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IN DER HÖHLE DES LÖWEN
ОглавлениеDrei Tage später brennen mir die Fingerkuppen. Irgendwie hatte ich von dem, was mir der Prof gesagt hat, nur den Teil mit der Autosuggestion im Gedächtnis behalten, nicht aber den Teil mit dem Intensivtraining am Tag. Sechs Stunden täglich Gitarrenunterricht! Natürlich nach der Schule, die ich ganz normal besuchen muss, nach den Hausaufgaben und so weiter. Und dann schreiben wir morgen auch noch eine Mathearbeit.
Zu Hause hab ich sofort in den Ronaldo-Spiegel hineingefragt: »Wie soll das denn gehen?«
Die lapidare Antwort vom Prof lautete: »Lernen.«
Ha, ha. Schönen Dank auch.
Die vergangenen drei Tage waren also wieder mal die Hölle: morgens zur Schule, den üblichen Ärger mit Gonzo, Unterricht, nach Hause, Hausaufgaben. Die Tinte in meinem Hausaufgabenheft war noch nicht ganz getrocknet, da läutete bereits mein Gitarrenlehrer an der Haustür. Gitarre spielen lernen von drei bis neun Uhr. Anschließend pauken für die Mathearbeit.
Aber nun ist es so weit. Es hat tatsächlich geklappt: Ich kann Gitarre spielen! Nach nur drei Tagen. Das ist schon irre. Also, okay, nur so einigermaßen. Denn Autosuggestion und Intensivtraining hin oder her: Um ein Instrument gut spielen zu können, muss man üben. Viel üben. Täglich – nicht nur drei Tage, sondern jahrelang. Doch für eine erste Begegnung mit Shiona sollte es reichen.
Auf dem Weg zu ihr treffe ich Charles an einer verabredeten Straßenecke. Obwohl wir uns lange nicht gesehen haben, erkenne ich ihn sofort. Bei Charles weiß man nie, ob er gerade eine Verkleidung trägt, oder ob er seine Klamotten wirklich toll findet und deshalb so aussieht. Charles läuft rum wie die Jungs in den 1920er-Jahren: eine Kniebundhose aus Tweed, Kniestrümpfe, Hemd, Krawatte und ein zur Hose passendes Jackett. Ein wenig wie ein Erwachsener, den man geschrumpft hat. Bis auf seine roten Sommersprossen, die dicht an dicht übers gesamte Gesicht verteilt sind. Durch seine blasse Haut wirkt sein Kopf ein bisschen wie eine Honigmelone mit bunten Streuseln. Okay, bestimmt gibt es auch Erwachsene mit Sommersprossen, dennoch verleihen sie Charles ein besonders kindliches Aussehen, das im krassen Widerspruch zu seiner altbackenen, erwachsenen Kleidung steht. Dazu noch eine sogenannte Schiebermütze. Als wäre er einem Erich-Kästner-Roman entsprungen. Oder als hätte er sich zum Karneval als Sherlock Holmes verkleidet. Allerdings sieht man dem teuren Stoff auf den ersten Blick an, dass es sich nicht um billige Karnevalskleidung handelt.
»Hello!«, begrüßt Charles mich.
Ich betrachte ihn kurz mit einem skeptischen Blick, frage mich, wie er wohl als Schlagzeuger in einer Rockband wirkt, und komme zu dem Schluss: Das geht gar nicht!
Trotzdem begrüße ich ihn freundlich, denn ich freue mich ehrlich, ihn wiederzusehen. Meine einzig wirklichen Freunde kommen nämlich alle von der Agentenakademie.
»Dann wollen wir mal …«, sage ich. Ich weiß, dass Charles Deutsch versteht und auch recht gut spricht.
Charles sieht mich an: »Wir wollen … what?«
»Äh …«, stottere ich. Versteht er mich doch nicht so gut? »Na ja, zu dieser Shiona gehen.«
»Okay«, willigt Charles ein. »Warum du nicht sagst dies?«
Ich vergaß: Charles ist etwas … pedantisch. Unvollständige Sätze zum Beispiel verabscheut er. Und das ist beileibe nicht alles, was er verabscheut.
