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ZWEI FINSTERE TYPEN

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Einen Tag später bin ich mit Abena vor der Schule verabredet. Sie hat eine Idee, wie ich ins Restaurant gelangen könnte, hat sie mir heute morgen in aller Frühe aufs Handy gesimst. Ich bin gespannt. Und da kommt sie auch schon.

»Guten Morgen, Tim.«

Ich grüße zurück. Und frage sogleich nach: »Was hast du für eine Idee?«

Abena verzieht ihren Mund zu einem verschmitzten Lächeln. »Hochzeitstag!«, antwortet sie und fragt: »Ist Maria schon in der Schule?«

»Keine Ahnung«, antworte ich. Im selben Moment sehe ich sie von Weitem kommen. »Ah. Da hinten ist sie«, sage ich, noch bevor ich nachfragen kann, was es mit diesem »Hochzeitstag« auf sich hat.

»Super«, freut sich Abena.

»Was ist denn nun deine Idee?«, frage ich noch mal.

Doch Abena gibt mit nur ein Handzeichen: Abwarten!

Da kommt Maria schon auf uns zu. Wie immer mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht begrüßt sie erst mich und dann … »Abena. Richtig?«

Abena nickt. »Und du bist Maria, nicht wahr? Tim hat mir erzählt, dass deine Eltern ein italienisches Restaurant besitzen.«

Maria nickt. »Ja, stimmt. Das Milano bei uns im Stadtteil.«

»Fantastisch!«, schwärmt Abena.

Maria winkt ab. »Na ja …«

»Meine Eltern haben nächste Woche Hochzeitstag«, behauptet Abena.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Tatsächlich? Und wenn schon. Was interessiert uns das? Und was soll das mit Abenas Plan zu tun haben?

»Weißt du«, fährt Abena fort. »Meine Eltern haben sich damals in Italien in einem Restaurant kennengelernt. Du weißt ja vielleicht, meine Eltern sind im diplomatischen Dienst, und …«

Maria schüttelt den Kopf. »Nö, wusste ich nicht.«

»Na ja«, erzählt Abena weiter. »Jedenfalls viel im Ausland und so. Und da haben sie sich eben in einem Restaurant kennengelernt.«

»Wirklich?« Maria strahlt. Aber das tut sie ja sowieso immer. »Wo denn?«

Abena stutzt. Und daran merke ich, dass ihre Geschichte frei erfunden und offenbar Teil ihrer Idee ist. Das wiederum weckt meine Aufmerksamkeit. Denn der wirkliche Hochzeitstag ihrer Eltern hätte mich ehrlich gesagt null interessiert.

»Öh … In Mailand.«

»Oh!«, sagt Maria. »Meine Eltern kommen aus Mailand. Deshalb der Name des Restaurants.«

»So ein Zufall! Das passt ja!«, jubelt Abena.

Und mir wird klar: Maria hatte doch gerade zuvor den Namen des Restaurants genannt: Milano. Hätte es Firenze geheißen, hätte Abena bestimmt behauptet, ihre Eltern hätten sich in Florenz kennengelernt.

»Jedenfalls möchte ich meine Eltern nun an ihrem Hochzeitstag zu einem Essen in einem italienischen Restaurant einladen.«

»Die Tochter lädt ihre Eltern ein? Hach, das finde ich eine tolle Idee!«, seufzt Maria. »Für so was ist unser Restaurant wie geschaffen!«

»Wie schön«, säuselt Abena. »Ich würde es mir heute Nachmittag gern mal ansehen. Tim hat mir schon angeboten, mich zu begleiten. Weil, ihr kennt euch ja schon ein bisschen.«

»Gern!«, sagt Maria sofort zu. »Heute Nachmittag um vier? Da ist am wenigstens los. Ich sage meinen Eltern Bescheid.«

»Klasse!«, antwortet Abena. »Bis dann!«

»Bis dann«, sagt auch Maria und geht weiter.

Abena wartet noch ein wenig ab, bis Maria weit genug entfernt ist.

Dann lächelt sie mich an und sagt: »Wir sind drin!«

Das war wieder mal eine typische Abena-Aktion! Maria hat nicht einmal ansatzweise bemerkt, wie Abena sie eingelullt hat.

