Читать книгу GMO - Andreas Zenner - Страница 6
ОглавлениеCoronado
„Bitte bleiben Sie solange angeschnallt, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben. Wir danken Ihnen, dass Sie mit US Airways geflogen sind und wünschen Ihnen einen guten Nachhauseweg“, tönte es aus den Bordlautsprechern. Kaum stand das Flugzeug drängten die Passagiere durch den engen Gang zur Kabinentür. Heinrich, einer der letzten, ergriff seine Reisetasche und schwankte, ganz in Gedanken, hinaus. Endlose Förderbänder schoben ihn in die Ankunftshalle. Hinter der Glaswand lehnte Cielo im bunten Sommerkleid und winkte. Er schloss sie innig in die Arme, drückte sich dicht an sie, presste seine Lippen auf ihren Mund wie ein Ertrinkender.
„Na, na“, spottete sie schelmisch, „du Weltreisender, das fühlt sich an, als wärst du eine Ewigkeit weg gewesen.“
Heinrich antwortete gedankenverloren:
„Mir kommen die zwei Tage wie Jahre vor.“
Er legte den Arm um ihre bloßen Schultern und gemeinsam suchten sie das Auto im Parkhaus.
„Wie geht es deinem Vater?“, wollte sie wissen, als sie den North Harbor Drive hinunterrollten.
„Nicht gut, es sieht so aus als läge er im Sterben. Der Arzt hat mir nicht viel Hoffnung gemacht.“
„Du Armer“, sagte sie mitfühlend und legte die Hand auf seinen Arm.
Schweigend fuhren sie zurück nach Coronado. Cielo war klug, drängte ihn nicht. Zuhause angekommen ließ Heinrich die Reisetasche achtlos in den Gang fallen.
„Ich gehe in den Garten“, murmelte er.
Sie nickte, „Ruh dich aus, ich mache das Abendessen.“
Durch die Halbgardinen des Küchenfensters sah sie ihren Mann auf der Schaukel sitzen und leicht hin und her wippen. Den Kopf an das Seil gelegt, starrte er in die Ferne.
„Es hat ihn mitgenommen“, dachte Cielo, „mehr als ich vermutete.“ Sie sprachen nicht viel an diesem Abend. Nachts liebte er sie wild und fordernd, bevor er erschöpft einschlief, den Daumen im Mund.
Nach dem Frühstück, die beiden wollten eben das Haus verlassen, stolperten sie über die Reisetasche.
„Die räume ich heute Abend weg“, bot sich Cielo an.
„Nein, nein das mache ich schon“, wehrte Heinrich ab. Sie fuhren zusammen ins Büro. Parkplätze waren am Nancy Ridge Drive schwer zu bekommen und ein Firmenparkplatz stand Cielo nicht zu.
„Komisch“, platzte Heinrich heraus.
„Vater hat mir ein merkwürdiges Buch gegeben. Er meinte ich sollte es haben. Offensichtlich das Tagebuch eines gewissen Gero von Gerstein. Ich habe im Flieger kurz hinein gesehen, da war ein Hakenkreuz eingeprägt. Sieht aus wie ein Relikt aus Nazi-Deutschland. Ich warf nur kurz einen Blick darauf und schlug es gleich wieder zu. Es ist besser so etwas sieht niemand.“
„Meinst du dein Vater hatte etwas mit den Nazis zu tun?“
„Möglich, aber –, nein, er ist doch erst 1943 geboren. Zwei Jahre vor Kriegsende. Da lag er noch in den Windeln. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem sieht das Buch älter aus.“
„Wir sollten uns dein Mitbringsel bei Gelegenheit näher ansehen“, meinte Cielo. „Irgendeine Bewandtnis muss es schließlich damit haben.“
Ihr Pickup reihte sich ein in die endlose Schlange der Autos, die San Diego zuströmten. Die Luft stand in den Straßen, der Tag würde heiß werden. Cielo berichtete nach längerem Zögern.
„Heute ist ein wichtiger Tag im Labor. Dick Rippley, unser Chef hat angekündigt, wir bekommen hohen Besuch aus dem Landwirtschaftsministerium. Außerdem sind einige Leute von Dow Agro Sciences dabei. Mir ist ganz bange.“
„Um was geht es?“
„Ich darf nicht darüber reden, aber es hat etwas mit der Weiterentwicklung von unserem Mais zu tun.“
„Was heißt Weiterentwicklung?“, hakte Heinrich misstrauisch nach.
„Die Gentechniker haben im Labor ein artfremdes Gen in die DNA von Mais eingebaut. Welches genau weiß ich nicht.“
„Und was hast du damit zu tun?“
„Nichts, ich überwache lediglich die Aufzucht der Maisstauden, sorge für die richtige Bewässerung, die Belüftung und das Umsetzen.“
„Was habt ihr da für ein Teufelszeug gezüchtet?“ Er erinnerte sich an den Artikel über Genmanipulationen, den er in der Montgomery Post gelesen hatte.
