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EIN NEUER AUFTRAG

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Ich bin todmüde. Es war nicht nur äußerst anstrengend, gestern dem Boss gerade noch so entkommen zu sein, sondern insgesamt liegen sechs knallharte Wochen hinter mir. Heute ist der erste Schultag nach den Sommerferien, die die meisten sichtbar genossen haben. Ausgeruht, lärmend und voller Tatendrang sind sie heute alle in die Schule geströmt. Ich hab mich hierhergeschlichen, mich an meinen Platz gesetzt und gleich den Kopf auf die Tischplatte gelegt. Ich bin fix und fertig.

»Billy?«

Irgendwo aus der Ferne hab ich meinen Namen gehört. Hat da gerade jemand gerufen?

»Billy!«

Ich schrecke hoch. Oh, verdammt, ich bin wohl eingeschlafen! Meine Mitschüler grinsen mich an.

Frau Lornsen kommt einen Schritt auf mich zu. »Was habe ich gerade gesagt?«

Offenbar hat der Unterricht schon begonnen. Ich habe nicht mal bemerkt, dass Frau Lornsen den Raum betreten hat. Mein Blick huscht an ihr vorbei zum Whiteboard. Darauf ist eine Landkarte projiziert. Ohne Beschriftung. Aber die Form der Karte ist unverkennbar: Kontinent Afrika. Ein Land darauf ist farblich markiert: Nigeria. Also antworte ich mal auf gut Glück, indem ich die wichtigsten Daten des Landes herunterrattere: »Nigeria, amtlich Federal Republic of Nigeria, ist ein Bundesstaat in Westafrika, der an den Atlantik und die Länder Benin, Niger, Tschad und Kamerun grenzt. Es ist mit über 190 Millionen Einwohnern mit Abstand das bevölkerungsreichste Land Afrikas und weltweit das Land mit der siebtgrößten Bevölkerungsanzahl. Nigerias Hauptstadt ist Abuja, seine bei Weitem größte Stadt ist Lagos mit rund zehn Millionen Einwohnern.«

Frau Lornsen zieht ihre blassblonden Augenbrauen zu einem kritischen Blick zusammen.

»Glück gehabt«, sagt sie drohend. »Alles richtig.«

Sie dreht ab und widmet sich wieder dem Whiteboard, dem sie nun Beschriftungen auf der Karte hinzufügt.

»Nicht schlecht!«, kommentiert Gonzo hinter mir. Gonzo heißt natürlich nicht wirklich so, sondern in Wahrheit Walter. Aber mit seiner überlangen Nase und seinem wirren Haarschnitt hat er ziemliche Ähnlichkeit mit dieser Figur von den Muppets, sodass ihn irgendwann mal jemand so getauft hat. Gonzo ist der Arsch der Klasse. Zeigt irgendein Schüler mal eine Schwäche, ist Gonzo grundsätzlich als Erster zur Stelle, der das ausnutzt, mobbt, ärgert und sich auf Kosten des Schwachen vergnügt. Leider machen dann meist viele mit. Und leider bin ich es oft, den Gonzo sich zum Opfer auserkoren hat. Und so wiederholt Gonzo die Drohung der Lehrerin, indem er mir zuzischt: »Glück gehabt.«

Es wäre natürlich ein Kinderspiel für mich, Gonzo in einer Pause abzugreifen, ihm eine Tracht Prügel zu verpassen, die er nie wieder vergisst, und somit seinem Mobbing und seinen Sticheleien ein für allemal ein Ende zu setzen. Aber genau das darf ich nicht. Keiner darf von uns Kinderagenten erfahren. Und deshalb darf niemand auch nur ansatzweise meine besonderen Fähigkeiten erkennen, die ich mir in einem drei Jahre dauernden Spezialtraining angeeignet habe. In diesem Punkt also habe ich meinen Traum erfüllt, eine Art Superheld zu sein. Aber leider nur die negative Seite des Superhelden: den Clark Kent des Superman, den Peter Parker des Spiderman. Leider nicht den Bruce Wayne des Batman, denn der ist im Alltagsleben ja wenigstens ein reicher und smarter Geschäftsmann. Nein, ich spiele im Alltag den »Loser«, »die Flasche«, wie Gonzo es ausdrückt, weshalb er auch mit Vorliebe mich als sein Opfer auswählt.

