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Selma

Das Flugzeug schwebte zum Landeanflug in Montgomery ein. Heinrich seufzte lautlos. Die Begegnung mit der Familie ließ sich nicht mehr aufschieben. Die Boeing rollte aus und kam vor dem gemauerten Abfertigungsgebäude zum Stehen. Eine Gangway wurde herangeschoben, die Türen geöffnet. Schwüle Hitze schlug ihm entgegen, trieb ihm augenblicklich den Schweiß auf die Stirn. Heinrich atmete tief durch.

„Nun denn“, sagte er. Er fischte seine Tasche vom Förderband, schlenderte betont lässig nach draußen. Am Ausgang lehnte sein Halbbruder an einer Säule. Eduard trug einen weißen Leinenanzug und einen breitkrempigen Strohhut. Seit ihrem letzten Treffen hatte er einige Kilo zugelegt und der Bauch quoll ihm über den breiten Ledergürtel. Um seinen Mund spielte ein überhebliches Grinsen, die Augen aber blickten Heinrich an wie ein Schaf. Er war im Süden aufgewachsen und die Arroganz der weißen Rasse spürte man in jeder seiner Gesten und Bemerkungen. Die beiden begrüßten sich förmlich mit Handschlag, wie sich zwei Geschäftsleute vor einem Meeting begrüßen und nicht wie Brüder die sich lange nicht gesehen haben.

„Wie geht es Vater?“, wollte Heinrich wissen. Sie schritten durch die lichte Flughafenhalle, gemauert aus rotem Backstein, in den weiße Streifen aus Beton eingelassen waren. Vor den Säulen des Ankunftsbereiches parkte Eduards rote Corvette Stingray. Ein Oldtimer, den Eduard mit Hingabe wartete.

„Ich weiß nicht“, der Halbbruder zuckte mit den Achseln. „Er hängt an diesen Schläuchen. Was die Ärzte faseln, habe ich nicht verstanden. Die mit ihren lateinischen Fachausdrücken können mir gestohlen bleiben. Mutter kann dir das besser erklären.“ Er schleuderte Heinrichs Tasche achtlos in den Kofferraum und klemmte sich hinter das Steuer. Heinrich wusste von früheren Besuchen, Eduard war ein erbärmlicher Fahrer. Er raste wie ein Verrückter, überfuhr jedes Stoppschild und musste er einmal bremsen, stieg er in die Eisen, dass sein Beifahrer unwillkürlich nach vorne geschleudert wurde. Er schnitt die Kurven, überholte auch an Stellen, an denen es jeder vernünftige Mensch gelassen hätte. Dass ihm die Polizei seinen Führerschein noch nicht weggenommen hatte, hing hauptsächlich mit dem Einfluss seiner Mutter zusammen. Heinrich standen kleine Schweißperlen auf der Stirn und seine Rechte umkrampfte den Haltegriff.

„Musst du so rasen?“, presste er hervor.

Eduard wieherte lauthals, fand die Bemerkung, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, spaßig.

Die Alleebäume der Selma Road flogen vorüber, die weiten Felder huschten gleich grünen Flecken an den Seitenfenstern vorbei. Aus den Augenwinkeln sah Heinrich die Arbeiter auf den Baumwollplantagen schuften.

„Wie ist es passiert?“, fragte Heinrich um den Raser abzulenken.

„Ein Herzinfarkt eben. Wäre auch nicht so schlimm gewesen, doch es gab ein Problem. Irgendein Medikament, das Vater genommen hat. Es führte zu einem Herz-Kreislaufkollaps. Sie wissen nicht ob sie ihn durchbringen, meint der Arzt.“

Heinrich beschloss, sich im Krankenhaus zu erkundigen. Das Leiden des Vaters schien den Halbbruder nicht zu berühren. Er berichtete mit emotionsloser Stimme, als fasse er eine politische Diskussion zusammen.

„Er hat Glück gehabt, dass die Ambulanz so schnell da war, sonst wäre er zuhause im Bett gestorben.“

Heinrich schauderte bei dem Gedanken. Seit dem Tod der Mutter hasste er Krankenhäuser und vor dem Sterben hatte er eine Heidenangst.

„Besteht Hoffnung?“

„Ich glaube nicht, jedenfalls wirkten die Ärzte nicht sehr zuversichtlich.“

Sie schwiegen minutenlang. Was hätten sie auch reden sollen. So nah standen sie sich nicht und Höflichkeitsfloskeln auszutauschen, dazu verspürte Heinrich nicht die geringste Lust. Unbehagliches Schweigen, unbequeme Gespräche, davor hatte sich Heinrich gefürchtet.

„Mein Gott“, dachte er, „wie verschieden wir sind.“

Heinrich hielt das Schweigen nicht lange aus und er begann ein belangloses Gespräch. Er erkundigte sich nach der Familie des Bruders. Dieser hatte ein Mädchen aus Montgomery mit zweifelhaftem Ruf geheiratet. Die Mutter, hätte ihn lieber an der Seite einer reichen Farmerstochter gesehen. Doch ihr zum Trotz blieb er stur. Die Frau gebar ihm zwei Kinder, an die sich Heinrich nur vage erinnern konnte. Sie wohnten in einem eigenen, von der Mutter bezahlten Haus in der Nähe der Farm. Der Stiefmutter wäre es lieber gewesen, das Paar wäre in das halb verwaiste Herrenhaus gezogen, schon um den Sohn von weiteren Dummheiten abzuhalten, doch dieses Ansinnen lehnte Eduard brüsk ab.

Die fünfzig Meilen bis Selma zogen sich. Über den Feldern schwebte eine seltsame Melancholie. Flüchtig kam ihm der Marsch der Schwarzen von Selma nach Montgomery ins Gedächtnis. Er hatte davon in der Schule gehört. Dreimal brachen die ehemaligen Sklaven auf, um ihr Wahlrecht einzufordern. Es gab Tote und Verwundete. Erst beim dritten Anlauf mit Martin Luther King an der Spitze und unter dem Schutz der Bundespolizei konnten sie ihren Protestmarsch durchführen. Auf eben dieser blutgetränkten Chaussee schossen sie dahin. Heinrich glaubte die traurigen Lieder zu hören, die die Negersklaven damals auf den Baumwollplantagen sangen.

„Mutter erwartet dich zum Essen“, informierte Eduard beiläufig. Eine unerwartete Wendung, mit der Heinrich nicht gerechnet hatte und die sein Unbehagen steigerte.

„Ich dachte wir fahren ins Krankenhaus?“

„Die Ärzte erlauben nur zwei Stunden Besuch täglich und die Besuchszeit ist am Nachmittag. Aber das macht nichts“, meinte der Halbbruder. „Mum hat das Gästezimmer schon herrichten lassen.“

Heinrich sah sich in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Innerlich seufzte er, doch was blieb ihm anderes, als sich in sein Schicksal zu fügen. Nach einer knappen Stunde passierten sie die Selma Bridge, sie durchquerten die kleine Stadt in unvermindertem Tempo. Etwas außerhalb bogen sie in die breite, gekieste, von alten Bäumen gesäumte Auffahrt. Mit weit ausholendem Schwung kurvte Eduard vor die weiße Freitreppe. Kies spritzte zur Seite, als er bremste. Die Treppe stieg von rechts und von links zu der mit korinthischen Säulen gesäumten Veranda empor. Das Haus zeugte vom verblichenen Glanz vergangener Zeiten und wirkte über die Maßen ehrfurchtgebietend. Unter normalen Umständen hätte sich Heinrich als Architekt für dieses Gebäude begeistert. Heute hatte er kein Auge für die Schönheit der ausgewogenen Proportionen. Im Vorübergehen bemerkte er, dass schleichend der Verfall eingesetzt hatte. An vielen Stellen blätterte die weiße Farbe ab und auf der Treppe wucherten in den Winkeln Moose und Flechten. In der Dachrinne wuchs ein Baum und das Dach selbst war an vielen Stellen mit den farblich unterschiedlichsten Schindeln ausgebessert worden. Die schmiedeeisernen Balkongitter zeigten Rost und an den Ecken des Hauses bröckelte der Putz. Das Anwesen strahlte den morbiden Charme vergangener Zeiten aus. Heinrich konnte sich, trotz seines Herzklopfens, dem Zauber des Landhauses nicht entziehen. Vor seinem geistigen Auge sah er Michelle in einem weiten Reifrock mit geflochtenem Strohhut, an dem ein rotes Seidenband im Wind flatterte, oben auf der Terrasse stehen und winken. Statt ihrer eilte ein livrierter Diener die Treppe hinunter.

„Willkommen auf Cahors Maison, Master Heinrich“, freute sich der alte Schwarze. Er griff diensteifrig nach Heinrichs Reisetasche, doch dieser wehrte freundlich aber bestimmt ab.

