Читать книгу Young Agents - Andreas Schluter - Страница 6
ENTWISCHT!
ОглавлениеDas darf nicht wahr sein! Ich bin so blöd! Hab nicht aufgepasst. Man kann es gar niemandem erzählen. Würde ohnehin keiner glauben. Und doch ist es wahr. Möglicherweise komme ich nicht einmal je in die Versuchung, es jemandem zu erzählen, weil ich die nächsten fünf Minuten nicht überlebe. Ein einziger Muckser oder Nieser genügt, und er hat mich. Totenstill und bewegungslos liege ich hier. Das sollte meine Lehrerin Frau Lornsen mal sehen, wie ruhig ich hier liege. Die würde staunen. »Unterlass bitte mal das ständige Zappeln!«, mahnt sie mich oft. Aber nur, weil Gonzo, der in der Schule hinter mir sitzt, mir mal wieder in den Rücken piekt. Hin und wieder fliege ich dann sogar aus dem Unterricht – statt Gonzo. Vom Geografieunterricht habe ich ein Drittel vor der Tür verbracht, schätze ich mal. Eigentlich wäre es egal. Denn alles, was ich über die Welt weiß, habe ich ohnehin nicht in der Schule gelernt. Also jedenfalls nicht in der normalen Schule, sondern bei einer Spezialausbildung in den Ferien, von der niemand etwas weiß. Bis auf meine Eltern, und selbst die kennen keine Details. Aber ich kann mir nicht so viel Unterrichtsausfall leisten, weil ich sowieso schon oft genug in der Schule fehle. Die Schule lässt sich eben nicht immer mit meinen Aufträgen vereinbaren.
Aufgepasst! Da ist er wieder, mein Verfolger. Ich bleibe absolut geräusch- und bewegungslos. Mein Rekord im Training liegt bei 32 Minuten.
Mein Verfolger sieht mich nicht. Und das wird er auch nicht, solange er nicht auf die Idee kommt, hinunterzuschauen, unter seine Füße. Wer schaut schon hinunter, wenn er jemanden sucht? Nach links schaut man, nach rechts, nach hinten oder vorn. Aber nie nach unten. Ist so eingebrannt in uns. Vermutlich seit ewigen Zeiten, weil schon bei den Urmenschen die Gefahr nie von unten drohte. Jedenfalls funktioniert es. Bei ihm auch. Hoffentlich. Er steht auf dem Gitterrost eines Lüftungsschachtes. In dem Lüftungsschacht darunter liege ich. Rücklings, das Rost dicht über meinem Gesicht, keine zehn Zentimeter bis zu meiner Nasenspitze. Sand rieselt aus den Rillen seiner Schuhsohlen durch den Rost direkt auf meine Augen, die ich schnell zukneife. Ich rege mich nicht, drehe den Kopf nicht zur Seite, schüttelte mich nicht, räuspere mich nicht. Nichts. Nur ein Zwinkern mit den Wimpern erlaube ich mir, um das eine oder andere Sandkorn abzuschütteln. Es gelingt nicht ganz. Eines der Sandkörner ist in meinem rechten Auge gelandet. Es brennt höllisch. Ich halte es aus, ohne mich zu bewegen. Lange wird er ja wohl nicht dort oben stehen. Er sucht mich, glaubt, mir dicht auf der Spur zu sein. Ist er ja auch. Dichter, als er ahnt. Aber er darf keine Zeit verlieren, muss sich entscheiden, in welche Richtung er mich weiterverfolgen will. Solange werde ich mich nicht rühren. Unter gar keinen Umständen. Ich halte es aus. Das Auge brennt, die Nase juckt, in meinem Rücken zwickt etwas. Mein Fuß kribbelt. Nicht daran denken. Ich halte das aus. Es kann nicht lange dauern. Rettung müsste unterwegs sein. Ich habe mich in der Zentrale gemeldet und mitgeteilt, wo sie meinen Verfolger finden können. Er ist einer der wichtigsten Größen der Organisierten Kriminalität, Chef eines international agierenden kriminellen Clans. Sie nennen ihn alle nur den »Boss«. Niemand – nicht einmal wir – kennt seinen richtigen Namen. Zehn verschiedene Namen hat die Zentrale registriert, unter denen er international bisher tätig war. Keiner davon stimmt natürlich. Aber wir wissen, was er alles getan hat. Nur: Wissen und beweisen sind zwei unterschiedliche Dinge. Sein mutmaßliches Strafregister ist unendlich. Seit zwei Jahren ist ihm der Geheimdienst auf den Fersen, aber ständig fehlt es an Beweisen, oder Zeugen verschwinden, oder der Boss taucht immer wieder in letzter Sekunde unter.