Okay, besser mich, als wenn er sich andere, wirklich Schwächere ausgucken würde. Lieber mich, der sich nicht wehren darf, als einen, der sich nicht wehren kann. Trotzdem: Es nervt, und öfter als mir lieb ist, juckt es mir in den Fingern, Gonzo mal einen richtigen Denkzettel zu verpassen.

Im Moment habe ich ja angeblich »Glück gehabt«, sodass er mich zufriedenlässt.

Aber natürlich war das alles andere als Glück. Ich weiß über die Welt Bescheid. Ich hätte fast mal einen Einsatz gehabt gegen eine kriminelle Organisation in Europa, die in Verbindung stand mit dem Menschenhandel in Nigeria. Aber das hat dann doch Naomi übernehmen müssen. Sie hatte es mit ihrer dunklen Hautfarbe leichter, sich in den Clan einzuschleusen. Naomi ist natürlich auch nur ein Agentenname, so wie ich »Liam« genannt werde. Liam bedeutet übrigens soviel wie »entschlossener Beschützer« und kommt vom irischen Namen William, oder, wenn man so will, vom deutschen »Wilhelm«. Man könnte mich also ebenso gut Willi nennen.

Naomi kenne ich von der Agentenschule. Sie ist der YOUNG AGENT in Paris. Und ich muss gestehen: Mit ihr wäre ich sehr gern mal gemeinsam im Einsatz. So aber habe ich sie seit der Agentenschule nicht mehr gesehen. Über Smartphone-App oder Internet darf ich mit ihr auch nicht in Verbindung bleiben, wenn wir keinen Einsatz haben. Blöd. Ich würde sie wirklich gern mal wiedertreffen. Naja, jedenfalls hat sie wohl ihren Einsatz »Menschenhandel/Nigeria« erfolgreich beendet, soweit ich es mitbekommen habe.

»Hey, Bratzbirne!« Gonzo schlägt mir mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.

Ich war schon wieder so sehr in meine Halbschlafgedanken verfallen, dass ich das Ende des Unterrichts gar nicht mitbekommen habe. Alle rennen raus in die Pause. Nur ich sitze noch auf meinem Platz und habe schon wieder Gonzo am Hals.

»Schläfst du, Bratzbirne?«, geifert er mich an. »Ist Pause! Raus hier!«

Er zieht mich am Kragen hoch. In Bruchteilen von Sekunden erkenne ich seine schwachen Stellen. Ein kurzer Schlag an seine ungedeckte Halsschlagader, und Gonzo würde umkippen wie eine getroffene Schießbudenfigur auf dem Jahrmarkt. Aber ich darf nicht. Also beuge ich mich seinem Befehl, stehe langsam auf und tue so, als würde er mich tatsächlich am Kragen hochziehen.

»Du bist doch auch noch hier drinnen, Gonzo!«, erwidere ich.

Gonzos breites Gesicht läuft sofort rot an. Er hasst es nämlich, Gonzo genannt zu werden.

»Wie hast du mich genannt?«, faucht er, holt aus und will mir eine schallende Ohrfeige verpassen. Das lasse ich dann doch nicht zu. Mit einer schnellen Bewegung ziehe ich meinen Kopf zurück, Gonzo schlägt ins Leere, verliert durch seinen eigenen Schwung das Gleichgewicht. Ich brauche nur einen Schritt beiseitezutreten, und Gonzo fällt über meine Stuhllehne, will sich daran noch festhalten, doch der Stuhl rutscht weg. Gut, ich gebe zu, ich habe dem Stuhl einen leichten Tritt versetzt. Gonzo schlittert jedenfalls mit dem Stuhl einen Meter weit, bis er völlig den Halt verliert und bäuchlings auf dem Boden landet.

»Hoppla!«, sage ich, steige über ihn hinweg und gehe zur Tür.

Während Gonzo sich wutschnaubend aufrappelt, drehe ich mich kurz um und rufe ihm zu: »Ist Pause! Raus hier!«

Gonzo schnaubt wie ein Stier, senkt wie ein solcher den Kopf und stampft auf mich zu. Ich hüpfe hinaus, knalle die Tür hinter mir zu und höre nur dumpf von außen, wie Gonzo innen dagegen donnert.