„Die Misses gleich kommen.“

Er führte die Halbbrüder in den Salon. Hier hatte sich seit seinem letzten Besuch nichts verändert, noch immer die alten schweren Möbel mit den altrosafarbenen Bezügen, die bunten Teppiche und die verschossenen blauen Plüschvorhänge. Heinrich kam sich wie in einem Museum vor, erwartete gleich einen Südstaatengeneral in grauer Uniform aus der Kulisse treten zu sehen.

„Was zu trinken?“, fragte Eduard.

Heinrich schüttelte den Kopf. Der Halbbruder goss einen Bourbon in ein schweres Kristallglas. Die Marke des Vaters.

„Es ist schon wieder kein Eis da“, herrschte er den unterwürfig wartenden Diener an. Dieser zuckte erschrocken zusammen, murmelte eine Entschuldigung und hinkte in die Küche.

„Der verdammte Nigger wird auch immer fauler“, giftete Eduard.

Der Alte brachte einen silbernen Kübel mit frischem Eis und mit ihm erschien Michelle. Sie trug einen taubenblauen Hosenanzug, die dunklen Haare streng nach hinten gekämmt.

„Noch immer eine schöne Frau“, dachte Heinrich, „auch wenn sich um ihre Mundwinkel ein harter Zug eingegraben hat.“

„Heinrich“, rief sie mit ihrer dunklen Stimme, „schön, dass du da bist.“

Sie schloss ihn in die Arme, drückte ihn fest.

„Ich freue mich auch, Michelle.“

Behutsam machte er sich los, ihre Nähe berührte ihn unangenehm. Sie hatte etwas Besitzergreifendes. Vor Heinrichs Auge tauchte die nächtliche Szene in der Küche auf. In der Umarmung schwang etwas anderes mit als nur die freundschaftliche Begrüßung einer Stiefmutter.

„Wie geht es dir und Cielo?“, erkundigte sie sich. Heinrich erzählte, beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ihm fiel auf, ihr Gesicht zeigte kaum Anzeichen von Trauer oder Sorge.

„Tom bringt deine Reisetasche ins Gästezimmer. Du kannst dich ein wenig frisch machen und dann wollen wir essen. Am Nachmittag nehme ich dich mit ins Krankenhaus.“

Heinrich nickte und folgte dem Diener, froh der misslichen Situation fürs erste entronnen zu sein. Im Gästezimmer ließ er lange kaltes Wasser über die Hände laufen, kühlte die Stirn, fiel auf das Bett und schloss die Augen. Er dachte an Cielo und bedauerte, dass er sie nicht mitgenommen hatte. Ihre Anwesenheit hätte Vieles erleichtert. Er suchte in seiner Jackentasche nach seinem Handy und wählte ihre Nummer. Es klingelte drei, vier Mal, endlich ihre Stimme. Heinrich seufzte erleichtert.

„Du fehlst mir.“

„Ist es so schlimm?“

„Schlimmer.“

„Du Armer, ich denke an dich. Wann kannst du zurückkommen?“

„Ich hoffe, ich kann morgen wieder fliegen.“

„Wie geht es deinem Vater?“

„Ich weiß nicht, im Krankenhaus war ich noch nicht und Eduard ist ahnungslos.“ Er merkte, er wollte nicht über seine Familie sprechen. Er schämte sich für sie.

„Du bist so einsilbig“, meinte sie.

„Ja, tut mir leid, aber es ist so unangenehm. Ich kann mit Michelle und Eduard nichts anfangen. Erzähl mir lieber wie es dir geht.“

„Ich habe heute einen Termin bei Dr. Brown vereinbart. Du weißt schon, der Gynäkologe. Eigentlich wollte ich alleine hingehen, aber er sagte, das habe keinen Zweck. Du musst mitkommen.“

„Wann ist der Termin?“

„Nächste Woche Dienstag. Du kommst doch mit?“

Der Gedanke behagte Heinrich nicht. Was, wenn es sich herausstellen sollte, Cielos Kinderlosigkeit läge an ihm, nicht auszudenken. Sie spürte sein Zögern.

„Bitte“, sagte sie. „Es ist mir wichtig.“ Heinrich schluckte.

„Natürlich komme ich mit.“

„Danke, ich hab dich lieb.“

Aus einem unerfindlichen Grund trat Heinrich das Wasser in die Augen.

„Es wird schon werden.“

„Ja.“

Sie schwiegen ein paar Augenblicke, fühlten sich trotzdem verbunden wie selten.

„Bis morgen“, flüsterte Cielo schließlich. „Ich hole ich dich vom Flughafen ab, wenn du mir Bescheid gibst, wann du landest.“

„Ich rufe dich an, aber mach dir keine Umstände.“

Er schickte ihr einen Kuss durch das Handy. Sie lachte befreit.

„Alter Kindskopf, so verliebt wie am ersten Tag.“

„Was dachtest du denn“, scherzte er. Er fühlte sich leichter.

„Wenn ich nach Hause komme, dann...“

„Was dann?“, versuchte sie ihn aus der Reserve zu locken.

Es klopfte an der Tür.

„Es ist angerichtet, Master Heinrich“, krächzte der alte Diener.

„Ich muss Schluss machen“, sagte er hastig zu Cielo. „Sie warten mit dem Essen auf mich.“

„Lass es dir schmecken. Bis morgen.“ Sie trennten sich.

„Ich komme“, rief er zur Tür gewandt. Die schlurfenden Schritte des Dieners verhallten im Gang. Schwül-heiße Luft hing drückend über Cahors Maison, kein Lüftchen spielte in den Blättern der Bäume, sogar die Grillen schwiegen ermattet. Es war zu heiß, um etwas zu essen, doch die Stiefmutter legte Wert auf Stil. Pünktlich jeden Mittag um ein Uhr wurde im Esszimmer diniert.

„Da bist du ja“, meinte Michelle mit einem vorwurfsvollen Blick.

„Entschuldige, ich habe noch schnell mit Cielo telefoniert.“

„Setz dich“, kommandierte die Stiefmutter. „Die Suppe wird kalt.“

Auf der langen, ovalen Tafel hatte das Personal zwei Gedecke aufgelegt, nebeneinander.

„Ich finde es albern, soweit auseinander zu sitzen“, meinte Michelle und lächelte vielsagend.

„Wo ist Eduard?“, wollte Heinrich wissen.

„Der musste nach Hause, zu Frau und Kindern.“

Heinrich beschlich ein unangenehmes Gefühl, ohne dass er dafür einen bestimmten Grund hätte nennen können. Was sie aßen, Heinrich vermochte es im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Es gab eine Suppe, als weiteren Gang ein Stück Fleisch in einer scharfen Soße, dazu dicke Bohnen und danach eine dampfende Tasse Kaffee. Michelle nützte die Gelegenheit Heinrich ihr Herz auszuschütten, dazu hatte sie nur selten die Gelegenheit. Er hörte ihr geduldig zu, nickte verstehend mit dem Kopf.

„Weißt du“, berichtete sie, „die Farm läuft nicht gut. Ich glaube die beste Zeit der Baumwolle ist vorüber. In Indien und in China produzieren sie mittlerweile viel billiger. Bekämen wir nicht die Subventionen vom Staat, wir wären bankrott. Die Regierung möchte nicht, dass wir von Importen aus der Dritten Welt abhängig werden, also unterstützt sie uns. Vor ein paar Jahren habe ich auf genveränderte Baumwolle umgestellt. Zuerst lief es auch deutlich besser, die Erträge stiegen und wir mussten weniger Pestizide spritzen. Doch seit drei Jahren gehen die Erträge zurück und die Qualität der Baumwolle ist auch nicht mehr die gleiche. Die Faser ist zu kurz. Wir brauchen viel mehr Spritzmittel, das geht ins Geld, zumal wir jedes Jahr das Saatgut neu kaufen müssen.“

„Warum das?“

„Wir mussten einen Vertrag mit Monsanto abschließen, in dem wir uns verpflichteten, nur noch ihr genmanipuliertes Saatgut und ihr Spritzmittel Roundup zu verwenden.“

„Das ist Erpressung.“

„Das ist es. Um uns zu überwachen schicken sie sogar ihre Kontrolleure auf unsere Felder. Heute müssen wir mehr Roundup spritzen als jemals zuvor und auch mit dem Einsatz modernster Maschinen lässt sich dieser schleichende Prozess nicht aufhalten.“ Michelle seufzte.

„Ich langweile dich sicher mit meinen Sorgen. Aber ich habe niemanden, mit dem ich reden kann.“

„Ich verstehe nicht viel davon, aber wenn es dir hilft, rede ruhig weiter.“

„Es ist nicht leicht, heute eine große Farm zu bewirtschaften. Einige meiner Nachbarn haben schon aufgegeben. Zum Glück geht es den meisten Farmern wie mir. Durch den Landhandel verdiene ich wenigstens am Mehrverbrauch von Roundup. Wie soll das nur weitergehen? Nein, es macht keinen Spaß mehr.“

„Du wirst es schon schaffen“, beruhigte sie Heinrich und legte mitfühlend seine Hand auf die ihre. Im selben Augenblick bereute er diese Geste. Er hoffte, sie würde seine spontane Gefühlsregung nicht falsch verstehen. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Heinrich zog seine Hand schnell zurück.