„Ich glaube irgendein Gen, das den Befall mit Schädlingen verhindert. Genaueres weiß ich nicht.“
„Das muss ein größeres Ding sein, wenn die Leute vom Landwirtschaftsministerium extra aus Washington herüber kommen.“
„Sie erzählen nichts und die Sicherheitseinrichtungen im Gewächshaus sind streng. Dick hat uns verboten, auch nur das kleinste Pflanzenteilchen aus den Labors zu bringen. Ich bin dafür verantwortlich, dass alles Saatgut ordnungsgemäß registriert, verpackt und in einem Safe eingeschlossen wird.“
„Das klingt mysteriös“, meinte Heinrich nachdenklich. Er sollte Cielo unbedingt den Artikel geben. Sie tauchten ein in das Weichbild der Stadt, die sie dunstig und laut aufnahm, wie das gefräßige Maul eines Orcas.
„Holst du mich heute Abend ab?“
„Wie immer, um fünf Uhr direkt vor dem Büro.“
Cielo drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sprang leichtfüßig aus dem Wagen. Sie winkte ihm zu, bevor sie in dem gläsernen Bürogebäude verschwand. In Gedanken versunken reihte sich Heinrich wieder in den fließenden Verkehr ein und fuhr in das Architekturbüro. Dort vertiefte er sich sofort in seine Planungen und er vergaß alles um sich herum. Die Zeit verging wie im Fluge. Gegen Mittag ließ er sich von der Sekretärin ein Sandwich mitbringen, das er über seine Planung gebeugt am Schreibtisch verdrückte. Er war mit seinen Entwürfen im Rückstand und sein Auftraggeber drängte ihn den Abgabetermin einzuhalten. Als Sandra, seine Sekretärin, Anteil nehmend nach dem Vater fragte, wehrte er kurz angebunden ab. Mit einem kühlen Schulterzucken rauschte sie aus dem Raum, warf beleidigt die Tür ins Schloss. Sie himmelte ihn an, er bemerkte es, und hielt es für jugendliche Schwärmerei.
„Auch gut“, brummte Heinrich. Er knobelte an einem schwierigen Gestaltungsproblem, aber er kam nicht voran. Ständig musste er an den Vater denken, der im Krankenhaus dahindämmerte, nur am Leben gehalten durch die vielen Schläuche und Apparate. Die Nacht in der ihn Michelle verführen wollte ging ihm durch den Kopf. Er spielte mit dem Gedanken sie anzurufen, sich für sein törichtes Verhalten zu entschuldigen. Er ließ es bleiben. Wer weiß, welche Schlüsse sie daraus gezogen hätte.
Entspann dich, alter Junge, redete er sich zu, doch seine Gedanken hingen in Selma fest, er konnte sich nicht auf sein Projekt konzentrieren. Seine Inspiration wollte sich nicht einstellen und Heinrich starrte Löcher in die Luft. Wütend knallte er den Bleistift auf den Tisch, holte sich einen Kaffee aus der Küche. Es half nichts, die Leere in seinem Kopf löste sich nicht. Schließlich griff er sich einen Notizblock und fuhr hinaus zur geplanten Baustelle. Heiße stickige Luft waberte in den engen Straßenschluchten. Die kühle Brise, die sonst vom Meer her Frische in die Stadt wehte, war eingeschlafen. Heinrich verfluchte seine Idee, aber das half nichts. Warum hatte er an solch einem heißen Tag das klimatisierte Büro gegen sein kochendes Auto getauscht? Auf dem Bauplatz direkt am Meer hockte er sich in den heißen Sand, das verschwitzte Hemd hatte er heruntergerissen. Er kritzelte flüchtig ein paar Skizzen auf das Papier. Seine Entwürfe beflügelten ihn nicht. Unzufrieden schleuderte er den Block ins Auto und beschloss schwimmen zu gehen. Das kühle Wasser klärte seinen Kopf und plötzlich, er schwamm auf dem Rücken, den Strand im Auge, kam ihm die zündende Idee.
So müsste das Haus aussehen, ergab sich eine Einheit aus Natur und Gebäude. Begeistert kraulte er zurück und skizzierte mit flüchtigen Strichen seine Idee auf das vom Meerwasser durchfeuchtete Papier. Dann legte er sich zufrieden in den warmen Sand.
Cielos Tag verlief nicht so angenehm. Das Labor glich einem Bienenstock, die Aufregung steckte alle an. Dr. Ose, ihr unmittelbarer Vorgesetzter huschte nervös hin und her. Die Spannung stieg von Minute zu Minute. Ungeduldig wartete Cielo auf den hohen Besuch. Mit zitternden Händen goss sie mit der Nährlösung die Maisstauden, nach einem raschen Blick auf das Thermometer öffnete sie die Kippfenster, die Pflanzen sollten nicht überhitzen. Sie rollte die Beschattung herunter, topfte einzelne Pflanzen um und wartete. Ihre Haut kochte im Schutzanzug aus Plastik und kleine Schweißperlen rannen ihr über die Stirn und die Brust wo ihre Bluse auf der Haut klebte. Gerne hätte sie die lästige Hülle abgestreift, doch das war bei Strafe untersagt. Cielo arbeitete alleine, ihre Kollegin machte Urlaub, denn sie hatte zwei Kinder und musste sich nach den Schulferien richten. Gerne hätte Cielo mit ihr getauscht. Nicht weil sie Urlaub brauchte, sondern wegen der beiden Kinder. Ihr Urlaub war für den Herbst geplant und sollte sie nach Mexiko führen. Nach Hause zu Cielos Familie. Sie freute sich darauf, die Eltern zu besuchen. Sie scheute jedoch die angedeuteten, fragenden Blicke der Mutter und der Geschwister. Unausgesprochen stand die Frage immer im Raum: was ist mit Kindern bei euch? Dieser Gedanke trübte ihre Freude auf den Urlaub. Nun war alles anders. Die Krankheit des Vaters ihres Mannes machte eine Planung unmöglich.