Zufrieden gehe ich Richtung Schulhof.

Als Gonzo aus dem Klassenraum gerast kommt, bin ich bereits in der Schülermenge verschwunden. Ich hole mir einen Kakao, setze mich auf die Bank auf dem Schulhof und blinzle in die Sonne. Ein herrlicher Sommertag. Viel zu schade, um an einem solchen Tag seinen Schlaf nachzuholen.

Ich höre, wie sich neben mir einige Mädchen aus meiner Klasse mit einigen Jungs für den Nachmittag im Schwimmbad verabreden.

»Hey, ich würde gern mitkommen!«, rufe ich ihnen zu.

Nelly, eines der nettesten Mädchen aus meiner Klasse, schaut zu mir rüber und runzelt die Stirn. »Du?«, fragt sie. »Ich hab dich in den ganzen Ferien nicht im Schwimmbad gesehen.«

»Ich war verreist«, antworte ich zu meiner Entschuldigung, die ja nicht einmal gelogen ist.

»Verreist?« Torben, einer der Jungs, die bei Nelly und ihren Freundinnen herumlungern, lacht. »Wo denn? In Grönland? Seht mal, wie blass der ist. Du hast doch die ganzen sechs Wochen keine Sonne gesehen!«

»In Grönland kann man auch einen Sonnenbrand kriegen!«, teile ich ihm mit, worauf Nelly mich noch verwunderter anschaut.

»Wie jetzt? Du warst echt in Grönland?«

Für einen Moment überlege ich, ob ich nicht einfach Ja sagen soll, denn das wäre doch eine feine Ausrede dafür, dass mich sechs Wochen lang niemand im Stadtteil gesehen hat.

Stattdessen grinse ich Nelly nur an und sage: »Beinahe hätte ich dir einen Schlittenhund mitgebracht.«

Nelly lächelt süß und sagt: »Du Spinner! Also, heute Nachmittag um vier am Eingang.«

Zack, ich habe eine Einladung zum Schwimmbad. Super!

Auch wenn Torben nörgelt. »Der Langweiler?«

Nelly schaut ihn mahnend an, und Torben gibt nach: »Von mir aus.«

Einige Stunden später suche ich zu Hause meine Badehose. Und kann sie ums Verrecken nicht finden. Die muss doch da sein! Ich zerre die oberste Schublade aus meiner Kommode, in der alle meine Unterhosen und Socken deponiert sind, und kippe sie auf dem Boden aus. Okay, ich stelle fest, in der Schublade befindet sich erheblich mehr als nur Socken und Slips. Auch eine Fliege, die ich Weihnachten hätte tragen sollen, aber nicht finden konnte; zwei alte, lang vermisste Mathehefte, drei Comics, ein abgenutztes und leider leeres Portemonnaie, ein Taschenmesser, das ich schon seit einiger Zeit suche und nun in meine Hosentasche stecke. Das ist auch so eine Sache. Als Geheimagent verdiene ich richtig viel Geld. Aber was hab ich davon? Nichts! Weil ich erst zwölf Jahre alt bin, und auch, weil es nicht auffallen soll, wird all mein Geld auf einem Sperrkonto des Geheimdienstes gebunkert, auf das ich frühestens mit Beginn meiner Volljährigkeit Zugang habe. Na toll!

Es blinkt. Das Trikot meines angeblichen Lieblingsfußballers Ronaldo auf dem eingerahmten und sogar signierten Poster ändert seine Farbe von Weiß (es ist ein altes Foto aus Madrid) in Rot (das Nationaltrikot von Portugal). Ich weiß, was das bedeutet: Der Prof ruft.

Oh nein. Ich hatte nicht einmal einen einzigen Nachmittag zum Verschnaufen. Vor weniger als 24 Stunden lag ich noch in dem Lüftungsschacht, bin gestern vor lauter Aufregung erst sehr spät in der Nacht eingeschlafen, dafür heute im Unterricht umso öfter und schneller, und jetzt, da ich nach sechs Wochen Ferien, die für mich keine waren, das erste Mal mit den anderen ins Schwimmbad gehen will, ruft mich der Prof! Scheiße.