Abena ist übrigens die Einzige von uns, deren Eltern selbst mal Agenten waren. Deshalb wird ihr Plan funktionieren. Denn sie kann manchmal ihre Eltern einfach in ihre Pläne mit einbeziehen. Das heißt: Ihre Eltern werden nächste Woche ganz sicher wirklich in das Restaurant gehen und so tun, als würden sie ihren Hochzeitstag feiern.

Am Nachmittag, eine Stunde vor unserem Treffen mit Maria, finde ich mich bei Balu ein, um mich mit der nötigen Abhörtechnik ausstatten zu lassen.

»Alles klar? Hast du alles verstanden?«, fragt Balu, nachdem er mir die Ausrüstung übergeben und erläutert hat.

»Natürlich. Ich bin ja nicht blöd«, antworte ich schroffer, als ich eigentlich wollte.

Balu aber lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Das tut er eigentlich nie.

»Ich will nur sichergehen, dass alles klappt«, sagt er. »Wäre doch blöd, wenn alle Mühe gratis wäre, weil etwas nicht funktioniert«, betont er noch mal.

»Umsonst«, korrigiere ich.

»Wie bitte?«

»Es heißt: wenn alle Mühe umsonst wäre – nicht gratis.«

Balu zieht die Augenbrauen hoch. »Ist umsonst und gratis nicht das Gleiche?«

»Manchmal ja, manchmal nein«, antworte ich und rate ihm grinsend: »Sag einfach vergebens!«

Balu stöhnt auf. »Oh Mann. Die deutsche Sprache! Ihr habt echt nicht alle … äh … Becher in der Vitrine?«

Ich lache auf. »Tassen im Schrank. Ihr habt echt nicht alle Tassen im Schrank, müsste es heißen.«

Balu winkt ab. »Ich geb’s auf. Alle Mühen gratis. Die deutsche Sprache kann man nicht lernen.«

»Du hast sie wunderbar gelernt, Balu«, lobe ich ihn. »Ist Indisch denn leichter?«

»Oh, superleicht!«, behauptet Balu – und kichert. »Zu den Sprachen Indiens gehören mehr als hundert verschiedene Einzelsprachen. Genau gesagt: Indien und Pakistan haben zusammen 179 Sprachen mit 544 Dialekten. Offizielle, also sogenannte Amtssprachen sind bei uns hauptsächlich Hindi und Englisch. Aber in den verschiedenen Regionen gibt es weitere 22 Amtssprachen.«

»Super«, sage ich und lache. »Das klingt ja echt babyleicht.«

»Sag ich doch!«

Wir beide grinsen uns an.

Balu hat dennoch nicht vergessen, was wir hier eigentlich tun. Und fragt nochmals nach: »Also, alles klar? Hast du alles verstanden?«

»Ja«, versichere ich ihm.

Wir sitzen zusammen in der Küche der kleinen Zwei-Zimmer-Agentenwohnung, die Balu bis vor Kurzem noch gemeinsam mit Charles und Naomi bewohnt hat. Zu dritt lebten sie hier ziemlich beengt. Seit beide zurück in ihre Heimatländer geflogen sind, hat Balu mehr Platz, als ihm lieb ist. Es macht ihm mitunter sehr zu schaffen, ganz allein in der Wohnung zu wohnen. Immerhin ist er als Agent aus Mumbai nach Hamburg beordert worden. Außer uns YOUNG AGENTS kennt er niemanden in dieser Stadt und in diesem Land. Und zu einer normalen Schule hat ihn die Zentrale auch nicht angemeldet. So ähnlich wie Charles und Naomi wird wohl auch Balu in nicht allzu ferner Zeit wieder zurück nach Hause beordert werden. Da kann ich wirklich verstehen, dass er sich manches Mal sehr einsam fühlt. Mir ging es ähnlich. Aber jetzt habe ich ja zum Glück meine neue Schulklasse und Maria, mit der ich mich angefreundet habe. Diese neue Freundschaft will ich auf keinen Fall vermasseln. Allein schon deshalb verstaue ich die fünf Abhörwanzen, die Balu mir gegeben hat, sorgsam in verschiedenen Taschen meiner Hose und meiner Jacke.