Mit einem schmatzenden Geräusch glitt die Sicherheitsschleuse auseinander und eine Gruppe hemdsärmeliger, verschwitzter Männer quetschte sich in den Raum. Angeführt von Dr. Rippley schoben sie sich durch die engen Gassen zwischen den hochaufragenden Maisstauden. Sie diskutierten lautstark miteinander, schienen Cielo nicht zu bemerken.
„Ist das absolut sicher?“, keuchte ein untersetzter Mann, offensichtlich ein höherer Beamter.
„Absolut, Herr Staatssekretär, die Feldversuche, die wir durchgeführt haben, sind zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen.“
„Schön, schön“, ächzte der Dicke, in der schwülen Luft nach Atem ringend.
„Ist sichergestellt, dass nichts zur Presse durchdringt?“
„Seit unserer etwas voreiligen Pressekonferenz im Jahre 2001 ist Gras über die Sache gewachsen“, versicherte der Laborleiter Dr. Ose. „Außerdem haben wir uns 2004 mit der Firma Bifonax zusammengeschlossen.“
„Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn die Presse von Ihren Forschungen Wind bekäme“, meinte der Dicke wieder. „Die öffentliche Meinung zu GMO-Saaten ist zurzeit nicht günstig. Weltweit gibt es Proteste, denken sie nur an die Pleite mit der Monsanto BT-Baumwolle in Indien und jetzt auch bei uns.“
Die Männer der Gruppe nickten zustimmend.
„Es hat schon wütende Demonstrationen der Baumwollfarmer vor dem Landwirtschaftsministerium gegeben. Wir konnten die Leute nur beruhigen, indem wir ihnen großzügige Subventionen zugesagt haben.“
„Aber“, meinte Dick Rippley, „das ist bei unserem Mais eine ganz andere Sache. Er wächst wie jede andere Maissorte, er ist nicht resistent gegen Schädlinge wie Monsantos MON 810. Wer sollte auf die Idee kommen, wir könnten damit...“
Die letzten Worte verstand Cielo nicht, sie gingen im allgemeinen Gemurmel unter.
„Stellen Sie sich vor, die mexikanische Regierung erführe von unseren Versuchen“, posaunte der Dicke laut heraus, „ein handfester politischer Skandal wäre die unausweichliche Folge.“
„Wir müssen uns darauf verlassen, dass kein Sterbenswörtchen nach außen dringt“, mischte sich ein drahtiger jüngerer Mann mit Bürstenhaarschnitt ein. Sonst müssten wir von uns aus tätig werden.“
„Selbstverständlich“, versicherte Cielos oberster Chef, „nicht einmal unsere Mitarbeiter wissen, woran wir in Wirklichkeit forschen. Die meisten glauben, wir hätten eine besonders schädlingsresistente Sorte Mais entwickelt.“
Die Männer lachten, als hätte Rippley einen besonders guten Witz zum Besten gegeben.
„Im weitesten Sinne ist es auch so“, grinste der Staatssekretär. Beifälliges Lachen.
„Erinnern Sie sich, was die stellvertretende Landwirtschaftsministerin Catherine Bertini 1996 vor der UNO gesagt hat: ‚Nahrung ist Macht! Wir setzen sie ein, um Verhalten zu ändern. Manche mögen das Bestechung nennen. Wir entschuldigen uns nicht‘“, zitierte ein Glatzköpfiger mit Stiernacken. „An dieser Doktrin hat sich nichts geändert.“
„Nur die Methoden wurden verfeinert“, lachte der Laborleiter. Die Herren nickten zustimmend.
„Wir sind stolz darauf, an diesem drängendsten Problem der Menschheit mitarbeiten zu dürfen“, verkündete Rippley mit stolzgeschwellter Brust.
Es ist eine Frage der Verteilung“, meinte ein aalglatter Grauhaariger. „Wir könnten in kurzer Zeit genügend Maissamen herstellen, um die wichtigsten Länder damit zu beliefern.“
„Damit müssen wir warten, bis wir das OK von ganz oben bekommen“, meinte der Dicke.
„Schade, dass die Russen so wenig Mais essen“, grinste ein weiterer Besucher, der sich mit der Hand über die schwitzende Stirn fuhr.
„Darf ich die Herren zu einem kleinen Imbiss einladen?“, fragte Rippley.