Das Haus, in dem Shiona wohnt, liegt ein wenig außerhalb der Stadt. Wir fahren mit der S-Bahn, in der ich an Charles’ nächsten Tick erinnert werde. Bevor er ein öffentliches Verkehrsmittel betritt, zieht er sich feine Glacéhandschuhe über. Ohne sie würde er weder Haltegriff noch -stange anfassen. Wenn es wenigstens normale Handschuhe wären. Doch Charles meint, es wäre dämlich, im Sommer mit Handschuhen wie im Winter herumzulaufen. Nein, es müssen also diese feinen weißen Glacéhandschuhe sein, die man früher eigentlich nur zum Frack getragen hat. Entsprechend betrachten uns andere Fahrgäste, als hätte Charles eine schlimme Hautkrankheit.
Nach der S-Bahnfahrt müssen wir noch ein Stückchen laufen. Nach gut einer Viertelstunde zu Fuß sind wir da. Shiona wohnt in einer prächtigen weißen Villa, von der der Prof mir Fotos gezeigt hat. Jetzt sieht man von dem Haus allerdings nichts. Wir stehen vor einem verschlossenen Stahltor, das sich langsam vor uns aufschiebt, noch während wir nach einer Klingel in der drei Meter hohen Mauer suchen, die das gesamte Gelände offenbar einschließt. Nachdem sich das Tor etwa einen halben Meter geöffnet hat, wollen Charles und ich schon durchschlüpfen, doch sofort werden wir von einem Typen gestoppt, bestimmt mehr als zwei Meter groß und gefühlt auch genauso breit. Hinter ihm steht ein Wachposten, der aussieht wie ein Soldat, mit einer Maschinenpistole über der Schulter.
»Äh, hallo!«, begrüße ich den Riesen. »Wir …«
»Geradeaus!« Eine Stimme wie ein chinesischer Gong. Tief, scheppernd, durchdringend. Seine Arme bewegt er nicht. Die Richtung zeigt er mit der Andeutung eines Kopfnickens an. »Hundert Schritte. Dann stehen bleiben.«
In Anbetracht seiner Erscheinung kommt man nicht auf die Idee zu fragen, was denn passieren würde, bliebe man nicht nach exakt hundert Schritten stehen. Man ahnt Fürchterliches, und das genügt, der Anweisung zu folgen.
Charles und ich gehen die gepflasterte Einfahrt entlang, und ich bemerke, dass er seine Schritte ebenso gewissenhaft mitzählt wie ich. Nach exakt hundert Schritten stoppen wir und sehen nun schräg links vor uns die weiße Villa. Irre! Einen Schritt weniger, und der Blick auf das Haus wäre uns verborgen geblieben. So aber entfaltet sich die ganze Pracht des Gebäudes, für das die Bezeichnung »Villa« maßlos untertrieben ist. Wir stehen vor einem Schloss!
Und die in ihm wohnende Prinzessin lässt nicht lange auf sich warten. Schon kommt sie mit wehenden Haaren auf uns zu. Für einen Moment glaube ich, in die Fernsehsendung für das nächste Topmodel hineingeraten zu sein. Shiona sieht genauso aus wie die Mädchen im Fernsehen. Langes, blondes, leicht gewelltes Haar. Ihr stark geschminktes Gesicht lässt sie glatt drei bis vier Jahre älter wirken. Die soll erst 14 sein? Sie ist gertenschlank, um nicht zu sagen: mager. Ihr dürrer Körper steckt in einer glitzernden dunkelroten Bluse, dazu ein kurzer Rock aus dunkelblauem Samt und an den Füßen ebenso blaue Pumps. Mit Schritten, als ginge sie auf einem Laufsteg, stöckelt sie auf uns zu, bleibt kurz vor uns stehen und mustert uns, als wollten Charles und ich uns für eine Castingshow bewerben. Ich befürchte, diesen Blick hat sie auch aus dem Fernsehen und stundenlang vor dem Spiegel geübt.