Deshalb wurde ich zu Beginn der Sommerferien kurzfristig auf ihn angesetzt. Ich hab mich dann als »Schülerreporter im Ferienprojekt« an eines seiner Unternehmen herangemacht: eine kleine Fabrik für Sportkleidung. Oder besser gesagt: Manufaktur. Alles Handarbeit. Tatsächlich produzieren sie hochwertige Sportschuhe. Trotzdem handelt es sich in Wahrheit wohl eher um eine Geldwaschanlage. Und ich hatte tatsächlich Erfolg, habe ihn aufgespürt; mich dabei leider aber erwischen lassen wie ein Amateur. Ich hatte gerade seinen Safe geöffnet, da betrat er sein Büro. Ich hab ihn einfach nicht kommen hören. Zu sehr war ich damit beschäftigt, seine geheimen Akten durchzusehen. Statt sie einfach einzustecken, abzuhauen und später zu lesen. Nein, ich fange an, dort vor dem geöffneten Safe erst mal alles in Ruhe durchzublättern. So etwas Dämliches.
In letzter Sekunde konnte ich dann noch durchs Fenster entwischen. Deshalb ist er nun hinter mir her. Aber er verfolgt ein Phantom. Denn er kennt mich nicht; nur als Schatten, dem er nun nachrennt. Er weiß nicht, wer ich bin, und vor allem nicht, dass ich erst zwölf Jahre alt bin.
Ja, ihr habt richtig gehört. Ihr wollt wissen, wieso ich im Alter von zwölf Jahren schon Geheimagent bin?
Oh, hatte ich das noch nicht erwähnt? Ja, ich bin Geheimagent.
So geheim, dass es mich praktisch gar nicht gibt. Denn niemand weiß von mir und den anderen. Außer einer äußerst kleinen, streng geheimen Unterabteilung des Geheimdienstes, die es offiziell auch gar nicht gibt. Dort gibt es einen Verantwortlichen für Agententätigkeiten, den alle nur den »Prof« nennen, wie »Professor«. Ein netter, schneidiger, freundlicher, aber strenger Herr, glattrasiert mit Kurzhaarschnitt, akkurat gescheitelt. Vielleicht so alt wie mein Vater, also vierzig. Dieser Prof also gewann eines Tages die Erkenntnis, dass Kinder als Agenten deutlich unauffälliger agieren könnten als Erwachsene; somit leichter irgendwo einzuschleusen wären und sich viel schneller Vertrauen erwerben könnten. Wer misstraut schon einem Kind?
Ehrlich: Wenn ich euch auf dem Schulhof begegne, wer von euch würde mir abnehmen, dass ich ein echter Geheimagent bin? Niemand. Eben! Und von den Erwachsenen erst recht keiner. Also hat der Prof recht: Kinderagenten können erheblich effektiver operieren als Erwachsene. Denn niemand würde je vermuten oder auch nur ansatzweise glauben, dass ein Staat wie Deutschland Kinder zu Agenten ausbildet. Jeder würde das abstreiten. Auch die Regierung. Aber es gibt uns trotzdem. Und niemand weiß von uns. Auch nicht, dass es uns Kinderagenten nicht nur in Deutschland gibt, sondern in vielen europäischen Staaten: Frankreich, England, Schweden, Italien … Eine kleine, geheime Elitetruppe. Zusammen gerade mal ein Dutzend Kinder, speziell und gründlich ausgebildet, jederzeit bereit für außerordentlich brisante Aufträge, um das Land zu schützen oder gar gleich ganz Europa oder die Welt zu retten.
Echt wahr.