»Denk dran«, mahnt Balu mich noch einmal. »Steck die nicht irgendwo hin, wo es laute Nebengeräusche gibt. Auch nicht an einen Kühlschrank oder so. Sonst hören wir beim Abhören nur das Brummen der Geräte.«

»Ich weiß«, antworte ich ihm. »Aber ehrlich gesagt: Ich hätte gedacht, die Technik wäre schon weiter.«

»Ist sie auch«, versichert Balu mir. »Aber uns gibt es ja offiziell gar nicht. Da ist es schwer für den Prof, uns immer die technischen Geräte aus dem Geheimdienst-Bestand zu besorgen, die wir eigentlich bräuchten. Diese Dinger hier hat er, glaube ich, aus dem Müll gerettet. Sie sollten verschrottet werden.«

»Na, super!«, kommentiere ich schnippisch. »Ich bin der James Bond der Müllhalde.«

Balu lacht.

Gleichzeitig läutet es an der Tür: zweimal lang, einmal kurz, zweimal lang.

Das ist Abena. Wir müssen ihr nicht öffnen, denn jeder von uns hat einen Schlüssel zu dieser Wohnung. Abena hat nur geklingelt, damit wir uns nicht erschrecken, wenn sie auf einmal wie ein Geist in der Wohnung auftaucht.

»Hallo, Jungs!«, begrüßt sie uns in der Küche.

»Tee?«, fragt Balu.

Abena nickt.

Balu nimmt eine saubere Tasse aus dem Küchenschrank und schenkt ihr von dem heißen Früchtetee ein, der auf dem Tisch bereitsteht.

»Bist du fertig, Tim?«, fragt sie mich.

»Ja«, antworte ich und trinke mein noch halb volles Glas Sprudel leer.

»Wir haben noch ein bisschen Zeit«, sagt Abena, nimmt den Tee von Balu entgegen und trinkt genüsslich.

Als wir schließlich wenig später am Restaurant ankommen, steht Maria schon vor der Tür und begrüßt uns wieder mit einem strahlenden Lächeln.

»Wie ich gesagt habe: Es ist ein guter Zeitpunkt«, informiert uns Maria. »Die Mittagszeit ist zu Ende, für den Ansturm am Abend ist es noch zu früh. Jetzt ist zwar offen, aber wenig los. Du kannst dich in Ruhe umsehen, Abena.«

»Toll! Danke!«, sagt Abena. Und meint es wirklich so. Wenn auch in einem anderen Sinne, als Maria es vermutet. Denn genau so haben Abena und ich es uns in unserem Plan vorgestellt.

Doch als wir das Restaurant betreten, müssen wir überrascht feststellen, dass es hier ganz anders zugeht, als wir angenommen und gehofft hatten. Maria hatte zwar recht: Im Gastraum ist kaum etwas los; nur zwei Einzeltische sind besetzt. Aber in der Küche scheint der Teufel los zu sein. Wir hören jedenfalls Geschirr klappern, heiße Pfannen zischen, vor allem aber laute, hektisch klingende Gespräche, Rufe, Diskussionen. Allerdings alles auf Italienisch, sodass zumindest ich nichts verstehe.

»Was ist denn hier los?«, frage ich verdutzt.

Maria lächelt. »In der Küche? Die ganz normalen Vorbereitungen für den Abend. Wollt ihr mal reinschauen?«

»Gern!«, antworten Abena und ich wie aus einem Mund.

Zuvor begrüßen uns Marias Eltern freundlichst per Handschlag, befragen Abena kurz zum vermeintlichen Hochzeitstag ihrer Eltern, und dann lassen wir uns von Maria zur Küche führen.

Maria öffnet eine hölzerne Schwingtür, und ich habe das Gefühl, mich in einer italienischen Markthalle zu befinden. Da bin ich zwar noch nie gewesen, aber so kenne ich es aus Filmen. Fünf Köche oder Küchenangestellte stehen auf engstem Raum zusammen und palavern auf Italienisch in einer Lautstärke und in einem Tempo, dass ich schon denke, gerade eben ist ein Unfall oder so passiert. Maria scheint mir meine Verblüffung anzusehen. Sie lächelt und erklärt: »Sie diskutieren nur, wie viele Portionen Lachs sie wohl für heute Abend aus der Kühlung holen sollen.«

»Mehr nicht?«, frage ich. »Ich dachte, die streiten sich!«

Maria lacht. »Ach Quatsch! Die verstehen sich alle prächtig. Sie reden nur etwas lebhaft.«

Zwischendurch scheppern Töpfe, Teller klappern, jemand brüllt laut durch die Küche. Daraufhin pressen sich alle an die Seiten, und ein Koch mit einem Topf siedend heißer Brühe zwängt sich durch die Kollegen hindurch zu einem zweiten Herd.