„Eine glänzende Idee“, pflichtete der Staatssekretär bei, „vor allem muss ich etwas trinken, diese Hitze ist mörderisch. Dabei können wir uns in aller Ruhe über die weitere Förderung des Projektes unterhalten.“
„Vielleicht sollten wir in dieser Sache mit dem Verteidigungsministerium Kontakt aufnehmen“, gab einer der Beamten zu bedenken. „Ich könnte mir vorstellen, dass das biologische Forschungslabor Edgewood Chemical Biological Center in Maryland ein großes Interesse an der Entwicklung dieser Maissorte hat.“
„Eine gute Idee“, rief der Dicke aus. „Sie verfassen mir ein Memo an den Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Aber bitte streng vertraulich. Wir wollen doch diese einmalige Züchtung nicht im Vorfeld diskreditieren.“
Die Gruppe verließ heftig diskutierend das Gewächshaus. Sie hatten Cielo nicht entdeckt, die sich hinter einem der Gevierte mit hohen Mais Stauden versteckt hielt. So intensiv beschäftigten sie sich mit ihren Gedankenspielchen. Die Sicherheitsschleuse schnappte hinter dem letzten Besucher zu. Cielo war alleine. Sie musste sich setzen, ihre Hände zitterten. Sie kam sich vor wie eine Spionin, die jeden Augenblick ertappt und zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Eine ungute Ahnung stieg in ihr hoch. War das, was sie in gutem Glauben tat vielleicht gar nicht harmlos? Was hatte es mit dem Mais auf sich, den sie sorgsam hegte? Irgendein hässliches Geheimnis verbarg sich in den unschuldig wirkenden Maisstauden. Allein sie hatte sich verpflichtet zu schweigen, durfte mit niemandem darüber reden. Und selbst wenn es erlaubt gewesen wäre, wer würde ihr glauben. Über eines war sie sich im Klaren, sollte sie jemandem davon erzählen und es käme heraus, ihren Job wäre sie mit Sicherheit los. Was hätte sie vorbringen können? Etwa: „Necosar züchtet eine Maissorte, die möglicherweise eine militärische Bedeutung hat.“ Welche konnte das sein? Die entscheidenden Worte hatte sie nicht verstanden. Was bewirkte dieser Mais? Fragen über Fragen. In Cielos Hirn wirbelten die Gedanken durcheinander wie welke Blätter im Herbststurm. Der Laborleiter Dr. Ose schien ein netter Mensch zu sein, kaum zu glauben, dass er in eine schmutzige Sache verwickelt war. Cielo beschloss, den Mund zu halten. Ohne eindeutige Fakten könnte sie nichts ausrichten. Aber sie wollte die Augen offen halten und vorsichtig versuchen mehr über das geheimnisvolle Forschungsprojekt in Erfahrung zu bringen. Das Halbwissen lastete schwer auf ihrer Seele. Alle Mitarbeiter hatten sich schriftlich verpflichten müssen, über die Vorgänge im Labor absolutes Stillschweigen zu bewahren. Trotz ihrer Heirat mit Heinrich fühlte sich Cielo im Grunde ihres Herzens als Mexikanerin. Sie teilte die Ängste vieler ihrer Landsleute, fühlte sich in den Vereinigten Staaten nur geduldet. Zumal sie in den USA auf eine völlig andere Mentalität gestoßen war, die meilenweit von ihrer Kultur entfernt war. Sicher würde man sie ausgeweisen, wenn man sie nicht sogar vor Gericht stellte würde. In welch einen Albtraum war Cielo da unversehens hineingeraten.
Den Rest des Arbeitstages verbrachte sie in sich gekehrt. Jedes plötzliche Geräusch, wie das Aufschwingen der Schleuse, erschreckte sie. Es fiel ihr schwer sich auf die einfachsten Handgriffe zu konzentrieren. Früher hatte sie sich über ihre Arbeit keine Gedanken gemacht. Warum auch, es war ein Job wie jeder andere, so schien es jedenfalls. Sie wirkte sogar manchmal zufrieden mit dem was sie tat.
Um 5:00 Uhr wartete Heinrich wie versprochen vor dem Hauptportal der Firma. Er erzählte begeistert über seine neuen Entwürfe und berichtete weitschweifig von den baulichen Details seiner Planung. Ihm fiel nicht auf, das Cielo heute verschlossener als sonst neben ihm saß. Sie hörte ihm nur halb zu, musste sich zwingen nachzufragen, was er mit stillem Vorwurf enttäuscht zur Kenntnis nahm.
„Entschuldige“, meinte Cielo, „ich hatte einen anstrengenden Tag.“ Gekränkt verstummte er eine Weile.
„Möchtest du reden?“, fragte er schließlich.
„Nicht jetzt, lass mir Zeit.“
Sie dachte an ihre Verschwiegenheitspflicht und es schien ihr riskant, Heinrich ins Vertrauen zu ziehen. Außerdem, was wusste sie schon. Vielleicht war alles viel harmloser, als sie vermutete, beruhigte sie ihr schlechtes Gewissen. Das ungute Gefühl, welches sie nicht benennen konnte, blieb und peinigte sie, beherrschte ihre Gedanken.
Als sie das Haus betraten, stolperte Heinrich über seine Reisetasche, die er achtlos in die Garderobenische geworfen hatte. Das rote Buch fiel ihm wieder ein.
