über dem Bauch abgeplatzt war, seiner Mutter ähnlich scheuchte er das Personal herum. Er bemühte sich nicht um Bildung, lungerte lieber mit anderen gelangweilten Jugendlichen auf dem Tennisplatz herum und führte angeberische Reden. Einen Schläger nahm er nicht in die Hand. In dieser Umgebung fühlte sich Heinrich nicht heimisch und seine Besuche wurden von Mal zu Mal kürzer, bis sie schließlich ganz aufhörten.

Einer von Heinrichs Mitbewohnern hatte sein Studium abgeschlossen und war nach Salton City zu seiner Familie zurückgekehrt. Also befestigte Heinrich seinen Zettel wieder am schwarzen Brett.

„Mitbewohner gesucht.“

Die Universität hatte in den letzten Jahren eine Reihe von günstigen Studenten-Appartements gebaut, trotzdem herrschte ein Mangel an billigen Unterkünften.

An einem Samstagmorgen, Heinrich trug noch seine Schlafshorts, klingelte es an der Tür. Draußen stand eine junge Frau, sie trug ein kurzes geblümtes Sommerkleid. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare fielen ihr bis über die Schultern hinab. Zwei große brennende Augen über einem vollen, sinnlichen Mund, die Lippen rosafarben betont. Die kleine Nase saß genau richtig, unterstrich die leicht vorgewölbten Wangenknochen. Die braune Haut wies auf ihre mexikanische Herkunft hin. Die buschigen Augenbrauen zusammengezogen, blickte sie ihn erwartungsvoll an. Heinrich stockte der Atem. Sie musterte die traurige Gestalt von oben bis unten, konnte sich ein Lachen nicht verbeißen. Es stand ihr bezaubernd.

„Sind Sie Heinrich? Ich komme wegen des Zimmers, oder störe ich?“

Heinrich stotterte: „Ja, äh, schon.“

Verlegen wischte er sich die Hände an den Shorts ab.

„Verdammt hübsch“, schoss es ihm durch den Kopf. Sie gefiel ihm auf den ersten Blick, obwohl er die Augen kaum aufbrachte.

„Kann ich das Zimmer sehen?“

„Oh ja, ja natürlich. Entschuldigen Sie meinen Aufzug, aufgeräumt habe ich auch noch nicht.“

„Keine Angst, ich putze schon nicht für Sie.“

Unschlüssig lehnte Heinrich in der Tür.

„Was ist, kann ich das Zimmer nun sehen? Ich bin Cielo, Cielo Cortinez.“ Sie reichte ihm die Hand und ein Hauch ihres exotischen Parfüms kitzelte ihn in der Nase. Als er entdeckte, dass sie keinen BH trug, war ihm das peinlich, er versuchte sie nicht anzustarren, was nicht einfach war.

„Ich bin Heinrich“, stotterte er nochmals verdattert. „Ich gehe mal vor.“

Sie besichtigte das Zimmer, es war nicht besonders groß, bot Platz für ein Bett, einen Schrank und am Fenster Raum für einen schmalen Schreibtisch. Das Schönste war der zauberhafte Blick auf das Meer.

„Wie schön“, jauchzte sie entzückt. „Ich liebe das Meer.“ Über die Miete wurden sie sich schnell einig und zum Ersten des nächsten Monats zog Cielo in das Haus in der Tolita Avenue. Schon in der Nacht nach ihrem Einzug stand er vor ihrer Tür, wagte aber nicht zu klopfen. Lauschte nur an der Tür, bevor er wieder in sein Zimmer tappte. Es dauerte über einen Monat, bis sie ihn einließ. So hatten sie sich kennen gelernt. Seitdem waren sie zusammen. Cielo studierte an der gleichen Universität wie Heinrich. Sie wollte Biologin werden, den Geheimnissen des Lebens nachspüren, doch nach vier Semestern gab sie entnervt auf. Sie hatte sich etwas anderes vorgestellt. Ihr Interesse galt dem Wachsen und Werden, nicht dem Zerlegen von einzelnen Pflanzen in ihre Bestandteile. Um sich ihr Studium zu verdienen, arbeitete sie nebenbei in einem Labor am Nancy Ridge Drive bei Necosar, einer kleinen Biotechnologiefirma. Sie betreute die Aufzucht von gentechnisch manipuliertem Mais. Der Umgang mit den Pflanzen schenkte ihr so etwas wie ein Heimatgefühl. Dort blieb sie nach dem abgebrochenen Studium als ungelernte Hilfskraft hängen. Was sie arbeitete, interessierte Heinrich nicht wirklich. Sie erzählte nur, sie betreue die Aufzucht von genetisch veränderten Pflanzen.

Bald wurden die beiden ein Liebespaar. Zur Feier seines Abschlussdiploms, das Heinrich mit Auszeichnung bestand, flog der Vater nach San Diego. Heinrich stellte ihm seine Freundin vor. Der Vater wirkte bekümmert, was Heinrich nicht störte, verband die beiden doch eine innige Liebe.

GMO

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