»Ihr seid das?« Ihre Frage gleicht einem einzigen Vorwurf. »Ihr seid ja noch Kinder!«
Charles und ich werfen uns einen flüchtigen Blick zu. Was soll man darauf sagen? Bevor wir irgendetwas Schlagfertiges erwidern können, wendet sie sich an Charles: »Dein Outfit ist allerdings irgendwie cool!«
Ausgerechnet! denke ich. Aber wenn Charles’ seltsame Kleidung uns den Zutritt zur Villa verschafft: Mir soll’s recht sein.
»Hoffentlich habt ihr was drauf!«, sagt die Prinzessin, dreht sich um und stöckelt voraus.
Charles und ich entschließen uns, ihr zu folgen.
»Den Übungsraum einer Rockband hab ich mir auch anders vorgestellt«, sage ich, froh darüber, dass mir endlich ein halbwegs cooler Spruch einfällt.
Shiona bleibt kurz stehen und schaut mich wieder von oben herab an: »Rockband? Wir machen doch keine Rockmusik! Aus welchem Jahrhundert kommst du denn? Ich will in die Pop-Charts!«
»Äh, ne, schon klar!«, verteidige ich mich. »Ich meinte ja nur …« Und denke: Zumindest den einen Nachmittag, an dem ich nichts als die Gitarrenriffs der berühmtesten Rockriffs auf der E-Gitarre üben musste, hätte ich mir sparen können!
Shiona verzieht das Gesicht, öffnet die museumshohe Eingangstür aus massivem, schwerem Holz, und wir betreten eine gigantisch große Empfangshalle. Doch zum Staunen bleibt uns keine Zeit. Shiona geht weiter zu einem Fahrstuhl, der rechts von uns geöffnet wartet. Wir treten ein, die Tür schließt automatisch, ohne dass man irgendeinen Knopf drücken muss, und es geht – aufwärts!
Das überrascht mich. Ich hätte den Übungsraum im Keller vermutet. Stattdessen fahren wir hinauf in den dritten Stock. Ganz oben steigen wir aus und landen direkt – ohne jeglichen Flur oder Zwischenraum – in einem komplett ausgestatteten Tonstudio. An einem riesigen Mischpult, von dem vermutlich selbst zahlreiche Musikstudios nur träumen können, sitzt ein dunkelhaariges und -häutiges zartes Mädchen in schwarzer Kleidung, das sich lächelnd zu uns umdreht. Ich traue meinen Augen nicht. Das ist – Naomi!
Ich muss mich stark zusammenreißen, nicht ihren Agentennamen hinauszubrüllen, auf sie zuzulaufen und sie innigst zu umarmen. In meinen Papieren stand nichts von ihr. Aber ich freue mich riesig, sie zu sehen. Doch ich biete all meine Willenskraft auf, um cool zu bleiben und nur lässig zu sagen: »Hi!«
»Hi!«, antwortet Naomi. »Ich bin Naomi.«
Ich verschlucke mich fast. Naomi stellt sich mit richtigem Namen vor? Also, ich meine, mit ihrem richtigen Agentennamen?
Shiona übernimmt das Übrige: »Naomi ist unsere neue Tontechnikerin. Cool, oder? Ihre Eltern kommen aus Paris und arbeiten seit Kurzem hier in Hamburg.«
»Cool!«, sage ich. Und denke es auch. Naomi hat einfach ihren Agentennamen genommen und benutzt ihn als falschen Echtnamen. Das ist wirklich mal cool. So braucht sie sich keinen weiteren zu merken. Und wir kommen auch nicht in Versuchung, sie zu verraten, sollten wir sie versehentlich mal Naomi nennen. Ich muss gestehen, dass ich überhaupt nicht darauf geachtet hatte, mit welchem Namen der Prof sich an meiner statt per WhatsApp bei Shiona beworben hat. Egal, ich mache es wie Naomi und Charles und entscheide, mich ebenfalls mit meinem Agentennamen vorzustellen: Liam.