„Ich räume schnell meine Sachen weg“, sagte er beiläufig zu Cielo, die sich gleich in der Küche zu schaffen machte, um das Essen vorzubereiten. Beim Gemüse schnippeln konnte sie ihre wirren Gedanken ordnen und zur Ruhe kommen. Heinrich angelte das Päckchen aus der Tasche, legte es auf den Schreibtisch im Arbeitszimmer. Jenen Schreibtisch, an dem sein Vater gesessen hatte, nach dem Tod der Mutter mit seiner Flasche Bourbon. Das rote Buch schimmerte matt aus dem grauen Packpapier. Heinrich räumte die Wäsche in den Keller, hängte sein Sakko auf einen Bügel und suchte einen passenden Spanner für die zerknitterte Hose.
„Soll ich dir helfen?“, rief er in Richtung Küche.
Cielo schnitt gerade die letzte Tomate, musste nur noch die Empanadas in den Ofen schieben.
„Zu spät, in einer halben Stunde können wir essen.“
Heinrich zog sich ins Arbeitszimmer zurück, er ließ sich in den Schreibtischsessel fallen und schälte das Buch aus seiner Verpackung. Mit der Rechten strich er behutsam über das weiche Leder, gedankenverloren blätterte er die Seiten durch, ohne auf den Inhalt zu achten. Welche Bewandtnis hatte es mit diesem seltsamen Buch? Warum wollte der Vater, dass gerade er es bekam? Beim planlosen Blättern fiel ihm ein vergilbter Brief entgegen. Zögernd drehte er ihn hin und her, das Kuvert unverschlossen, die Klappe lose eingesteckt. Auf dem Umschlag mit Tinte die ausgeprägte Schrift des Vaters. Er erkannte sie auf Anhieb.
Für Heinrich
Mit spitzen Fingern zog er den Brief aus dem Kuvert, faltete ihn auf und las.
Mein lieber Heinrich,
ich möchte, dass du dieses Tagebuch deines Großvaters bekommst. Vieles, was du darin lesen wirst, wird dich zutiefst erschrecken. Es ist ein, wenn auch grauenhafter, Teil der Geschichte unserer Familie. Bevor du verurteilst, bedenke bitte in welcher Zeit es entstand. Die Aufzeichnungen werden für dich möglicherweise nicht mehr nachempfindbar sein, ja, ich befürchte das meiste wird dich abstoßen. Mich hat dieses Geheimnis unserer Familie ein Leben lang gequält. Ich bin sicher nicht abergläubisch aber vielleicht musste ich auf schreckliche Weise einen Teil der Schuld meines Vaters durch das Unglück meines Lebens sühnen. Ich habe deine Mutter aus einem tiefen Schuldgefühl heraus geheiratet. Daraus wurde Liebe. Sie litt unter ihrer Vergangenheit und ich glaube heute, dieses Wissen hat sie letztendlich umgebracht. Mein Vater hat das nie verstanden und er hat mich wegen dieser Ehe gehasst. Bis zu seinem Tod empfand er keine Reue. Er starb einsam, denn ich brachte es nicht über das Herz, ihm zu verzeihen. Nun sieht es so aus, als drohe mir ein ähnliches Schicksal. Wir werden den Fluch unserer Familie wohl niemals los. Ich nicht und auch du nicht. Aber in Kenntnis unserer Vergangenheit können wir vielleicht demütig die Strafe ertragen, für die Sünden der Väter. Der Name deines Großvaters war Gero von Gerstein, er hat ihn in Amerika in Gerstone geändert aus Angst, seine Nazivergangenheit könnte ans Licht kommen. Wir haben uns diese Bürde nicht ausgesucht, aber wir werden sie mit Würde tragen.
Ich schließe dich in die Arme.
Dein dich liebender Vater
Klaus Gerstone
PS: Ich habe dafür gesorgt, dass Michelle dir dieses Tagebuch erst zukommen lässt, wenn ich diese Welt verlassen muss. Verzeih mir, dass ich nicht früher über all die grausamen Ereignisse mit dir gesprochen habe. Ich konnte es nicht.
Betroffen lies Heinrich den Brief sinken. Sein Blick heftete sich auf das Tagebuch des Großvaters, schweifte zum Fenster und weiter aufs still liegende Meer. Er nahm all die Schönheit nicht wahr, hörte das muntere Zwitschern der Vögel nicht, sah die gleißende Sonne nicht. Mit ausdruckslosem Blick starrte er ins Nichts. In seinem Kopf schossen tausend Gedanken durcheinander. Ihm grauste, dachte er daran, was in dem kleinen unscheinbaren roten Buch für Gräueltaten beschrieben sein könnten. Der Vater hatte nur wenig angedeutet. Er wagte es nicht, das Buch mit dem eingeprägten goldenen Hakenkreuz zu öffnen, saß da, unfähig sich zu rühren und ein namenloses Grauen ergriff sein Herz. So fand ihn Cielo, die ihn zum Abendessen holen wollte, da ihr Rufen ihn nicht erreichte.
„Was ist mit dir? Du bist ja kreidebleich.“
„Das Tagebuch“, er deutete mit einer hilflosen Geste auf das Buch, „ist von meinem Großvater“, flüsterte Heinrich tonlos. „Er scheint ein übler Nazi gewesen zu sein.“
Cielo fragte nicht, sie setzte sich auf die Sessellehne und legte den Arm um Heinrichs Schulter. Sie spürte, Worte waren bei der tiefen Erschütterung ihres Mannes nicht angebracht.