„Was ist schon dabei“, dachte er sich, „der Stiefmutter in einer schwierigen Situation die Hand zu drücken.“

Sie überging die tröstende Geste, warf ihm einen raschen fragenden Blick von der Seite zu.

„Und jetzt das mit deinem Vater. Als wenn ich nicht schon genug Sorgen hätte. Nicht dass mir dein Vater eine große Hilfe wäre, aber zumindest in die Buchhaltung hat er sich leidlich eingearbeitet.“

„Und Eduard?“

Sie lachte bitter.

„Eduard taugt nicht für das Geschäft. Er hat nur Tennisspielen und Autos im Kopf. Jeden Monat bettelt er mich um Geld an. Er arbeitet nichts, führt große Reden und wirft das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinaus. Er glaubt wir leben noch im vorigen Jahrhundert, wo er den Gutsbesitzer spielen kann und nur das Personal umher zu scheuchen braucht.“

Bewegt kämpfte sie mit den Tränen.

Heinrich hatte sie immer als starke Frau in Erinnerung. Jetzt erschrak er.

„Nein, ich bin auf mich gestellt und manchmal bin ich verdammt einsam“, fügte sie traurig hinzu. Der Diener räumte das Geschirr ab, zog sich geräuschlos zurück.

„Jemanden wie dich könnte ich hier brauchen“, sagte Michelle und legte ihrerseits die Hand auf die seine. Heinrich entzog ihr die Rechte erschrocken. Sie tat, als hätte sie es nicht bemerkt. In ihrer zutraulichen Bewegung schwang unterschwellig etwas mit. Heinrich konnte es nur erahnen, aber was er spürte, ließ ihn schaudern. Michelle atmete hörbar ein und fuhr fort. Ihr Redefluss ließ sich nicht stoppen. Heinrich kam sich vor, als müsste er all die Nöte seiner Stiefmutter im Schnelldurchgang durchstehen.

„In diesem Jahr haben wir ein neues Problem. Ein Superunkraut überwuchert unsere Felder. Der sogenannte Palmer Amaranth, er wird bis zu drei Meter hoch und erstickt die Baumwolle, nimmt ihr die Sonne. Er ist gegen Roundup immun. Das jahrelange Spritzen hat ihn widerstandsfähig gemacht. Weil Glyphosat nicht mehr wirkt, müssen wir zusätzlich weit giftigere und teurere Pestizide einsetzen. Allein der Erfolg ist bescheiden. Man müsste den Amaranth von Hand ausreißen, solange er noch klein ist, doch dafür haben wir nicht genügend Feldarbeiter. Viele Farmer mussten ihre Baumwollfelder schon aufgegeben. Sie stehen vor dem Ruin. Ich weiß auch nicht, wie das weitergehen soll. Zurück können wir nicht. Eine erneute Umstellung kann ich nicht bezahlen. Außerdem würde Monsanto mich verklagen.“

Sie zuckte hilflos mit den Schultern, tat sich selber leid. Mitfühlend suchte Heinrich ihren Blick. Er wusste, er konnte ihr nicht helfen. Er widerstand der Versuchung ihre Hand zu ergreifen. Schweigend tranken sie ihren Kaffee, schwarz mit viel Zucker. Er schmeckte bitter. Stumm blieben sie noch eine Weile sitzen. Mit jedem Atemzug hob und senkte sich Michelles Brust schwer.

“Ich kann dir nicht helfen“, meinte Heinrich schließlich, „von der Farm verstehe ich nichts und in meinem Beruf bin ich glücklich.“

Dankbar lächelte sie ihn an, froh einen Zuhörer gefunden zu haben, mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte. Heinrich beschlich eine dunkle Ahnung, mit der Farm würde es zu Ende gehen. Vielleicht nicht in diesem Jahr, vielleicht auch nicht im nächsten, aber der Untergang schien unabwendbar. Mit der Baumwolle würde auch das Zeitalter der feudalistischen Landherrschaft unweigerlich hinweg gerafft werden. Das Leben in Selma war nicht Heinrichs Welt, trotzdem taten ihm der Vater und Michelle leid. Draußen säuselte eine leichte Brise in den Platanen. Die Stille im Haus und auf der Farm wurde greifbar, betont durch das Gebell eines Hundes in weiter Ferne. Michelle hatte sich erhoben, trat ans Fenster und blickte hinaus. Heinrich spürte ihre Einsamkeit, ihre Verzweiflung. Dieses blühende Land wurde einst durch ihre Vorfahren urbar gemacht. Sie hatten es über Jahrhunderte erhalten und gepflegt. Und nun? Er konnte ihren Schmerz verstehen, ihre Trauer. Sie hatte ihr Bestes gegeben. Es war nicht genug. Unbewegt stand die verloren wirkende Gestalt am Fenster, den Blick in die Ferne gerichtet, als wolle sie ein letztes Mal ihren Besitz in ihr Herz hinein nehmen, bevor der Abschied kam.

„Sollten wir nicht langsam ins Krankenhaus fahren?“, fragte Heinrich leise.

Sie drehte sich mit einem Ruck um, ihr Blick ging durch ihn hindurch. Sie straffte sich und wie aus einem bitteren Traum erwachend sagte sie gefasst:

„Du hast recht, gehen wir.“

Heinrich schnappte sich die Jacke und sie stiegen in Michelles alten Chevrolet. Auf der Fahrt in die Stadt entdeckte Heinrich den Amaranth, der sich mit seinen ausladenden Rispen leicht im Wind wiegte, klein und verkümmert darunter die Baumwollstauden.

Vater lag im Selma Baptist Hospital, einem hässlichen, aber zweckmäßigen Bau.

„Ich muss noch ins Kontor“, teilte Michelle mit, „ich komme später nach. Er liegt auf Intensiv-Zimmer 013. Anschließend fahren wir zusammen nach Hause.“

Sie ließ Heinrich aussteigen und brauste davon. Langsam ging er auf den Eingang zu, trat durch die gläserne Schwingtür. Drinnen war es angenehm kühl. Es roch stechend nach Desinfektionsmitteln und nach dem Angstschweiß der Patienten, jener typische Krankenhausgeruch, in dem sich alle Hospitäler der Welt gleichen.

„Da kann man lüften, soviel man will, ist der Geruch erst einmal im Haus, geht er nicht mehr weg“, dachte Heinrich. An der Pforte erkundigte er sich bei einer unfreundlichen Schwester nach der Intensivstation. Er tastete sich durch einen endlosen, blank gewienerten Gang und mit jedem Schritt wurde er zögerlicher. Die Nachmittagssonne spielte auf den Fließen, malte seltsame Muster. Dazwischen die Kranken, die Schatten gleich vorüber schlurften. An der Tür von Zimmer 013 klebte ein Schild.

„Bitte vor Besuchen bei der Stationsschwester melden.“

Heinrich klopfte an den Glaskasten, in dem eine weißbehaubte Schwester in den Krankenakten wühlte.

„Zu wem wollen Sie?“, fragte sie unwirsch und musterte ihn scharf über ihre Brillengläser.

„Zu meinem Vater“. Im selben Moment fiel ihm ein, die Schwester konnte damit wenig anfangen.

„Gerstone, Klaus Gerstone“, schob er nach.

Sie nickte.

„Aber regen Sie ihn nicht auf, er ist in keinem guten Zustand.“

„Was sie damit meinte“, überlegte Heinrich, „dass sich Mediziner immer so verwaschen ausdrücken.“ Er nahm sich vor, ein Gespräch mit dem Arzt zu führen, vielleicht konnte der ihm Genaueres sagen. Heinrich klopfte an die Tür, von drinnen kein Laut. Er trat ein. Der Vater lag isoliert im Zimmer, das Gesicht fahl und eingefallen. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Die Augen geschlossen, sah er aus, als schliefe er. In seinem Arm steckte eine Kanüle, die mit einem Tropf verbunden war. Eine klare Flüssigkeit tropfte im Sekundentakt in den durchsichtigen Plastikschlauch. Auf der nackten Brust klebten vier Pads, die mit einem Monitor verbunden waren, auf dem sich eine oszillierende Kurve abbildete. In der Nase zwei Schläuche für den Sauerstoff.

„Vater?“, flüsterte Heinrich. Erschrocken stellte er fest: wie alt der Vater seit seinem letzten Besuch geworden war, graue Stoppeln im Gesicht, hohlwangig. Der Alte öffnete mühsam die Augen.

„Heinrich“, flüsterte er, „schön.“ Das Sprechen strengte ihn an. Heinrich legte sein Ohr dicht an den Mund des Vaters.

„Mein Sohn.“ Heinrich fasste die Hand des Vaters, streichelte sie hilflos.

„Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.“

Der Vater nickte kaum merklich.

„Wie geht es dir?“ Der Vater schloss die Lider, jedes Wort, jede Geste erschöpfte ihn, die Hand hing schlaff herunter. Unter der durchscheinenden Haut schimmerten blau die Venen.

„Ich habe keine Angst mehr“, flüsterte der Vater. „Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor es zu Ende geht.“

„Unsinn“, versuchte Heinrich ihn aufzumuntern und empfand wie sinnlos seine Worte waren.

„Es ist gut so, ich habe mein Leben gelebt. Nur für dich habe ich zu wenig Zeit gehabt“, raunte er.

„Du hast getan was du konntest.“

Der Vater war zu schwach um zu widersprechen.

„Hast du Schmerzen?“

Er bewegte den Kopf ein wenig, verneinend.

„Sie pumpen mich mit Morphium voll.“

Davon verstand Heinrich nichts. Er spürte, der Vater tat ihm unendlich leid. Gerne hätte er etwas für den Vater getan, doch es gab rein gar nichts was er hätte erledigen können. Diese Erleichterung, diese Flucht, diese Beruhigung des Gewissens war ihm nicht vergönnt.

„Das ist das Schwerste, da zu sitzen und nichts tun zu können, gar nichts. Das auszuhalten ist furchtbar“, dachte er.

Der Alte öffnete die Augen.

„Wo ist Michelle?“

„Sie kommt später.“

„Weißt du, wir haben uns nicht gut verstanden in letzter Zeit. Sie war zu jung für mich.“

Was hätte Heinrich dazu sagen sollen.

„Ich war ihr zu nichts nütze“, wisperte er. „Es ist das Beste, ich gehe.“

„Sag nicht so was, du wirst wieder gesund“, sprach Heinrich ihm halbherzig Mut zu und ahnte, seine Worte klangen falsch.

„Wenn ein Mensch stirbt, spürt man das“, dachte Heinrich, genauso war es bei der Mutter gewesen.

„Erinnerst du dich manchmal an deine Mutter?“, ächzte der Vater als hätte er das Stichwort aufgenommen. Heinrich nickte und seine Augen schwammen im Wasser.

„Sie hat uns viel zu früh verlassen. Das war nicht gut, gar nicht gut.“ Tränen rollten über die eingefallenen stoppeligen Wangen des Vaters.

„Ich habe sie geliebt. Sie war die einzige, die ich wirklich geliebt habe. Michelle, das war nur Sex und nicht einmal mehr das, in letzter Zeit.“

„Hättest du mir das nicht früher sagen können, es hätte mir so geholfen“, murmelte Heinrich. Dem Vater fielen vor Erschöpfung die Augen zu. Heinrich griff in die Brusttasche, fingerte das Hochzeitsbild seiner Eltern heraus, drückte es dem Vater in die Hand.

„Was ist das? Zeig es mir, meine Hand ist zu schwach.“

Heinrich hielt ihm das verblichene Foto dicht vor das Gesicht. Der Vater warf einen Blick darauf, brauchte eine Weile, bis er die Gestalten erkannte.

„Sara, geliebte Sara“, hauchte er. Mit zitternden Fingern fasste er das Bild und presste es auf die nackte Brust. Ein kaum hörbarer Seufzer entrang sich seiner Kehle.

„Danke, mein Sohn, danke.“ Kraftlos schwieg er. Es sah aus als schliefe er. Die Sonnenstrahlen wanderten die Wand entlang, spiegelten sich im Glas eines Bildes, es zeigte ein Farmhaus, tanzten auf dem blank gewienerten Linoleum. Im Krankenzimmer herrschte gespenstische Stille, einzig die keuchenden Atemzüge des Vaters wehten durch den Raum. Von draußen schwappte das Leben herein, das aufgeregte Tschilpen der Spatzen, das Schmatzen der Reifen vorüberfahrender Autos. Heinrich fühlte sich dem Vater innig verbunden. Er hielt die kalte Hand, drückte sie leicht. Er erwartete kein Gespräch. Lange Zeit blieben sie stumm und die Stille hatte etwas Tröstliches. Schließlich öffnete der Vater erneut die Augen. Heinrich sah, wie schwer es ihm fiel.

„Wie geht es Cielo“, röchelte er, „wo ist sie?“

„Ich hielt es für besser sie nicht mitzubringen. Ich dachte ihr versteht euch nicht. Ich wollte dich nicht aufregen.“

Der Alte verzog unwirsch den Mund.

„Das ist lange her, ich hätte gerne Enkelkinder gesehen.“

„Du hast zwei Enkelkinder.“

„Diese verzogenen Bälger“, stöhnte er missbilligend. „Mit deiner Mutter, das war etwas anderes.“ Er umklammerte das Foto. Kraftlos fielen ihm die Augen zu. Sein Atem ging stoßweise. Die Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Heinrich schien es, als gruben sich die Falten im Gesicht des Vaters von Minute zu Minute tiefer ein. Es setzte eine Schnabeltasse an die Lippen des Vaters, die ausgetrocknet und spröde waren.

„Trink etwas.“ Einige Tropfen rannen in seinen Mund, er schluckte mühsam. Die Tropfflasche war ausgelaufen und Heinrich klingelte nach der Schwester. Den Knebel selbst zuzuschieben wagte er nicht. Es dauerte eine Weile bis die Schwester kam, die Tropfflasche wechselte. Sie hantierte laut, sprach den Vater an.

„Na, Mr. Gerstone, schön dass Ihr Sohn Sie besucht.“

Der Vater reagierte nicht. Mit einem Achselzucken verließ sie das Zimmer, gab dem Schweigen Raum. Zeit spielte keine Rolle mehr. Heinrich wusste nicht, war er eine Stunde zu Besuch oder waren es nur Minuten. Er hing seinen Gedanken nach, versuchte sich an die wenigen glücklichen Momente, die er mit dem Vater verbracht hatte, zu erinnern, doch so sehr er sich auch marterte, ihm fiel nichts ein. Stattdessen sah er vor seinem geistigen Auge die Mutter. Sie saß lachend auf der Schaukel im Garten und Heinrich versuchte sie mit seinen schwachen kindlichen Kräften an zu schubsen.

„Seltsam“, dachte Heinrich, „all die Angst, all der Groll, den er dem Vater gegenüber gehegt hatte, waren mit einem Male verschwunden. Er fühlte nur dieses zarte Band der Verbundenheit mit dem Vater und er war froh an seiner Seite zu sein, diese Aussöhnung in seinem Herzen vollziehen zu können. Als spüre der Vater seine Gedanken, öffnete er mühsam die Augen.

„In meinem Schreibtisch“, presste er mit letzter Anstrengung heraus, „liegt ein Päckchen in grauem Packpapier. In der obersten Schublade.“ Er musste keuchend einen Moment innehalten. „Ich möchte, dass du das an dich nimmst.“

„Aber“, wehrte Heinrich ab, „Michelle…“

„Darauf hat sie kein Recht, darauf nicht.“ Er rang nach Luft, regte sich auf.

„Ich rede mit ihr.“ Die Augen fielen ihm erneut zu und der stoßweise, gepresste Atem ging flacher. In stillem Einverständnis drückte Heinrich seine Hand. Wie gerufen schwang die Tür auf und Michelle brach ein in die Stille, mit einem Schwall gespielter Fröhlichkeit.

„Na mein Alterchen, wie geht es uns heute?“ Ihre Stimme klang eine Spur zu laut, zu aufgekratzt. Heinrich bot ihr seinen Stuhl an und sie glitt mit einer katzengleichen Bewegung an die Seite ihres Mannes. Klaus öffnete die Augen und Heinrich erschrak zutiefst, als er blanken Hass darin aufblitzen sah. Er hatte immer geglaubt, die Ehe des Vaters wäre glücklich trotz aller Streitereien. Mit einem Schlag wurde es trotz der Hitze eisig im Zimmer 013, so als wehe ein plötzlicher Frosthauch durch den Raum.

„Vater“, dachte Heinrich. Urplötzlich erahnte er die ganze Tragödie im Leben seines Vaters.

„Armer Vater...“, – weiter zu denken verbot ihm ehrfurchtsvolle Scheu.

„Ich möchte mit dem Arzt sprechen“, flüsterte er Michelle zu, froh der angespannten Situation zu entkommen. Er beugte sich zum Vater hinunter, drückte einen flüchtigen Kuss auf seine kühle Stirn.

„Gute Besserung“, murmelte er, er glaubte seinen Worten nicht. Warum musste er sogar jetzt noch lügen? Im Herzen wusste er, dies war der Abschied. Ein Abschied für immer. Auf Zehenspitzen schlich er aus dem Krankenzimmer. Auf dem Gang holte Heinrich tief Luft, befreite seine zugeschnürte Kehle. Er trat ans Fenster, öffnete einen der Flügel, um die Sonne hereinzulassen. Stumme Tränen liefen über seine Wangen. Er schämte sich ihrer nicht.