Wir drei behalten natürlich für uns, dass wir uns schon lange kennen.
Naomi ist das genaue Gegenteil von Shiona: nicht nur kleiner, dunkelhaarig und dunkelhäutig, wogegen Shiona schon fast wie ein Albino wirkt, sondern in ihrem schwarzen Shirt und der schwarzen Hose wirkt sie auch viel bodenständiger, drahtiger und robuster als die Prinzessin, obwohl Naomi eigentlich viel zierlicher ist.
»Kati kommt gleich«, teilt Shiona uns mit.
»Kati?«, frage ich.
»Unsere Bassistin.«
»Ah, ja. Klar!«
»Wollt ihr schon mal loslegen?«, fragt Shiona erwartungsvoll.
Charles will ihr gerade schon bereitwillig zunicken, doch ich mache ihm einen Strich durch die Rechnung.
»Zuerst wolltet doch ihr …?«
»Klar!«, stimmt Shiona zu.
Nur Charles bleibt der Alte: »Sie wollten was?«
»Uns zuerst etwas vorspielen. Wir steigen dann ein, wenn wir es gut finden«, erinnere ich ihn an unsere Legende.
Doch Charles bleibt ganz und gar Charles: »Dann sag das doch!«
Ich verziehe das Gesicht. Naomi schmunzelt. Und ich frage mich, ob Charles von ihrem Einsatz etwas wusste.
»Kann ich noch mal auf Klo, bevor Kati kommt?«, frage ich.
Shiona nickt. »Naomi zeigt dir den Weg.«
»Auf Klo was …?«, fragt Charles.
Doch dieses Mal gehe ich nicht auf seine Frage ein.
Zum Glück liegt die Toilette am Ende eines langen, hohen, mit altem Stuck verzierten Flurs. Dadurch ergibt sich genügend Zeit für mich und Naomi, uns auszutauschen.
Trotzdem blicke ich mich zuvor noch zu allen Seiten um und prüfe, ob dieser Gang nicht mit Kameras überwacht wird. Das ist nicht der Fall, was mich, ehrlich gesagt, ziemlich erstaunt. Entsprechend vorsichtig flüstere ich meine Fragen nur: »Seit wann bist du hier? Und wieso wussten wir davon nichts?«
Auch Naomi zischt ihre Antwort nur leise zwischen den Zähnen hervor, ohne mich dabei anzusehen. Wir bleiben während unserer Unterhaltung nicht stehen, gehen aber deutlich langsamer als üblich.
»Ich bin auch erst das zweite Mal hier«, berichtet Naomi mir. »Das erste Mal vor zwei Tagen, nachdem du dich als Musiker gemeldet hast. Als Technikerin am Mischpult kann ich für die entsprechenden Pausen sorgen, in denen du dich im Haus umsehen kannst.«
»Ich?«, frage ich nach. »Ich meine, Charles ist ja auch noch da.«
»Charles dient eigentlich nur zur Ablenkung und damit statt seiner nicht ein anderer Musiker kommt, der zusätzlich ein Hindernis darstellen könnte. Ich sorge für die technischen Pannen, Charles für die Ablenkung von Shiona und ihrer Freundin. In genau diesen kurzen Zeitspannen musst du herausbekommen, mit wem ihr Vater Geschäfte macht, wann die nächsten Treffen geplant sind, und wo. Und vor allem: womit er eigentlich handelt.«
»Wenn’s weiter nichts ist«, sage ich mit ordentlichem Sarkasmus in der Stimme. »Ich meine, meine Aufgaben sind nichts Geringeres als das, worum der halbe Geheimdienst seit Jahren bemüht ist.«
»Ich weiß«, stimmt Naomi mir zu. »Aber nicht mal der gesamte Geheimdienst hat es geschafft, jemals hier in diese Privaträume vorzudringen. Wo, wenn nicht hier, sollten wir an die Informationen herankommen?«
»Schon klar«, sage ich. Ich wollte mich ja auch gar nicht beschweren. Nur wird mir in diesem Moment bewusst, dass meine Aufgabe wohl erheblich schwieriger sein wird als angenommen. Ich habe noch nicht einmal eine Ahnung, wo ich hier mit dem Suchen anfangen soll.