»Unsere Fischsuppe. Spezialität des Hauses!«, erläutert Maria. »Wäre das etwas für deine Eltern?«

»Auf jeden Fall!«, behauptet Abena.

Ich weiß nicht, ob das stimmt oder Abena das nur so gesagt hat. Fest steht: Abenas Eltern müssen zum vereinbarten Termin tatsächlich hierher zum Essen kommen und so tun, als hätten sie Hochzeitstag, damit unsere Legende nicht auffliegt.

Marias Vater kommt in die Küche und ruft irgendetwas auf Italienisch in einer Lautstärke durch den Raum, als stünde er auf einem Rangierbahnhof. Sofort braust erneut ein lautes Getöse unter den Köchen und Küchenangestellten auf.

»Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«, frage ich.

Maria, die offenbar ebenso fließend Italienisch spricht wie Deutsch, übersetzt: »Zwei Küchenhilfen haben gerade abgesagt. Sind wohl krank.«

»Ist das schlimm?«, fragt Abena.

Maria nickt und hört beiläufig dem Gespräch, oder besser: dem Getöse der Küchenangestellten zu. Marias Vater antwortet. Das Gespräch wird immer hektischer und lauter, wobei sich die Hände und Arme der Beteiligten fast mehr bewegen als deren Lippen. Ein gestenreiches Tohuwabohu ist ausgebrochen. So heftig, dass mir schon ganz mulmig in der Magengegend wird.

Gleichzeitig antwortet Maria auf Abenas Frage: »Also, es ist schon eine große Belastung für alle anderen, wenn plötzlich zwei Küchenhilfen fehlen. Aber heute ist es noch schlimmer. Eine ganze Fußballmannschaft hat sich zum Essen angekündigt, um den Geburtstag ihres Trainers zu feiern.«

»Alle elf Spieler?«, frage ich, offenbar viel zu naiv.

Maria verzieht schnippisch die Mundwinkel.

»Elf?«, wiederholt sie, als hätte sie nicht richtig verstanden. »Guckst du kein Fußball? Der ganze Kader einer Halbprofimannschaft – 23 Spieler plus Trainerstab plus Ehefrauen und Freundinnen. Insgesamt fünfzig Personen! Die kommen um halb acht, und zwei Küchenhilfen fehlen!«

»Fünfzig?«, fragt Abena nach. »Aber wo sollen die denn …?« Sie schaut nach vorn in den Gästeraum, der zwar nicht gerade klein ist. Aber wo dort fünfzig Personen beisammensitzen sollen, bleibt ein Rätsel.

»Kommt mit«, fordert Maria uns auf.

Wir gehen zwischen den immer noch palavernden und diskutierenden Erwachsenen hindurch zurück in den Gastraum, an dessen Stirnseite Maria jetzt eine mit geschliffenem Glas verzierte Schiebetür aufzieht. Dahinter kommt ein weiterer Gastraum zum Vorschein, in dem schon ein paar lange Tische zu einem großen »U« zusammengeschoben wurden. Mit insgesamt – wie ich vermute – fünfzig Stühlen drum herum.

»Wow!«, sage ich anerkennend. »Cooler Raum.«

»Ja«, stimmt Maria mir zu. »Aber hier muss noch eingedeckt werden! Und jetzt fehlen zwei Küchenhilfen. Meine Mutter muss also in der Küche aushelfen. Und mein Vater hat am Tresen und im normalen Gastraum genug zu tun.«

»Wir könnten doch helfen«, schlägt Abena vor.

Ich schaue sie verwundert an. Ich dachte, Kinderarbeit wäre verboten, und …

»Das würdet ihr tun?«, fragt Maria. Auf ihrem Gesicht breitet sich ein freundliches Lächeln aus. Aber ich bin mir sicher, das war auch schon vorher da.

»Öhm …«, wage ich einzuwenden. Abena versteht, worauf ich anspiele: auf die Kinderarbeit. Maria versteht es nicht.