„Hier“, murmelte Heinrich und reichte ihr den Brief. Sie las aufmerksam, legte dann das Papier auf den Schreibtisch zu dem roten Buch. Stumm saßen sie da, unfähig sich zu trösten. Die Zeit verrann, die Empfindung für Minuten und Stunden verwehte still.
Ein brandiger Geruch strich ins Arbeitszimmer. Wie aus tiefer Dämmerung erwachend sprang Cielo auf.
„Das Abendessen, ich habe das Abendessen vergessen!“ Sie stürzte in die Küche, wo die Empanadas in der Bratröhre vor sich hin kokelten, die Luft voll von beißendem Qualm. Sie kippte die Teigtaschen in den Abfall, lüftete durch. Die Bewegungen mechanisch, die Gedanken abwesend.
Sie holten sich Burger vom Stehimbiss, sie schmeckten nicht. Zu tief saßen ihnen die Schrecken des Tages in den Knochen. Sie hockten auf der Terrasse, hielten sich an den Händen, brüteten vor sich hin, gefangen in ihren Ängsten, wie Motten in einem Spinnennetz.
„Sollen wir das Tagebuch miteinander lesen?“, unterbrach Cielo das Schweigen. Heinrich seufzte.
„Vielleicht hilft es mir, aber nicht heute.“ Sie drückte seine Hand. Die Nacht schickte eine frische Meeresbrise, Sterne wanderten über den samtschwarzen Himmel. Sie kauerten da, in sich gekehrt und überließen sich der wilden Flut ihrer Spekulationen. Jeder für sich alleine, sprachlos.
Die nächsten Tage lag das Buch scheinbar unbeachtet auf dem Schreibtisch, glänzte rot in der Sonne. Ging Heinrich am Arbeitszimmer vorbei, warf er einen zögernden Blick darauf. Er vermied es, sich an den Schreibtisch zu setzen. Eine seltsame, ihm fremde Beklemmung hinderte ihn, unbefangen in dem roten Buch zu blättern. Zu bedrohlich klang der Brief des Vaters. Zudem beschäftigte er sich intensiv mit den Entwürfen für das Haus am Meer. Die Umsetzung der Wellenbewegung auf die Formen des Gebäudes erwies sich als schwierig.
Auch Cielo klebte noch an dem mitgehörten Gespräch. Sie beobachtete mit anderen, misstrauischen Augen was bei Necosar vor sich ging. Sie fing an, heimlich offen herumliegende Schriftstücke zu lesen. Über ihre Mutmaßungen wollte sie mit niemandem reden, sie fürchtete, sich durch allzu bohrende Fragen zu verraten. Beide litten unter einer befremdlichen Spannung, die sich selbst wenn sie zusammen waren nicht löste. Ein düsterer Schatten legte sich über das Haus in der Tolita Avenue, nahm dem Sonnenlicht den Glanz. Heinrich griff jeden Abend zur Bourbonflasche, bis er erschüttert feststellte, dass er die Automatismen seines Vaters weiterlebte. Bestürzt sperrte er die Flasche weg und versteckte den Schlüssel in einer Schublade. In nüchternem Zustand wühlten seine Gedanken umso heftiger.
Am Samstagmorgen, die beiden saßen gemütlich beim Frühstück auf der Terrasse, läutete das Telefon. Cielo ging an den Apparat.
„Es ist für dich“, rief sie, „Michelle.“
Heinrich ahnte, sie hatte keine guten Nachrichten für ihn. Er nahm rasch einen Schluck Kaffee, griff nach dem Hörer.
„Michelle.“
Er hörte ihr unterdrücktes Schluchzen. Nach wenigen Augenblicken der Sprachlosigkeit, in denen sie mit den Tränen kämpfte, fasste sie sich wieder.
„Klaus ist heute Nacht gestorben.“
Heinrich glaubte darauf vorbereitet zu sein, die Nachricht traf ihn trotzdem wie ein Schlag in die Magengrube. Er kannte den hoffnungslosen Zustand des Vaters, dennoch hatte er sich an die vage Hoffnung geklammert, der Vater könnte überleben.
„Wie geht es dir?“, fragte er mitfühlend, in der Hoffnung das lähmende Schweigen zu überwinden.
„Ich komme zurecht“, hauchte sie kaum hörbar, „es wird sehr einsam werden.“ Heinrich ahnte ihre nächste Frage, suchte verzweifelt nach einer Ausrede.
„Kommst du zur Beerdigung?“ Ihre Stimme klang wie ein Hilferuf.
„Ich kann nicht“, sagte er gepresst, „wichtiger Auftrag und so.“
Er kam sich erbärmlich vor, aber er wusste, er würde keine Nacht mehr in Cahors Maison verbringen. Ihn plagte das schlechte Gewissen, weil er sich um die Bestattung herummogelte. Er hoffte inständig, der Verstorbene würde seine Beweggründe verstehen.