Und genau deshalb liege ich jetzt hier im Lüftungsschacht und werde von einem der übelsten und gefährlichsten Verbrecher Europas verfolgt. Ich muss ausharren. Nur einen Moment noch. Um mich nicht zu bewegen, muss ich mich irgendwie ablenken, an etwas anderes denken. Zum Beispiel, euch etwas über mich erzählen. In Gedanken nur. Denn schreiben oder diktieren kann ich nicht hier im Lüftungsschacht.
Also weiter: Im wahren Leben heiße ich Billy Schneider. Ich bin so unscheinbar wie mein Name. Kurze, braune Haare, schlank, keine besonderen Merkmale. In Wahrheit durchtrainiert und athletisch, was ich aber meist zu verbergen versuche. Im Alltag trage ich gewöhnliche Kaufhausklamotten. Massentauglich eben, wie mein Name. Billy, ja, so wie das Ikea-Regal, weil meinen Eltern kein besserer Name eingefallen war. Ne, ist klar. Sie hatten ja auch nur neun Monate Zeit, sich einen Namen für mich auszudenken. Na ja, gut, wenn wir schon dabei sind: Genau deshalb konnte ich letztlich auch nur Agent werden. Meine Eltern sind – ich muss es leider so sagen – nicht die Hellsten. Ist ja nicht schlimm. Dafür sind sie echt nett und lieben mich. Aber sie sind eben nicht besonders klug oder gebildet. Auch nicht ausgesprochen fleißig, ehrlich gesagt. Aber nett und herzlich eben. Und dadurch, dass sie immer nur Hilfsjobs haben und immer wieder arbeitslos werden, sind sie leider auch hochverschuldet. Gewesen. Genau deshalb haben sie das Angebot vom Geheimdienst angenommen. Seit ich Agent bin, wird meinen Eltern alles von dem bezahlt: Miete, Heizung, Kleidung, Lebensmittel, Urlaubsreisen, einfach alles. Wie im Schlaraffenland.
Deshalb habe ich den »Job« auch sofort angenommen. Okay, vor allem auch, weil es mir riesigen Spaß macht. Ich liebe es gefährlich und wollte schon immer ein Superheld sein! Meine Eltern haben schließlich nach einigen Wochen Bedenkzeit auch zugestimmt. Anders wäre es nicht gegangen. Aber eigentlich wissen sie doch nichts so richtig, wie schon erwähnt. Nur, dass ich Agent bin, aber nicht, was ich eigentlich genau mache.
Billy Schneider also mein Name. Agentenname Liam. Codenummer 01-17-23. Unterstellt der Abteilung YAG – YOUNG AGENTS GERMANY – in Berlin, stationiert dort, wo ich wohne: in Hamburg. YOUNG AGENT des europäischen Projekts »Milestone«.
Mein Auge brennt noch immer, so wie meine Nase auch noch juckt und in meinem Rücken etwas zwickt und mein Fuß kribbelt. Einbildung. Ich weiß das. Alles Einbildung. Trotzdem brennt, juckt, zwickt und kribbelt es immer noch. Nicht daran denken. Ich halte es aus. Es kann nicht mehr lange dauern. Fünf Minuten steht er schon da oben, schätze ich. Direkt über mir.
Plötzlich funkt mir Glut ins Gesicht. Ich muss aufpassen, nicht laut aufzuschreien. Er hat einen Zigarettenstummel auf den Rost geworfen. Zum Glück verzichtet er darauf, die Kippe auszutreten. Beim Austreten schaut man hinunter. Hätte er hinuntergeschaut, hätte er mich gesehen. Er aber hat die Kippe nur achtlos auf den Rost geworfen und geht.
Und geht!
Einerseits gut, dann komme ich endlich hier raus.
Andererseits: Wo bleiben die Leute von der Zentrale? Zumindest einen Streifenwagen hätten sie schicken müssen. Besser aber gleich das Sondereinsatzkommando (SEK). Der Boss darf nicht entkommen! Sonst war alle Mühe vergebens. Meine ganzen Schulferien habe ich darangesetzt, ihn aufzuspüren, und serviere ihn jetzt auf dem Silbertablett, wie man so sagt. Okay, das silberne Tablett ist in Wahrheit ein Aluminiumgitterrost, unter dem ich liege. Aber bitte, was wollen die mehr? Nur: Wo bleiben sie, verdammt?