»Was?«, fragt sie. Und zum ersten Mal erkenne ich so etwas Ähnliches wie Sorgenfalten auf ihrer Stirn.

»Tim meint, Kinder dürften nicht in der Gastronomie arbeiten«, erläutert Abena freimütig. Dann wendet sie sich an mich: »Aber das ist ja keine Kinderarbeit. Erstens bekommen wir dafür kein Geld. Zweitens fordert uns niemand dazu auf. Wir sind Kinder und spielen Kellner. Oder?«

Maria lacht. »Genau! Wir können schließlich spielen, was wir wollen. Ich frage meinen Vater dann mal eben nach den Spielsachen.«

»Spielsachen?« Ich stehe irgendwie auf der Leitung.

»Na, Geschirr und Besteck für fünfzig Personen!«, antwortet Maria und zwinkert mir zu.

Jetzt hab ich’s auch kapiert.

Abena und ich krempeln schon mal unsere Ärmel hoch.

Maria geht in die Küche, um ihrem Vater Bescheid zu geben.

Abena nutzt den kurzen Moment, den wir allein sind.

»Mensch, Tim!«, zischt sie mir zu. »Das ist doch unsere Chance!«

»Ja, jetzt hab ich’s auch kapiert!« Ich schaue über ihre Schulter nach draußen und versichere mich, dass uns niemand hören kann. »Du musst sie gleich ablenken. Ich sag, dass ich aufs Klo muss, und dann versuche ich, mit den Abhörwanzen irgendwie in die Küche und zum Tresen zu kommen.«

»Okay.« Abena nickt mir zu.

Da kommt schon Maria wieder durch die Tür.

»Meine Eltern freuen sich sehr«, richtet Maria uns aus. »Das ist wirklich eine große Hilfe, wenn wir hier eindecken. Kommt mit.«

Sie geht zu einem großen Schrank, der an der Stirnseite des Raumes steht. Dort öffnet sie zwei Flügeltüren. Zum Vorschein kommen stapelweise weiße Teller.

»Links sind große flache Teller«, erklärt sie. »Das sind sogenannte Platzteller. Auf jeden Platzteller kommt so ein kleiner flacher Teller für die Antipasti. Dann Besteck. Wir machen das hier so: rechts vom Teller das Messer, links davon die Gabel. Über dem Teller erst der große Löffel, dann der kleine. Zum Schluss die Servietten zu solchen Hütchen falten und auf den Teller stellen. Schräg rechts oben von jedem Teller ein Weinglas, daneben ein Wasserglas. Die Gläser müssen wir vom Tresen holen.«

»Puh!«, stöhne ich. »Ich hab mir noch nie so viele Gedanken übers Tischdecken gemacht!«

»Nein!«, sagt Abena und lacht. »Bei McDonalds gibt’s das auch nicht!«

Auch Maria lacht.

»Ich esse immer bei meinen Pflegeeltern«, verteidige ich mich. »Da gibt’s das auch nicht. Ist eben ein Imbiss und kein Restaurant. Aber extrem lecker, das Essen!«

»Schon gut«, beschwichtigt Maria. »Mach es mir einfach nach, okay?«

Ich nicke ihr zu.

Abena will in den Gastraum gehen, um die Gläser zu holen. Doch sie bleibt auf halbem Wege stehen und fragt: »Soll ich jetzt wirklich zwei Mal fünfzig Gläser für Wasser und Wein vom Tresen holen?«

Maria schüttelt den Kopf. »Ach, nein. Du hast recht. Für Gesellschaften haben wir extra Gläser in Kartons. Frag meinen Vater danach.«

»Okay«, sagt Abena und geht nun vor in den Gastraum. »Aber so viel werde ich nicht tragen können. Kommst du mit?«

Maria wirft mir einen fragenden Blick zu,

»Ich komme klar«, versichere ich ihr. Während Abena mir heimlich zuzwinkert.

Maria verlässt mit Abena den Raum, und ich weiß, dass mir nicht viel Zeit bleibt. Ohnehin glaube ich nicht, dass die Gespräche zwischen Erpresser und Marias Eltern in diesem Veranstaltungsraum stattfinden werden. Aber vorsichtshalber will ich auch hier wenigstens eine Abhörwanze installieren.