Ich überlege, ob ich es einfach ignorieren soll. Haha. Geht natürlich nicht. Ich weiß, dass die Zentrale mich durch Ronaldos Augen hindurch sehen kann. Deshalb ist das Poster eingerahmt. Der Rahmen ist nichts anderes als ein vollständiger, getarnter Geheimcomputer mit Überwachungskamera.

»Ja«, murmle ich. »Bin schon unterwegs.«

Im selben Augenblick öffnet sich meine Zimmertür und mein Vater schaut herein.

»Hast du gerufen?«

»Nein, alles in Ordnung, Paps!«

Mein Vater schaut auf die Unterhosen und Socken auf dem Boden. »Räumst du auf?«

»Äh, nein. Ich will ins Schwimmbad und suche meine Badehose.«

»Auf dem Balkon, auf der Leine«, informiert mich mein Vater.

»Wieso das denn, frage ich. Ich hab die sechs Wochen lang nicht benutzt.

»Mama hat dir eine neue gekauft. Du weißt ja, neue Sachen wäscht sie immer erst einmal durch«, erläutert mein Vater.

»Und wo ist meine alte?«, frage ich nach.

Mein Vater zuckt mit den Schultern. »Wohl entsorgt. Mama meinte, die wäre dir inzwischen zu klein.«

Oh Mann! Nichts gegen liebevolle Fürsorge, aber manchmal … Meine alte Badehose war nämlich tipptopp.

Als ich meine neue Badehose von der Wäscheleine auf dem Balkon holen will, glaube ich, mich trifft der Schlag.

»Die ist rosa! Mit ’ner ›Hello Kitty‹-Fratze drauf!«, kreische ich entsetzt.

Plötzlich steht meine Mutter an der Balkontür. »Gefällt sie dir nicht? Die war teuer, weil, ist ja ein Markenartikel, und …«

»Mama! Das ist ’ne Mädchenhose!«, stelle ich klar.

Meine Mama winkt ab. »Ach, heutzutage unterscheidet man doch gar nicht mehr zwischen Jungs und Mädchen. Das ist doch ganz unmodern.«

»MAMA!« Fast werde ich hysterisch. »Ich unterscheide da sehr wohl! Und außerdem: Die Mädchen, die ich kenne, fänden die Hose auch schrecklich!«

»Du findest sie schrecklich?« Der beleidigte Ton meiner Mutter ist nicht zu überhören. »Dann tausche ich sie um.«

»Gib mir einfach meine alte zurück«, bitte ich und drücke meiner Mutter entschuldigend ein Küsschen auf die Wange.

»Die hab ich deinem Cousin geschenkt«, beichtet meine Mutter.

Himmel! Aber ich hab keine Zeit mehr. Dann muss ich mir eben in der Zentrale eine besorgen. Da bekomme ich natürlich nur eine Spezial-Badehose mit etlichen Geheimfunktionen, aber was soll’s …

»Okay. Ich besorg’ mir selbst eine. Ciao, Mama. Und nicht böse sein.« Ich drücke ihr ein weiteres Küsschen auf die Wange und düse aus der Wohnung.

Meine Eltern erfahren nichts von den Einsätzen, zumindest nichts Genaues. Am besten ist, wenn sie gar nichts wissen.

Als ich schon fast die erste Etage hinter mir habe, ruft mir mein Vater hinterher.

»Was gibt’s?«, frage ich die Treppe hinauf.

»Handtuch!«, ruft mein Vater und wirft mir ein Badetuch hinunter.

»Danke!«, rufe ich und renne die restlichen sieben Stockwerke hinunter.

Fahrstühle sind im Einsatz zu vermeiden!, hieß es in einer Lektion unserer Ausbildung. Es wäre einfach zu blöd, wenn man zu einem wichtigen Einsatz zu spät käme, weil man in einem Fahrstuhl stecken geblieben ist.

Also tipple ich alle acht Stockwerke zu Fuß die Treppen hinunter. Ist ja auch gleichzeitig ein gutes Training. Ehrlich gesagt finde ich, wenn der Geheimdienst meinen Eltern schon alles bezahlt, dann hätten sie uns auch ein kleines Häuschen mit Garten zur Verfügung stellen können. Schließlich riskiere ich ja auch einiges bei meiner Agententätigkeit, und meine Eltern hätten es sowieso verdient. Aber der Geheimdienst meint, eine Wohnung im achten Stock eines zwölfstöckigen Hochhauses mitten in einem sozialen Brennpunkt wäre unauffälliger. Wenn die wüssten! Hier im Stadtteil ist manches viel komplizierter, als es in einer ruhigen, beschaulichen Einzelhaussiedlung gewesen wäre.