„Wir hätten uns noch so viel zu sagen gehabt“. Heinrich spürte schmerzlich die Endlichkeit des Lebens. Er wusste nicht wie lange er im warmen Nachmittagswind Alabamas gestanden hatte. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, machte er sich auf die Suche nach dem diensthabenden Arzt. Er fand ihn im Wachzimmer einer der angrenzenden Stationen. Das Gesicht des jungen Doktors zeigte jene Resignation, die von Menschen ausgeht, die zu viel Leid mit ansehen müssen, dem Tod hilflos gegenüberstehen. Heinrich stellte sich vor. Der Doktor brauchte einen Augenblick bis er ihn zuordnen konnte.

„Ach so, der Herzinfarkt“, meinte er schließlich erleichtert.

„Kommen Sie“, sagte er, „wir nehmen einen Kaffee.“ Sie holten sich am Automaten zwei heiße Kaffee in viel zu dünnen Pappbechern. Das kochende Getränk brannte an den Fingern.

„Wie steht es mit meinem Vater?“, drängte Heinrich.

„Ich glaube nicht, dass wir ihn retten können“, informierte der Arzt geschäftsmäßig.

„Wie lange noch?“

„Das weiß kein Mensch. Sehen Sie, es ist nicht der Herzinfarkt, der ihn umbringt, sondern dieser tödliche Herz-Kreislaufkollaps. Wir tun unser Möglichstes.“

„Wie konnte das passieren?“

„Wir wurden zu Ihrem Vater gerufen, die Diagnose Herzinfarkt war schnell gestellt. Er lag nackt auf dem Bett. Wie in diesen Fällen üblich bekam er sofort Nitroglycerin. Doch sein Zustand verschlechterte sich daraufhin dramatisch. Ein Wunder, dass es der Sanitätswagen bis ins Krankenhaus geschafft hat. Zunächst konnten wir uns diese Komplikation nicht erklären. Aber eigentlich kann es nur einen Grund für diesen Kollaps geben. Ihr Vater muss vor dem Infarkt Sildenafil genommen haben.“

Heinrich sah den Arzt verständnislos an. Verlegen nestelte der an seiner Kitteltasche.

„Na, Viagra eben. Ihr Vater muss kurz vor dem Infarkt eine größere Menge Viagra eingenommen haben.“

Heinrich starrte sein Gegenüber ungläubig an.

„Wissen Sie“, meinte der Doktor, „Nitro und Sildenafil ist eine tödliche Mischung. Was hätten wir tun sollen? Hätten wir kein Nitro gegeben, wäre er mit ziemlicher Sicherheit am Infarkt gestorben.“

Heinrich verstand schlagartig, sah die Szene vor sich, sah den Vater, der wieder getrunken hatte, der wie so oft Viagra genommen hatte und der dann in Michelles Schlafzimmer getaumelt war.

„Tut mir leid“, sagte der Arzt und sah auf den Boden.

„Wie lange noch?“

Der Mediziner zuckte die Achseln.

„Wir konnten ihn nicht stabilisieren. Kein gutes Zeichen. Wenn nicht ein Wunder geschieht...“ Er brach ab. „Vielleicht einen Tag, vielleicht eine Woche, wie gesagt, wir tun unser Möglichstes.“

„Danke.“

„Ich muss weiter“, sagte der Arzt und versuchte seiner Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. Heinrich sah, wie schwer es ihm fiel ruhig zu bleiben. Verlegen reichte er ihm die Hand. Das Gespräch war beendet. Benommen irrte Heinrich durch die Gänge, fand sich eher zufällig vor 013 wieder. Michelle wartete schon.

„Und?“

„Ich kann jetzt nicht darüber reden.“ Sie drang nicht in ihn.

„Lass uns gehen“, sagte sie heiser. Schweigend stiegen sie in ihren Wagen. Michelle kurbelte das Verdeck herunter. Der Wind zauste ihre schwarzen Haare.

„Er hat es dir gesagt?“, fragte sie. Heinrich nickte. Schweigend fuhren sie durch die anbrechende Dämmerung. Heinrich beobachtete sie verstohlen von der Seite. Ihr Gesicht unbewegt, versteinert.

„Wir hatten uns schon lange nichts mehr zu sagen“, meinte sie mit teilnahmsloser Stimme. „Vielleicht ist es besser so.“

„Er ist nie über den Tod von Mutter hinweg gekommen“, dachte Heinrich. Der Gedanke tröstete ihn nicht.

„Es tut mir leid“, flüsterte er kaum hörbar.

„Ich glaube, er war nie glücklich hier“, bemerkte Michelle, „je erfolgreicher ich wurde, desto mehr zog er sich zurück. Irgendwann konnte ich seine ständige Trinkerei nicht mehr ertragen, schon der Geruch nach Whiskey ekelte mich. Wenn er betrunken war, kam er zu mir, wollte mit mir schlafen. Gott, wie habe ich es gehasst. Mit den Jahren ging gar nichts mehr. Ich meine, er hat keinen mehr hoch gebracht. Er war schwach, dafür habe ich ihn verabscheut.“

Dieses Gefühl kannte Heinrich gut. Sie bogen in die Allee ein, die zum Farmhaus führte. Es war alles gesagt. In der dämmerigen Empfangshalle nahm ihn Michelle in den Arm und er ließ es widerstandslos geschehen.

„Ich habe ihn geliebt, damals in Coronado“, flüsterte sie, „das musst du mir glauben.“

Sie machte sich los und ging auf ihr Zimmer. Heinrich blickte ihr nach, sah wie sie kerzengerade die Treppe emporstieg. Sie drehte sich nicht um.

Wind kam auf und schüttelte die Bäume. In der Ferne braute sich ein Gewitter zusammen.

Sie aßen gemeinsam zu Abend. Eduard kam mit seiner Familie herüber. Wahrscheinlich kann seine Frau nicht kochen, meinte Michelle gehässig. Die Kinder seines Bruders erwiesen sich, wie befürchtet, als unerzogene Bälger und Heinrich musste an sich halten, um nicht mit der Faust auf den Tisch zu schlagen oder laut zu brüllen. Sie rannten während des Essens um den Tisch, schrien laut und stritten. Das jüngere stieß mutwillig ein Glas mit Johannisbeersaft um. Die rote Flüssigkeit bildete einen hässlichen Fleck auf dem weißen Damast-Tischtuch. Tom, der Butler, schickte einen verzweifelten Blick zur Decke. Endlich ging das unerfreuliche Essen zu Ende. Sie saßen auf der Veranda, schlürften einen Bourbon mit Eiswürfeln. Die Kinder tobten durch den Garten, unüberhörbar ihr Gekreische. Michelle wippte in einem gedrechselten Schaukelstuhl, starrte geistesabwesend in die Ferne. Heinrich beobachtete verstohlen die Frau seines Bruders. Eine nichtssagende Person, jung zwar, aber mit einem Hang zum Ordinären. Ihr Kleid ein wenig zu kurz, zu bunt und der Ausschnitt so tief, dass er mehr zeigte als verbarg. Sie plauderte ungeniert über die geschmacklosen Nachbarn, beschwerte sich über die hohen Preise für Rindfleisch und schimpfte ohne Scheu über die Faulheit ihres Mannes. Schließlich hielt es Eduard nicht mehr aus und er brüllte sie an.

„Halt dein ungewaschenes Maul.“

Beleidigt drehte sie sich weg. Heinrich berührte der Auftritt peinlich und er sehnte sich nach Cielo, nach zuhause nach Ruhe und Frieden. Michelle unterbrach die kurze Stille.

„Wie lange kannst du bleiben, Heinrich?“

Darüber war er sich selbst nicht im Klaren. Gewiss wollte er nicht lange bleiben, die angespannte Situation im Hause des Vaters bedrückte ihn. Er überlegte ob er für den Vater noch etwas tun könnte. Ihn vielleicht beim Sterben begleiten? Aber das konnte lange dauern, wie der Arzt meinte. Seinen Frieden mit dem Vater hatte er gemacht. Müsste er ein schlechtes Gewissen haben, wenn er nicht länger bliebe?

Dicke schwarze Wolken schoben sich über den Nachthimmel, verteilten ihre Regenfracht über das Land.

„Ich wollte morgen zurück“, sagte er zögerlich. „Ich habe einen wichtigen Auftrag und bin unter Zeitdruck, außerdem habe ich Cielo versprochen, sie zum Arzt zu begleiten.“

Das entsprach nicht der Wahrheit. Er gestattete sich die kleine Notlüge. Wurde es dadurch nicht einfacher für alle? Zumindest vermied er lästige Fragen. Erste schwere Tropfen fielen und bildeten kleine Staubwirbel auf dem trockenen Boden. In der Ferne zuckten fahle Blitze, tauchten die Bäume des Parks in ein gespenstisches Licht. Erhitzt stürmten die Kinder die Treppe hoch, quetschten sich neben ihre Eltern auf die Bank.