„Wie ist er gestorben?“
„Er ist friedlich eingeschlafen, das Krankenhaus hat mich angerufen: Bis ich kam, war er tot.“
„Es tut mir leid.“
„Er sah so friedlich aus, wie er in den Kissen lag, ohne all die Schläuche und Geräte. Fast schien er zu lächeln. Ich konnte sehen wie die Wärme aus seinem Körper wich, das Gesicht verfiel.“
„Wenigstens hat er nicht lange leiden müssen.“
„Ja, wenigstens“, sagte sie mit spröder Stimme und dann brach es aus ihr heraus.
„Verdammt, warum hat er mich alleine gelassen, wir hätten es so gut haben können. Es kommt mir vor wie seine späte Rache.“
Merkwürdig dachte Heinrich, der Vater musste erst sterben, bis sie erkannte wie gerne sie ihn trotz allem gehabt hatte. Er spürte keine Trauer. Er glaubte Abschied genommen zu haben. Vielleicht brauchte es Zeit, bis sich die Trauer in sein Herzen fraß.
„Ich öffnete das Fenster“, schluchzte Michelle. „Draußen dämmerte ein klarer, kühler Morgen. Weißt du, ich habe mir eingebildet, ich könnte seiner Seele den Weg freimachen, nach oben. Du verstehst.“
Heinrich fühlte ein Würgen in der Kehle, dann liefen die Tränen. Sie konnten beide nicht weiter sprechen. Cielo schlüpfte geräuschlos ins Zimmer. Sie strich Heinrich tröstend durch das Haar, lehnte sich an ihn.
„Ist er…?“, wisperte sie.
Heinrich nickte.
„Wo willst du ihn beerdigen“, fragte er und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg.
„Ich dachte, wir legen ihn in unser Familiengrab in Selma“, weinte Michelle. „Dann kann ich ihn wenigstens besuchen.“ Heinrich stimmte zu. Er brachte es nicht über das Herz, ihr zu sagen, dass der Vater seinem Gefühl nach neben seiner ersten Frau begraben werden sollte, die er bis in den Tod geliebt hatte. „Jetzt sind sie wieder vereint“, fuhr es ihm durch den Kopf und der Gedanke hatte etwas Tröstliches. Da schien es letztendlich gleichgültig, wo die sterbliche Hülle des Vaters ruhte.
„Kann ich etwas für dich tun?“
„Ich glaube nicht“, und sie machte einen erneuten Versuch. „Du kommst doch?“, bat sie zögernd.
„Ich weiß nicht, ich bin durcheinander, lass mir Zeit.“
„Ich verstehe“, flüsterte sie.
„Gib mir Bescheid, wann die Beerdigung ist.“
Michelle schwieg, sie ahnte, er hatte nicht vor zu kommen.
„Ich sage dir Bescheid.“
„Kann ich noch etwas tun?“, wiederholte er sich.
„Ich glaube nicht“.
„Ich denke an dich“, sagte er und versuchte so viel Wärme in seine Worte zu legen, wie es ihm möglich war. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Es fiel ihnen schwer, den Hörer aufzulegen.
„Ruf an, wenn du etwas brauchst.“
„Ja“, entgegnete sie fast unbeteiligt.
„Also dann“, murmelte Heinrich und legte auf. Er kam sich abscheulich vor. Cielo umarmte ihn wortlos, hielt ihn fest. Lange. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, weinte still vor sich hin.
Leb wohl, Klaus Gerstone, dachte Heinrich. Er versuchte sich die längst vergangenen glücklichen Tage mit dem Vater in Erinnerung zu rufen. Als er, ein kleiner Junge noch, mit dem Vater durch den Garten tollte, die Mutter lächelnd und zart auf der Veranda. Doch die Bilder verblassten bereits und bestürzt erkannte Heinrich, er konnte die Erinnerungen nicht festhalten. Cielo bedrängte ihn nicht, sie spürte, sie musste ihn in seinem Schmerz alleine lassen. Heinrich schleppte sich in den Garten, wie betäubt setzte er sich in einen der weißen Korbsessel und versuchte verzweifelt seine Erinnerungen in einen Winkel seines Herzens zu packen, um sie auf ewig zu bewahren. Es glückte ihm nicht, wie es niemandem gelingt. Mit dem Tod setzte nicht nur der Zerfall des Körpers ein, sondern auch der der Erinnerungen und das war gut so. Heinrich suchte sich das Gesicht der Mutter, des Vaters ins Gedächtnis zu rufen, die Bilder glichen verblassten Fotografien, die Figuren unscharf, die Farben verblichen. Das Gedenken an die Eltern trieb ihn aus dem Haus. Cielo fuhr schweren Herzens in den Supermarkt, einkaufen. Sie wusste, sie konnte ihm nicht helfen. Unbewusst wählte er den Weg zum Friedhof, der stille Ort schien ihm passend seiner Eltern zu gedenken. Mit gesenktem Kopf stand er am Grab der Mutter, die Hände zum Gebet gefaltet, hielt er stumme Zwiesprache mit den beiden. Viel hätte es noch zu sagen gegeben. Dafür war es jetzt zu spät.