Ich schaue mich nach einem geeigneten Platz um und entdecke ein großes Gemälde, welches das berühmte Opernhaus »Mailänder Scala« und ihren Vorplatz zeigt. Nicht, dass ich das erkannt hätte. Es steht auf einem kleinen Schildchen darunter, mit einem Gruß: den »besten Wünschen zur Neueröffnung«, dazu eine Widmung aus dem Jahr 2006. Das Bild ist also ein Geschenk zur damaligen Eröffnung des Restaurants. Ein guter Platz für meine Abhörwanze. Ich hole eine aus meiner Hosentasche hervor und klemme sie auf die Rückseite des Bilderrahmens. Gerade als ich mich versichere, ob sie auch wirklich hält, kommen schon Abena und Maria zurück. Sie tragen jeweils zwei Gläserkartons.

»Das ging aber schnell«, sage ich.

Abena zuckt entschuldigend mit den Schultern.

»Draußen auf dem Tresen stehen noch weitere Kartons. Holst du sie?«, fragt Abena.

Bevor ich antworten kann, bemerkt Maria: »Du hast ja noch nicht ein einziges Gedeck aufgedeckt, Tim!«

»Öh …« Das konnte ich natürlich nicht, weil ich die Abhörwanze installiert habe. Aber das kann ich Maria ja nicht sagen. »Ich habe das Bild bewundert.«

Etwas Besseres fällt mir auf die Schnelle nicht als Entschuldigung ein. Aber sie wirkt.

»Oh!«, sagte Maria. »Das hat mein Onkel gemalt. Er …«

»Tim und ich holen die anderen Kartons!«, ruft Abena dazwischen.

Maria schaut etwas verstört, weil Abena sie so forsch unterbrochen hat.

Aber ich begreife, dass Abena mir dringend etwas da draußen zeigen will. Deshalb folge ich ihr unter dem Vorwand, ihr beim Gläsertragen helfen zu wollen.

Als ich durch die Schiebetür in den Gastraum trete, sehe ich sofort, was Abena mir zeigen wollte: Am Tresen stehen zwei Männer. Und obwohl ich natürlich weiß, dass man einem Menschen nicht ansehen kann, ob er kriminell ist oder nicht, und obwohl ich nicht Abenas mystische Gabe besitze, »irgendwie« ins Innere fremder Menschen hineinblicken zu können, bin ich beim Anblick der beiden sofort alarmiert.

Vielleicht liegt es auch gar nicht an deren Aussehen, sondern daran, wie sie dort am Tresen stehen. Im Gastraum ist nur ein Tisch besetzt. Sie hätten sich also irgendwo hinsetzen können. Offenbar haben sie auch nichts zum Mitnehmen bestellt. Nein, sie stehen einfach nur da. Wirken fast gelangweilt und schauen sich in diesem gemütlichen, feinen Restaurant eher mit abfälligem Blick um. Die Luft knistert förmlich. Sofort hat man das Gefühl, jeden Moment könnten die beiden großes Unheil anrichten. Sie scheinen auf etwas zu warten.

Ehe sie mich überhaupt bemerken, schieße ich mit meinem Smartphone heimlich ein Foto von ihnen.

Unsere Gläserkartons stehen auf dem Tresen, direkt neben den beiden Männern.

Ich überlege, ob ich nicht einem der beiden eine meiner Abhörwanzen in die Tasche schmuggeln könnte. Vielleicht war das auch Abenas Idee, und sie hat mich deswegen hier hinausgelockt.

Abena jedenfalls geht forsch auf die beiden Männer zu, setzt ein freundlich-kindliches Lächeln auf und grüßt: »Guten Tag!«

Die beiden Männer reagieren überhaupt nicht auf sie.

Abena schreckt das natürlich nicht ab.

»Werden Sie schon bedient?«, fragt sie freundlich, als wäre sie hier Kellnerin.

Entsprechend erstaunt schauen die beiden Typen sie an.

Ich weiß, dass Abena es raushat, fremde Leute so in Gespräche zu verwickeln, dass sie in kürzester Zeit vieles von ihnen erfährt, ohne dass die Betroffenen es überhaupt merken.

»Arbeitest du etwa hier?«, brummt einer der beiden Männer sie an. Das war aber gar nicht als ehrliche Frage gemeint, sondern eher als Vorwurf, dass Abena sie überhaupt angesprochen hat.