„Gut “, meinte Michelle regungslos, „ich bringe dich zum Flughafen. Ich muss morgen nach Montgomery zu meinem Schneider. Man kann ja nie wissen“, setzte sie vieldeutig hinzu.

„Ich hatte gehofft du könntest länger bleiben.“ Sie musterte ihn forschend von der Seite. Heinrich tat als bemerke er ihren Blick nicht.

„Onkel Heinrich“, quakte das kleine Mädchen vorlaut dazwischen, „wieso hast du keine Kinder?“

Das fehlte ihm gerade noch. Er hatte diese Frage gefürchtet und nun stand sie im Raum. Die fünf starrten Heinrich neugierig an. Der prüfende Blick der Stiefmutter brannte sich ein und er meinte das spöttische Lächeln der Frau des Bruders im Nacken zu spüren.

„Vielleicht kann er nicht“, platzte sie taktlos hervor. „Kommt doch vor.“ Zorn kochte in Heinrich hoch, gerne hätte er sie schroff zurückgewiesen, sie geschlagen, mühsam beherrschte er sich. Röte schoss ihm ins Gesicht und seine Adern pochten.

„Ich weiß nicht“, antwortete er und bemühte sich so gleichgültig zu wirken, wie er nur konnte. Es gelang ihm schlecht.

„Wie gut, dass es dunkel ist“, dachte er. Michelle entschärfte die peinliche Situation indem sie sich erhob.

„Es ist spät, lasst uns hineingehen. Morgen ist ein anstrengender Tag.“

Der Halbbruder nutzte die Gelegenheit, um sich mit Frau und Kindern zu verabschieden. Sie tauschten die üblichen, belanglosen Höflichkeitsfloskeln, dann war er mit Michelle allein.

„Eine unangenehme Person“, stellte Michelle fest, während sie ins Haus gingen.

„Möchtest du noch etwas trinken?“

Heinrich schüttelte den Kopf.

„Lieber nicht, ich bin müde.“

„Ich auch“, pflichtete sie bei und deutete ein Gähnen an.

Draußen fuhr der Gewittersturm in das Windlicht und löschte die Kerzenflamme.

„Schlaf gut.“

„Gute Nacht.“

Sie gingen auf ihre Zimmer. Heinrich, froh der misslichen Situation entkommen zu sein, seufzte erleichtert. Er öffnete das Fenster weit, ließ die schwüle, stickige Luft aus dem Zimmer, die ihm das Atmen schwer machte. Dichter Regen rauschte durch das Blätterdach der alten Platanen. Er schaltete das Licht nicht an, schälte sich aus der vom Schweiß feuchten Kleidung und warf sich nackt aufs Bett.

Überstanden, dachte er bevor er in einen unruhigen Schlummer sank. Wie lange er geruht hatte, wusste er nicht. Ein zaghaftes Klopfen weckte ihn. Die Tür öffnete sich einen Spalt und eine schlanke Gestalt schlüpfte herein.

„Mach kein Licht“, wisperte Michelle. Heinrich erstarrte, war augenblicklich hellwach. Sie tastete sich zum Bett hinüber, setzte sich auf die Bettkante. Im grellen Licht der Blitze sah Heinrich, dass sie ein schwarzes, fast durchsichtiges Negligé trug. Gern hätte er sich unter der Bettdecke verkrochen, doch das war unmöglich.

„Habe ich dich geweckt?“ Heinrich blieb stumm.

„Tut mir leid.“

Sie legte einen undefinierbaren Gegenstand auf die Decke, zog die nackten Beine an und umschlang die Knie mit den Armen.

„Er wollte, dass ich dir das gebe“, flüsterte sie.

„Danke“, stammelte er.

„Lass mich einen Augenblick zu dir.“

Heinrich hatte etwas dagegen, aber er wagte nicht zu antworten, er fürchtete sie zu ermutigen. Michelle nahm sein Schweigen für Zustimmung. Sie nestelte an ihrem Oberteil. Heinrich spürte einen kaum wahrnehmbaren Luftzug, als das Negligé von ihren Schultern glitt. Sie kroch neben ihn, barg den Kopf an seiner nackten Brust. Ihre festen Brustwarzen kitzelten seine Haut. Heinrich lag ganz steif. Sanft strich sie mit den Fingern über seine Brust. Heinrich wagte nicht zu atmen.

„Ich bin schon so lange allein“, raunte sie ihm ins Ohr. Ihr warmer Atem fing sich in seiner Ohrmuschel, ließ ihn erschauern.

„Ich habe dich immer gemocht, schon als kleinen Jungen.“

Sie streichelte ihn zärtlich, fuhr mit dem Zeigefinger über sein Gesicht, spielte mit seinen heißen Lippen.

„Vater liegt vielleicht gerade jetzt im Sterben“, dachte er verzweifelt, unfähig sich zu wehren. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen, ihre Haare fielen über sein Antlitz wie die Fransen eines Halstuchs. Ihr weicher Mund drückte sich auf den seinen. Sie küsste ihn lang und hemmungslos.

„Wie weich ihre Lippen sind“, schoss es ihm durch den Kopf und sie schmeckten nach Orangen, zugleich schämte er sich ob dieser Gedanken. Sie war begehrenswert. Ja, das war sie, trotz ihres Alters. Aber sie blieb die Frau seines Vaters. Außerdem war da Cielo, die ihn zärtlich liebte. Er wurde ganz wirr im Kopf.

„Sei nicht so schüchtern, mein Kleiner“, wisperte sie ihm ins Ohr.

Die Erregung jener schwülen Sommernacht in Coronado kroch in ihm hoch, er fühlte die Hitze in Kopf und Gliedern, sein Herz raste. Ihr Oberkörper warf sich über ihn, schweißnasse Haut auf glühender Haut.

„Was soll's“, dachte er und legte den Arm um ihre nackten glatten Schultern.

„So ist es gut“, stöhnte sie leise. Sie rieb sich sanft an ihm.

„Wie fest sich ihr Fleisch anfühlt.“

„Komm, komm zu mir“, drängte sie. Heinrich schwanden die Sinne. Er begehrte sie, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, spürte nur Gier in sich, zugleich jedoch ekelte er sich vor sich selbst. Sie schien seinen Zwiespalt zu erahnen, steigerte vorsichtig ihre Liebkosungen. Heinrich seufzte. Er wusste, bald hätte er sich nicht mehr unter Kontrolle. Dann würde er mit seiner Stiefmutter schlafen, wild, wie ein Tier würde er über sie herfallen. Sie tastete im Dunkeln nach seinem steil aufgerichteten Glied, rieb es zärtlich.

„Das dürfen wir nicht tun“, wimmerte er.

„Sei nicht dumm, keiner wird es je erfahren.“

Wenn das so einfach wäre, zermarterte er sich das Gehirn. Sie drängte ihren Leib an ihn, nur ihr dünner Slip trennte sie.

Der Sturm riss einen Fensterladen los, knallte ihn gegen die Mauer. Das Geräusch irritierte ihn.

„Zieh ihn runter“, bettelte sie. Heinrich versuchte das Höschen herunter zu rollen, er wollte es nicht zerreißen.

„Mach schon“, drängte sie vibrierend vor Lust. Mit einem heftigen Ruck riss sie den hauchdünnen Stofffetzen von ihren zitternden Schenkeln. Sie presste sich an ihn, näherte ihr Geschlecht dem seinen, heiß und fiebrig. Brünstig setzte sie sich auf ihn, wollte ihm mit der Hand hinein helfen. Ihr Kopf zuckte hin und her, wirre Worte flossen aus ihrem Mund. Aber es ging nicht. Vor lauter Scham fehlte Heinrichs Glied die nötige Steife.

„Du wirst doch nicht auch schon Viagra brauchen“, keuchte sie. Im selben Moment wusste sie: sie hatte einen furchtbaren Fehler gemacht. Sie spürte wie seine Hand auf ihre Wange klatschte, fühlte ein schmerzhaftes Brennen.

Vor dem Fenster zuckte ein greller Blitz, erhellte für Sekunden den Raum. Heinrich starrte in ihr vor Erregung verzerrtes Gesicht und begriff jäh die Unmöglichkeit ihres Tuns.

Viagra! Mit einem Mal war er nüchtern, eiskalt und klar.

„Ich kann das nicht“, sagte er bestimmt und eine Spur zu laut, als müsse er sich selbst Mut zusprechen. Ihr erschrecktes Gesicht konnte er in der Dunkelheit nur erahnen.

„Entschuldige, bitte entschuldige“, wimmerte sie. Allein es war vorbei. Er packte sie, drückte sie mit den Schultern aufs Bett und sprang auf. Er trat ans Fenster, der feuchte Wind kühlte seinen erhitzten Körper und seine Sinne. Sie lag zusammen gekrümmt auf dem Laken, heulte leise vor sich hin.

„Magst du mich gar nicht?“, schmeichelte sie.