Naomi greift in ihre Hosentasche und steckt mir drei kleine, runde, knopfartige Chips zu. Sie sehen fast aus wie Lakritztaler und mir läuft sogar ein bisschen das Wasser im Mund zusammen. Auf Lakritz hätte ich jetzt tatsächlich Appetit. Aber ich weiß natürlich, dass es sich um hochmoderne Wanzen, also Miniatur-Abhörgeräte, inklusive GPS-Funktion, handelt, die ich an die entsprechenden Stellen anbringen soll, sprich: möglichst im Wohnzimmer und im Büro von Shionas Vater. Ich stecke mir die Chips in die Hosentasche, von denen ich selbst auch grundsätzlich zwei bis drei Stück bei mir trage. Aber bei diesem Einsatz kann ich vielleicht mehr brauchen. Dann haben wir die Toilette erreicht.
Kurz bleibe ich stehen, um zu fragen: »Hast du schon einen Überblick über die Räume?«
Naomi schüttelt den Kopf. »Die Villa ist zu groß. Mindestens fünfzehn Zimmer. Ich hab Shiona gefragt, aber sie hat ausweichend geantwortet. Ich weiß nur: Hier oben in dieser Etage ist fast alles Shionas Reich. Deshalb sind hier auch keine oder zumindest nur wenige Kameras. Du musst die beiden unteren Etagen untersuchen, vielleicht sogar den Keller.«
»Okay.« Ich gehe in den Toilettenraum, obwohl ich gar nicht muss. Das Merkwürdige ist, dass vom Flur aus zwei Türen zur Toilette abgehen, eine für Jungs, die andere für Mädchen. In einer Schule oder Jugendherberge ist das ja üblich, aber wir sind hier in Shionas Privaträumen! Also, selbst wenn ich zu Hause zwei Toiletten hätte, dann vermutlich eine für mich und eine für Gäste, aber getrennt in Jungs und Mädchen? Zu Hause? Voll krass!
Ich sehe mich in den Toilettenräumen um und wundere mich, dass es hier wirklich aussieht wie im Schulklo. Da hängen tatsächlich einige Pissoirs nebeneinander. Das kann doch nur heißen, dass Shiona viel Besuch bekommt oder dies zumindest plant.
Ich denke an den Raum, in dem wir gleich proben sollen. Auch dort sah es ja aus wie in einem professionellen Musikstudio. Hatte Shiona nicht gesagt, sie wolle erst eine Band gründen? Aber alles ist bereits profimäßig ausgestattet: ein komplettes Studio mit Besuchertoiletten und so weiter. Die ganze Etage ausgelegt wie bei einem Musikproduzenten.
Mir geht ein Licht auf.
Genau das ist es auch: eine Musikproduzenten-Firma!