Trotzdem: Ich warte noch. Bin nicht so blöd, sofort aus meinem Versteck hervorzukriechen und ihm in die Arme zu laufen. Ich hätte zwar immer noch eine Chance zu fliehen. Aber dann könnte er mich erkennen, sehen, dass ich ein Kind bin. Damit würde ich nicht nur mich, sondern die gesamte geheime, internationale Abteilung von Kinderagenten gefährden. Denn unsere Stärke liegt darin, dass niemand von uns weiß.
Also bleibe ich noch liegen. Unentdeckt.
Plötzlich Schritte. Kommt der Boss zurück?
Ich halte den Atem an. Sehe wieder Schuhsohlen über mir. Aber dieses Mal andere. Ich erkenne das sofort am Profil. Nun sehe ich auch den ganzen Mann, der in den Schuhen steckt. Es ist der Prof!
Ist er allein? Jedenfalls unterhält er sich mit niemandem. Gerade will er wohl wieder gehen. Seine Füße setzen sich in Bewegung.
»Halt!«, rufe ich. »Hier bin ich!«
Die Füße halten still. Drehen sich. Der Prof sucht nach mir.
»Hier unten! Unter dem Rost!«
Der Prof sieht auf mich herab, geht einen Schritt zurück, vom Rost herunter, blickt sich vorsichtig zu allen Seiten um und hilft mir dann aus meinem Versteck heraus.
Ich erhebe mich wie ein Zombie aus dem Grab, schaue mich um.
»Wo ist er?«, frage ich.
»Wer?«, fragt der Prof.
»Na, der Boss!«, antworte ich. »Darum ging es doch. Sie sollten den doch festnehmen!«
»Hier war niemand, als ich kam«, sagt der Prof.
Etwas weiter entfernt sehe ich einen Mannschaftswagen des SEK. Um ihn herum stehen einige Beamte in voller Kampfmontur. Sie scheinen auf einen Einsatzbefehl zu warten. Aber sonst ist niemand zu sehen. Neben mir nur der einsame kleine Dorffrisörladen, der heute geschlossen hat und unter dessen Gitterrost vor dem Eingang ich mich versteckt hatte.
»Dort entlang«, sagt der Prof. Er breitet seinen Trenchcoat aus, damit ich vor den Blicken der SEK-Beamten geschützt bin. Auch sie sollen uns Kinderagenten nicht sehen.
»Das kann doch nicht sein!«, sage ich entsetzt. »Eben war er doch noch hier! Vor nicht einmal zwei Minuten. Der kann doch nicht spurlos verschwunden sein. Sie müssen ihn doch gesehen haben!«
Der Prof schüttelt bedauernd den Kopf. Dann sieht er sich besorgt um.
Ich weiß, was er denkt: Hoffentlich beobachtet uns der Boss nicht aus irgendeinem Versteck heraus. Er darf mich auf keinen Fall entdecken.
»Da vorn in den Wagen«, fordert der Prof mich auf.
Im Film fahren die Geheimdienstchefs ja immer fette, dunkle Limousinen. Irgend so ein teures Teil. Aber das wäre viel zu auffällig. Auffälliger als Schlapphut und Sonnenbrille, mit denen man sich Agenten immer so vorstellt.
Nein, der Prof ist mit einem einfachen alten Kombi gekommen. Es soll von außen aussehen, als hätte ein Vater seinen Sohn unterwegs eingesammelt. Wahrscheinlich sieht es wirklich so aus.
Ich steige ein. Innen allerdings hat der Wagen mit einem einfachen Familienauto fast nichts mehr gemein. Ich setze mich auf den Rücksitz, ziehe eine in der Rückenlehne des Beifahrersitzes verborgene Klappe herunter, auf der sich eine Tastatur befindet, und schaue auf einen Computerbildschirm, auf dem sich sofort ein virtueller Assistent meldet. Ich bin bereit, meinen Bericht zu diktieren, während der Prof sich ans Steuer setzt und mich als mein vermeintlicher Vater nach Hause kutschiert.
Der Kernsatz meines Berichts ist bitter und ernüchternd. Er lautet: »Wir haben den Boss wieder nicht erwischt.«