„Doch, aber ich werde nicht mit dir schlafen“, äußerte er unbeirrt. Sie kroch ungläubig aus dem Bett, trat von hinten an ihn heran, schmiegte ihren nackten schweißigen Leib an den seinen, jungmädchenhaft. Er regte sich nicht, drehte sich nicht um.

„Es tut mir leid, unendlich leid“, murmelte sie und wie zur Entschuldigung, „ich bin so alleine.“

„Geh, bitte“, verlangte er nachdrücklich. Unter Tränen klaubte sie ihre Sachen zusammen, schlüpfte aus dem Zimmer. Erleichtert verriegelte Heinrich die Tür hinter ihr.

„Mein Gott“, besann er sich, „fast hätte ich mit meiner Stiefmutter geschlafen.“ In dieser Nacht konnte er keinen Schlaf finden. Das Gewitter toste um das Haus und in den Regenfluten lösten sich die quälenden, drängenden Erinnerungen an jene Nacht in Coronado. Heinrich hatte gehört: die erste Frau im Leben vergisst man nie. Vergessen würde er Michelle nicht, sicher nicht, aber das Gefühl, um ein kurzes kindliches Glück betrogen worden zu sein, dieses Gefühl war ihm wie eine Last von der Seele genommen. In der Düsternis eines muffigen Zimmers in Selma reifte Heinrich Gerstone zum Mann.

Beim Frühstück vermieden sie es, sich anzusehen. Sie sprachen Belangloses, stocherten in ihrem Rührei mit Speck. Michelle trug eine hoch geschlossene weiße Bluse, heute ganz Geschäftsfrau. Keine Spur der nächtlichen Tränen im sauber geschminkten Gesicht. Sie hatte sich im Griff. Heinrich wusste, sie hatte geweint. Kühl gab sie dem Diener Anweisungen für die Zeit ihrer Abwesenheit.

„Möchtest du nochmal ins Krankenhaus?“, wollte sie von Heinrich wissen. Er stutzte kurz, Zeit blieb genug. Warum also nicht.

„Wenn es dir nichts ausmacht.“

„Es liegt auf dem Weg“, meinte sie sachlich.

Wie sie saß, mit verschränkten Beinen, tat sie Heinrich leid. So stolz, so unnahbar und so verzweifelt alleine. Er konnte verstehen, dass ihr der Vater keine große Hilfe war, konnte der sich doch kaum selber retten. Aber hatte der Vater je wirklich Zeit für ihn gefunden, schoss es Heinrich durch den Kopf. Wie sollte er dann Zeit finden für seine junge Frau? Er begriff, der Vater war nie mit dem Tod Saras fertig geworden. Das Ganze blieb eine verflucht verfahrene Geschichte. Der Altersunterschied von fast 20 Jahren zum Vater ließ sich nicht überwinden, trotz all ihrer Bemühungen. Michelle war zu jung um auf Dauer alleine zu bleiben. Aber das konnte nicht sein Problem sein. Heinrich beschloss, sich nicht mehr verantwortlich zu fühlen, weder für den Vater, noch für Michelle. Er konnte nichts für sie tun, denn seit wann rettet der Sohn den Vater? Außerdem wartete Cielo in Coronado auf ihn.

„Wir sollten gehen“, drängte sie.

„Ich hole meine Sachen.“

Im Gästezimmer stopfte er seine Kleidungsstücke, sein Waschzeug in die Reisetasche. Sein Blick fiel auf das Päckchen. In der Nacht hatte er es vergessen. Es lag auf der Kante des Bettes, eingeschlagen in graues Packpapier, mit einem Bindfaden verschnürt. Heinrich wunderte sich, diese Art Papier gab es nicht mehr im Handel. Doch die Zeit drängte und er warf das Päckchen achtlos zu den Kleidungsstücken.

Sie verließen das Haus, der Himmel strahlte blank geputzt nach den heftigen Regengüssen der Nacht. Befreit atmete er die kühle Luft ein. In den Pfützen der Einfahrt spiegelte sich der porzellanblaue Himmel. Schweigend fuhren sie in die Stadt. Sie hielten vor dem Selma Baptist Hospital, suchten das Zimmer 013, meldeten sich im Stationszimmer an.

„Es geht ihm nicht gut“, meinte die dunkelhäutige Schwester, „gehen Sie nur zu ihm.“

Leise betraten sie das Krankenzimmer. Der Vater lag bewegungslos, sein Atem ging röchelnd.

„Klaus“, versuchte Michelle ihn zu wecken.

„Vater.“

Er reagierte nicht, zuckte nicht einmal mit den Augenlidern. Mit keiner Regung gab das wächserne Gesicht zu erkennen, dass es sie wahrgenommen hatte. Michelle zuckte die Schultern. Heinrich küsste den Vater auf die Stirn, die sich unter seinen Lippen kalt und schweißig anfühlte.

„Er erkennt Sie nicht“, stellte die Schwester, die sie begleitet hatte, fest. Frau und Sohn hielten einige Augenblicke inne, ratlos, verließen dann geräuschlos wie sie gekommen waren den Raum.

„Sieht nicht gut aus“, flüsterte Heinrich und er bemühte sich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Michelle schluckte.

„Dem Tod näher als dem Leben“, äußerte sie erschrocken mit zitternder Stimme. „Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.“ Er nickte stumm.

Sie fuhr ihn zum Flugplatz. Beide hingen ihren Gedanken nach. Michelle versuchte sich auf die Straße zu konzentrieren, wischte verstohlen ihre Augen. Heinrich fühlte grenzenlose Erleichterung, vermischt mit dunkler Traurigkeit. Indes mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, wurde sein Herz leichter. Sie bogen in den Flughafenzubringer ein. Das Glas des langgestreckten Baus blitzte in der Sonne. Michelle bremste bei den Backsteinsäulen unmittelbar vor der Abflughalle.

„Ich bleibe im Wagen“, murmelte sie, „ich hasse Abschiede.“

„Ich auch“, entfuhr es Heinrich.

„Du sagst mir Bescheid, wenn es mit Vater zu Ende geht“, bat er. Sie nickte. Stumm packte er seine Reisetasche, stand einen Moment unschlüssig neben dem Auto.

„Danke für alles“, presste er hervor, „lass es dir gut gehen.“ Er fand diese Floskel, kaum ausgesprochen, unpassend, nichtssagend. Ein bisschen netter hättest du schon sein können, tadelte er sich. Sie nahmen sich nicht in den Arm. Förmlich reichte sie ihm durch das geöffnete Fenster die zitternde Hand, sah ihn traurig an. Heinrich ahnte ihre tiefe Verletzung. Allein es war gut so. Er wandte sich zum gehen, zögerlich.

„Das heute Nacht bleibt unter uns“, rief sie ihm nach. Er drehte sich um.

„Versprochen“, beteuerte er und trat durch die Drehtür in die Abflughalle. Er beobachtete durch die Scheiben wie Michelle sich die Nase putzte, mit dem Tuch die Augenwinkel abtupfte, dann ließ sie den Motor an und lenkte den Chevrolet auf die Straße.

Die Halle schien wie ausgestorben. Einige Passagiere warteten gelangweilt auf ihre Flüge. Kein Wunder bei gerade mal zwanzig Verbindungen am Tag, überlegte Heinrich. Er checkte für seinen Flug nach Dallas ein. Bis dieser aufgerufen wurde, blieb ihm noch Zeit. Er setzte sich auf eine Wartebank, versuchte seine durcheinander wirbelnden Gedanken zu ordnen. Sah seine überstürzte Abreise nicht wie eine Flucht aus, überlegte er. Aber welche Alternativen boten sich ihm? Sollte er beim Vater ausharren, dann hätte er mit Michelle eine weitere Nacht unter ihrem Dach verbringen müssen oder sogar mehrere, ihren unverhohlenen Annäherungsversuchen ausgesetzt. Irgendwie würde sie ihn herumkriegen, befürchtete er. Er wollte nicht daran denken. Ob er noch einmal die Kraft finden würde, ihr zu widerstehen? Er war sich nicht sicher. Noch kitzelte ihn ihr betäubendes Parfüm in der Nase. Und dann? Cielo könnte er nicht mehr unter die Augen treten. Der Vater hätte von einer längeren Anwesenheit auch nichts, tröstete er sich. Im Innersten seines Herzens ahnte er jedoch, dass er sich belog. Trotz allem schien die überstürzte Abreise der beste Weg aus dieser Zwangslage. Die Erinnerung an die letzte Nacht rief eine wilde Erregung in ihm wach. Cielo zeigte sich nie so leidenschaftlich, so fordernd. Der Reiz des Verbotenen schien dieses Prickeln auszumachen, oder war es dieses aus der Kindheit überkommene Gefühl. Auf jeden Fall war es vorüber und er würde sich hüten nochmals in diese verlockende Falle zu tappen. Ihm wurde klar, dass er auf keinen Fall zur Beerdigung fahren konnte. Der Vater würde es ihm verzeihen. Besser er hielt das Andenken an ihn unbefleckt. Fast unbefleckt stellte er ehrlich fest. Was hätte die Mutter dazu gesagt.