Wie wenig uns bleibt, sinnierte Heinrich, ein Brief, eine Fotografie, ein Geruch der uns an die Kindheit erinnert, und zuletzt ein bemooster von Efeu umrankter Stein auf einem verwilderten Friedhof. Blass blühende Rosen mit verwelkten Blüten standen neben dem verwitterten Stein. Die Blütenblätter rieselten auf den kaum erhabenen Hügel, ein Windstoß trug sie fort zum nächsten Grab und zum nächsten bis sie sich im Windschatten zu kleinen vertrockneten Häufchen sammelten. Heinrich spürte die bittere Endlichkeit seines Daseins. Würde später ein Kind Blumen auf sein Grab legen? Ihre Kinderlosigkeit schmerzte in diesem Augenblick besonders. Es wurde Zeit, etwas zu unternehmen. Der Gedanke ohne Kinder sterben zu müssen schreckte ihn. Es blieb keine Spur seines Lebens zurück. Bis jetzt hatte er sich damit getröstet, dass die von ihm erbauten Häuser sein Vermächtnis darstellten. Allein diese waren tot, errichtet aus Steinen, Beton, Glas und Stahl, nicht lebendig wie ein Mensch. Nur ein Kind konnte Erinnerungen weiter tragen, liebevolle als auch hässliche. Ein Kind konnte die Träume und Sehnsüchte der Eltern aufgreifen, weiterspinnen und vielleicht zu einem guten Ende bringen. Oder sie zumindest an seine Kinder weitergeben. Heinrich fühlte den ununterbrochenen Strom der Liebe, der sich von Generation zu Generation zog, genauso wie die Last angehäufter Schuld. Gedankenverloren schritt er durch die Mittagshitze nach Hause.
„Möchtest du etwas essen?“, fragte Cielo feinfühlig. Heinrich schüttelte den Kopf und zog sich stumm ins kühlere Arbeitszimmer zurück. Er kramte in einer Schreibtischschublade, fand in der hintersten Ecke eine verstaubte Musikkassette. Sie stammte aus einem Anrufbeantworter, die Mutter hatte sie einst besprochen. Er legte sie in die Stereoanlage, drückte den Abspielknopf und schloss die Augen.
„Hier ist die Familie Gerstone, wir sind nicht zuhause. Sprechen Sie bitte ihre Nachricht auf das Band, wir rufen Sie zurück sobald es uns möglich ist“, hallte die Stimme der Mutter wie aus einer anderen Welt aus den Lautsprechern. Wieder und wieder spielte Heinrich das kurze Tonstück ab. Er fühlte sich grenzenlos einsam. Tränen rannen über sein Gesicht, er bemerkte sie nicht. Allein der Tod der Mutter lag zu weit zurück, um ihn noch spürbar zu rühren. Aber das Gefühl entsetzlicher Leere, gottverlassener, furchtbarer Vereinsamung blieb. Waren nicht alle seine Vorfahren ähnlich einsam gewesen? Sein Vater sicher. Und der Großvater? Heinrich wusste es nicht. Doch da lag das Tagebuch. Ergriffen las er abermals den Brief des Vaters. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Eine Träne tropfte auf das Papier, mit der Handkante versuchte Heinrich sie wegzuwischen, dabei verschmierte die Tinte. Wie schnell verblasst sogar dieses letzte Vermächtnis, dachte er wehmütig. Er legte den Brief zurück auf den Tisch, in die Sonne zum Trocknen. Das abgegriffene Leder des roten Tagebuches schimmerte matt im Licht, lud ihn ein, einen Blick hinein zu werfen. Nein, nicht jetzt, dafür war nicht der richtige Zeitpunkt. Die Trauer um den Vater forderte sein ganzes Sinnen. Andererseits, vielleicht stand etwas über den Vater in diesem Tagebuch, etwas über dessen Kindheit, die Großmutter, über die der Vater nie gesprochen hatte. Über den Großvater, der in ihrer kleinen Familie totgeschwiegen wurde. Und der trotzdem unsichtbar unter ihnen weilte, ihr Denken und Handeln beeinflusste. Menschen fallen nicht ins Vergessen, weil niemand über sie spricht, im Gegenteil, sie gewinnen eine unheimliche Macht. Häufig bestimmen sie unbewusst das Schicksal der Kinder und Kindeskinder.
So wird Leid und Schuld weitergegeben, von Generation zu Generation, fuhr es ihm durch den Kopf. Was immer an Schrecklichem gewesen ist, dachte Heinrich, weglaufen half nicht. Er musste sich der Geschichte seiner Familie stellen.
Zögernd, mit ängstlicher Scheu griff er nach dem Tagebuch. Er schlug die erste Seite auf. Da prangte es, das grünstichige, goldgeprägte Hakenkreuz, darunter die krakelige, verschossene, blaue Unterschrift. Heinrich versuchte die Buchstaben zu entziffern. Er konnte ein großes A erkennen und ein H, der Rest in altmodischer Schrift für ihn nicht lesbar. Er blätterte um und begann die Aufzeichnungen zu studieren. Die Schrift des Großvaters gestochen scharf, klein und ausgeprägt. Heinrich bemerkte, es handelte sich nicht um ein Tagebuch im eigentlichen Sinn. Die Datumsangaben fehlten häufig, auch gab es nicht für jeden Tag einen Eintrag, vielmehr handelte es sich um Notizen zu wichtigen, prägenden Ereignissen im Leben des Großvaters. Schade, gerade die kleinen Dinge des Alltags hätten Heinrich interessiert. Er begann zu lesen.