Ich verlasse die Toilette und erzähle Naomi, die auf mich gewartet hat, meine Vermutung: »Shiona gründet offenbar nicht nur eine Band, sondern gleich eine ganze Firma für Musikproduktion.«
Naomi will mir gerade einen Vogel zeigen und wohl sagen, dass meine Fantasie mit mir durchgeht, doch dann legt sie die Stirn in Falten, überlegt und versteht, worauf ich hinauswill: »Du meinst: Geldwäsche?«
Ich nicke. »Ihr Vater gründet die Firma – angeblich für Shiona, in Wahrheit aber für sich. Die Firma macht natürlich kaum Umsatz, meldet beim Finanzamt aber Millionenverkäufe. Der angebliche Gewinn wird versteuert. Was übrig bleibt, ist offizielles und sauberes Geld, obwohl es in Wahrheit durch illegale und kriminelle Geschäfte erwirtschaftet wurde. Klassische Geldwäsche. Shionas Band und Musikproduktion ist also Teil der kriminellen Geschäfte ihres Vaters.«
Naomi versteht. »Bleibt, herauszubekommen, ob sie davon weiß oder ihren Vater einfach nur für enorm großzügig hält. Damit ist für mich klar: Wir sind zwar genau im richtigen Haus, aber hier oben an der falschen Stelle. Denn hier wird nur das aufgebaut, was jeder offiziell sehen soll. Der düstere Hintergrund liegt woanders verborgen.«
»Okay«, sage ich. »Lass uns zurückgehen. In einer halben Stunde sorgst du für eine technische Panne, und ich versuche, mich im Haus umzusehen.«
Naomi nickt mir zu.
Der Flur, den wir zurückgehen, hat zum Glück auch einige Fenster, die zum Hinterhof zeigen, zum Garten und dem dahinterliegenden kleinen Wald.
Ich schaue hinaus, um zu checken, ob man von dieser Seite aus auch von außen ins Gebäude gelangen könnte. Leider kann man die Fenster nicht öffnen, und ich kann mich nicht hinauslehnen, um die Fassade zu betrachten. Aber unten auf dem Hof stehen zwei Autos: eine große, silber-graue Limousine, ein Audi A8 L, wenn ich mich nicht irre. Die Bundeskanzlerin fährt auch so einen. Ob der hier auch so gepanzert ist? Hinter der Limousine steht ein fetter SUV. Bestimmt der Wagen irgendwelcher Sicherheitskräfte. Wie es scheint, findet hier im Haus gerade eine wichtige Besprechung statt. Leider kann man von hier oben die Nummernschilder nicht erkennen, aber wahrscheinlich sind sie ohnehin gefälscht. Trotzdem mache ich schnell zwei Fotos von den Wagen. Einfach mit dem Smartphone. Hier sind wir ja noch unbeobachtet.
»Wir müssen zurück!«, mahnt Naomi.
Also gehen wir zurück ins Studio. Aber ich werde den Gedanken an die Besprechung dort unten nicht los. Verflixt, hoffentlich sind wir noch nicht zu spät! Ich muss schnellstmöglich dort hinunter und hören, worum es geht.
Als wir zurück sind, ist Kati mittlerweile da. Sie, Shiona und Charles stehen bereits an ihren Instrumenten.
»Na endlich!«, ruft Shiona mir zu. »Wo bleibt ihr denn so lange?«
Ohne sich weiter mit einer gegenseitigen Vorstellung aufzuhalten, legen die beiden Mädchen los und – es ist furchtbar! Shiona und Kati können überhaupt nicht spielen. Sie schrammeln auf ihren Instrumenten herum, dass einem die Ohren wegplatzen. Was ist das denn? Offenbar hatte ihr Dad es eilig mit dem Aufbau seiner Strohfirma, hat seiner Tochter einen Herzenswunsch erfüllt, aber dabei vergessen, ihr auch Musikunterricht zu spendieren. Da hätte ich mir die drei Tage härtester Übung sparen können. Nachdem der Krach des ersten Stücks vorbei ist, fragt Shiona hoffnungsvoll in die Runde. »Und? Wie war’s?« Sie und Kati wechseln stolze Blicke.
»Äh, …«, stottere ich. »Interessant. Äh … will sagen: super! Grandios!« Und das finde ich wirklich. So fällt nämlich nicht auf, dass ich auch nichts kann, und meine Tarnung hier ist perfekt. Beste Voraussetzungen, die Jagd auf die kriminelle Bande ihres Vaters zu beginnen!