Schluss jetzt mit diesem Martyrium in Gedanken, befahl er sich. Er erhob sich, kaufte eine Zeitung und versuchte sich in den Klatsch von Montgomery zu vertiefen. An einem Artikel über die missliche Situation der Farmer in Alabama blieb er hängen. Es ging um einen bissigen Kommentar zu genmanipulierten Pflanzen. Mit Erstaunen las er, nicht nur Baumwolle, sondern auch Soja, Reis, Mais und Weizen wurden manipuliert. Sogar genmanipulierte Pappeln baute ein deutscher Konzern in China an.

Biologische Leibeigenschaft

Zynisch ist das Ausweichen der Konzerne auf den Bereich Umweltschutz vor allem deshalb, weil die wahren Auswirkungen einer Kommerzialisierung der Technologie verschleiert werden. Die sozialen Auswirkungen eines großflächigen Einsatzes von Terminatorsaatgut können verheerend sein. Die Bauern verlieren durch Terminatorpflanzen grundlegende Rechte, vor allem ihr Grundrecht auf die Wiederverwertung ihres Saatgutes. Speziell für die armen Landwirte in Afrika oder Asien ist jedoch der Kauf von Saatgut mit einer Verschuldungsspirale verbunden, die schon während der grünen Revolution Millionen von Kleinbauern in den Ruin trieb. Die Durchsetzung von Terminatorsaatgut in diesen Ländern – und niemand wird ernsthaft bestreiten, dass die Konzerne die Macht haben, diese Technologie auf den Märkten durchzusetzen – würde diese Entwicklung weiter forcieren und festschreiben.

Doch nicht nur Bauern, die Terminatorsaatgut kaufen, sind bedroht. Denn zusätzlich kann es durch Pollenflug oder Insektenbestäubung zu Kontaminationen von Feldern unbeteiligter Nachbarn kommen. Deren Pflanzen werden dann ebenfalls steril. Bauern, deren Felder verunreinigt wurden, können diese Auskreuzung allerdings erst nach der folgenden Aussaat feststellen, wenn ihr Saatgut nicht mehr keimt. Für die Ernährungssicherheit, speziell in Ländern der Dritten Welt, bedeuten Ernteausfälle jedoch eine schwerwiegende Bedrohung für die gesamte Bevölkerung.

Heinrich faltete das Blatt sorgfältig zusammen. Er nahm sich vor, den Artikel Cielo zu zeigen.

Die Stimme aus dem Lautsprecher klang blechern, als sie seinen Flug aufrief. Heinrich erhob sich zögernd und ging nachdenklich zur Abfertigung. Mit jedem Schritt ließ er die bedrückenden Ereignisse in Selma ein Stück weit hinter sich und als er auf das Flugfeld trat, atmete er mit einem Seufzer tief durch. Es war überstanden. Er freute sich auf ein Wiedersehen mit Cielo, ihre Liebe, besonders den Sex mit ihr, den er nach dieser Nacht schmerzlich vermisste. Sie waren gerade mal achtundvierzig Stunden getrennt. Nach dem Start fiel er in einen dämmerigen Schlummer. Die fehlende Nachtruhe zehrte an seinen Kräften. Betäubt erwachte er, als sie zum Landeanflug auf Dallas ansetzten. Dort hatte er nur wenige Minuten Aufenthalt, den er nutzte, um Cielo anzurufen und ihr seine Ankunftszeit mitzuteilen.

„Natürlich hole ich dich ab“, lachte sie.

Heinrich freute sich. Er überlegte ob er Cielo von der Nacht in Selma erzählen sollte. Er entschloss sich, die Affäre für sich zu behalten. Die Boeing 747 nach San Diego war um die Mittagszeit nur halb besetzt. Schlafen konnte Heinrich nicht mehr. Die Zeitung war gelesen und aus dem Kabinenfenster konnte er unter den leichten Schleierwolken nicht viel erkennen. Er kramte in seiner Reisetasche. Der grau verpackte Gegenstand, das Geschenk seines Vaters fiel ihm wieder ein. Der Bindfaden – wer verwendet heute noch einen Bindfaden, heute verwendet jedermann Klebestreifen – verblichen. Die Knoten sorgfältig geknüpft, alles sehr akkurat, sogar die Knicke im Papier schön altmodisch. Das sah nicht nach Vaters Werk aus. Diese Mühe hätte er sich als praktisch denkender Mensch nicht gemacht. Sein Fach war die rationelle Technik, das Feingeistige lag ihm fern. Oder sollte er sich getäuscht haben? Immerhin spielte der Vater früher ab und zu auf dem alten Klavier das in einer Ecke des Wohnzimmers stand. Vorsichtig löste Heinrich die Knoten, das dauerte eine Weile. Er fühlte sich an die Weihnachtstage seiner Kindheit erinnert. Auch seine Mutter verpackte die Geschenke immer liebevoll in buntem Papier. Natürlich riss Heinrich die Hüllen gleich auf, denn er hielt es vor Neugier kaum aus. Viel später erst erkannte er, die Freude des Auspackens ist oft schöner als das eigentliche Geschenk. Heinrich rollte den Bindfaden um die Finger. Behutsam faltete er das steife graue Packpapier auf und hielt ein Büchlein im Quartformat in Händen, gebunden in dunkelrotem verblichenem Leder mit einer grün verfärbten Schließe. Heinrich betrachtete es neugierig von allen Seiten. Das Buch mochte gut achtzig bis neunzig Jahre alt sein. Die Ecken abgestoßen und der einst glänzende Goldschnitt verschossen. Er schob den Messingknopf des Schlosses zurück und öffnete die Schnalle. Die Innenseiten des Einbandes waren mit rotem Seidenstoff gefüttert und die erste Seite in der dazu passenden Farbe bedruckt. Diese Mühe machte sich heute kein Buchbinder mehr.

Mit Gold die Lettern in altmodischer Schrift geprägt.

Tagebuch

Darunter in fein ziselierter Sütterlinschrift mit dunkelblauer Tinte:

Gero von Gerstein

Weiter unter, ebenfalls goldgeprägt ein Hakenkreuz, nochmals darunter eine flüchtig hingekritzelte Unterschrift. Erschrocken klappte Heinrich das Buch zu. Hoffentlich hatte keiner der Sitznachbarn gesehen, was er da in der Hand hielt. Offensichtlich handelte es sich um ein Relikt aus der Nazizeit und sogar sechzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches war es riskant, in Amerika mit so etwas gesehen zu werden. Was hatte dieses Buch mit ihm zu tun, mit ihm, Heinrich Gerstone? Er wickelte das Buch rasch wieder ins Packpapier und verstaute es unauffällig in seiner Reisetasche. Man konnte ja nie wissen. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Irgendwann hatte der Vater angedeutet, seine Vorfahren stammten aus Deutschland, aber er ließ sich auf keinerlei weitere Erklärungen ein und Heinrich fragte nicht nach. Zu sehr beschäftigten ihn seine täglichen Aufgaben. Welches Geheimnis barg das Buch? Warum wollte der Vater, dass ausgerechnet er es bekäme. Heinrich fand keine Antwort und es schien ihm nicht wichtig genug um weiter darüber nachzudenken. Den Rest des Fluges döste er vor sich hin. Er freute sich nach Hause zu kommen, dort erwarteten ihn genug Probleme. War da nicht dieser vermaledeite Termin beim Frauenarzt? Er wusste nicht mehr genau, wann der sein sollte. Mit gemischten Gefühlen sah er dem Zeitpunkt entgegen. Für einen Mann ist schon der Gedanke an einen Besuch bei einem Gynäkologen unangenehm. Er malte sich die vielen wartenden Frauen am Empfang aus, die ihn neugierig anstarrten. Seinem Gefühl nach schien dieser Bereich etwas Verbotenes an sich zu haben. Etwas Intimes, was nur Frauen anging und zu dem Männer keinen Zutritt hatten. Aber es musste sein, Cielo zuliebe. Das Flugzeug setzte zur Landung an. Links lag Coronado, Heinrich konnte es genau erkennen, von oben zeigten sich die geometrischen Muster der Gebäude klarer als unten auf den Straßen. Als berufsmäßiger Architekt betrachtete er aufmerksam die Strukturen und was er sah jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Der Verwaltungsbau des Naval Basis Gebäudes entsprach einer indischen Swastika, jenem uralten Glückssymbol, besser bekannt als Hakenkreuz. Heinrich warf sich in den Sitz zurück kniff die Augen zu. Ein Zeichen, fragte er sich erschüttert. Natürlich konnte es bloßer Zufall sein. Heinrich glaubte nicht an Zufälle. Die Maschine landete hart auf dem Rollfeld, rumpelte zum Gate.

GMO

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