Abena geht aber gar nicht auf die vorwurfsvolle Frage ein.

»Ich kann gern hinten Bescheid sagen, dass Sie hier auf jemanden warten«, bietet Abena sich an.

»Er weiß schon Bescheid!«, brummt der Mann.

»Ach, Sie kennen sich?«, hakt Abena sofort nach. »Dann sind Sie Marias Onkel, der Maler?«

Abena geht auf den brummenden Mann zu, reicht ihm die Hand und stellt sich vor: »Abena. Ich gehe in Marias Schule.«

Der finstere Typ ist so perplex, dass er Abena glatt die Hand reicht und antwortet: »Nein, ich bin nicht Marias Onkel.«

»Sondern?«, fragt Abena.

Der finstere Typ stutzt. Er senkt seine Augenbrauen bedrohlich tief ins Gesicht und schaut Abena durchdringend an, doch dann scheint er sich zu besinnen und sagt nur: »Ein Freund des Hauses.«

»Wie schön!«, sagt Abena. Und ruft laut: »MARIA? EURE FREUNDE SIND DA!«

Maria kommt aus dem Hinterraum hervor, bleibt, als sie die Typen erblickt, starr stehen und murmelt nur: »Hallo.«

Ich merke, dass es den beiden Typen überhaupt nicht recht ist, dass drei Kinder sie jetzt so deutlich wahrgenommen und registriert haben.

In dem Augenblick kommt Marias Vater von hinten. Er schaut in die finsteren Gesichter der beiden Männer, sofort wird sein Blick nervös. Schnell wendet er sich uns Kindern zu und fährt uns hektisch an: »Kinder, ihr wolltet doch hinten helfen. Also bitte!«

»Die Gläser!«, sagt Abena und zeigt auf die Kartons.

Die beiden finsteren Typen wirken sichtlich genervt, dass wir immer noch da sind.

Jetzt muss ich zu einer Entscheidung kommen. Noch könnte ich es schaffen, einem von beiden eine Abhörwanze unterzujubeln. Was aber, wenn sie die entdecken? Sie würden sofort Marias Vater in Verdacht haben und annehmen, er arbeite mit der Polizei zusammen. Und vermutlich wäre er dann seines Lebens nicht mehr sicher. Nein, das darf ich nicht riskieren. Wenn wir YOUNG AGENTS die Typen verfolgen, ist es okay. Aber ich darf auf keinen Fall Marias Vater in Gefahr bringen.

Deshalb lasse ich meine Abhörwanzen in den Taschen und schnappe mir nur einen der Gläserkartons.

Abena scheint den gleichen Gedanken zu haben wie ich. Denn plötzlich schaut sie auf ihre Uhr und sagt zu Maria: »Ich muss leider los. Meine Eltern warten. Und sie sollen ja nicht wissen, dass ich hier war. Also danke fürs Herumführen. Ich werde auf jeden Fall einen Tisch für meine Eltern buchen!«

»Fein!«, antwortet Maria. Aber seit sie die beiden Typen entdeckt hat, ist das fröhliche Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden. Maria schaut so ernst drein, wie ich sie noch nie erlebt habe. Daraus schließe ich: Maria sieht die beiden Typen offenbar nicht das erste Mal. Weiß sie von den Erpressungen? Unabhängig von meinen Abhörwanzen, die ich hier irgendwie noch platzieren muss, sollte ich unbedingt weiter engsten Kontakt zu Maria halten.

»Ich kann noch bleiben!«, sage ich deshalb schnell.

Maria antwortet nicht, sondern schnappt sich einen der letzten Glaskartons vom Tresen, ohne die beiden Typen dabei anzusehen, und huscht schnell und stumm zurück in den hinteren Raum.

Ich werfe ihrem Vater und den Männern ein kurzes, entschuldigendes Lächeln zu und folge Maria.

Abena winkt noch kurz zum Abschied und verlässt das Restaurant.

Mir ist klar, dass Abena nicht nach Hause geht, sondern draußen warten wird, bis die Typen das Restaurant wieder verlassen, um sie dann weiter zu verfolgen.

Ich hoffe nur, Abena ist vorsichtig genug, wenigstens Balu oder Billy um Hilfe zu rufen und nicht auf eigene Faust loszuziehen.

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