Unten angekommen, trete ich aus der Haustür und gehe nur wenige Schritte, als sich plötzlich vor mir eines dieser Probleme des Stadtteils aufbaut, eine muskulöse Wand in Lederjacke: Murat. Och nö, ich hab’s doch gesagt! So jemand wie Murat begegnet einem in der Einzelhaussiedlung bestimmt nicht. Murat ist noch schlimmer als Gonzo, außerdem drei Jahre älter, also fünfzehn, und ein totaler Spinner. Murat prahlt gern damit, dass er Türke sei. Vermutlich hält er das in seiner Gang, mit der er normalerweise hier herumlungert, für wichtig. Das Lustige daran ist, dass Murat selbst in Wahrheit gar kein Türke ist, sondern Deutscher. Hier geboren, seine Eltern haben seit fast zwanzig Jahren deutsche Pässe, Murat spricht kaum ein Wort Türkisch und war auch noch nie in der Türkei. Im Gegensatz zu mir übrigens: Sowohl in Istanbul als auch in Ankara hatte ich schon kurze Trainingseinsätze. Und war sogar auch schon mal mit meinen Eltern am Iztuzu-Strand in Dalyan. Da war ich aber noch kleiner und noch kein YOUNG AGENT.

Im nächsten Abschnitt der Agentenakademie im Winter muss ich übrigens Türkisch und Arabisch lernen. Da wird Murat staunen, wenn ich ihm was auf Türkisch erzähle! Bisher kann ich einigermaßen gut Englisch, Spanisch und Französisch.

Murat ist auch der einzige Durchgeknallte in seiner Familie. Seine Eltern sind total in Ordnung, seine vier Geschwister auch: zwei Brüder und zwei Schwestern. Zwei sind älter, zwei jünger. Und alle deutlich klüger als Murat.

»Ey, Digger. Wohin?«, fragt Murat.

»Ich? Ins Einkaufszentrum. Da gibt’s ab vier Uhr eine Stunde lang Gratis-Eis. Wegen der Hitze. Wusstest du das nicht?«

»Echt, Digger?«, fragt Murat erstaunt.

Ich deute zwei Schritte Richtung Einkaufszentrum an.

Wie ich mir gedacht habe, stellt sich Murat mir in den Weg.

»Du nicht!«, befiehlt er.

»Wieso nicht?«

»Weil ich es sage!«, sagt Murat entschlossen. »Los, du gehst da lang!«

Er zeigt in die entgegengesetzte Richtung.

»Och, Mist«, täusche ich vor, drehe mich um und gehe in die Richtung, in die ich ohnehin gehen wollte, während Murat sich auf den Weg ins Einkaufszentrum macht. Ich würde gern sein Gesicht sehen, wenn er dort merkt, dass ich ihn mal wieder reingelegt habe. Das klappt immer mit Murat. Wie jedes Mal wird er dann wütend auf mich sein. Und auch wie immer wird er es vergessen haben, wenn er mich das nächste Mal trifft.

Ich schließe mein Rad auf und will gerade losfahren, da kommt Zehra vorbei, die Jüngere von Murats Schwestern.

»Hallo Billy!«, grüßt sie mich wie immer freundlich. »Hast du zufällig Murat gesehen?«

»Ja«, antworte ich. »Der wollte ins Einkaufszentrum, Eis essen. Dabei hat die Eisdiele heute geschlossen.«

»Oh Mann!«, stöhnt Zehra. »Der ist manchmal so dämlich. Der sollte doch hier auf mich warten. Wir müssen zu meiner Mutter in die Klinik!«

Ich sehe sie erschrocken an.

Zehra winkt ab. »Nichts Dramatisches. Blinddarm. Und jetzt wollen wir sie besuchen. Aber Murat hat das schon wieder vergessen, der Blödmann!«

»Tja«, sage ich und zucke mit den Schultern. »Grüß ihn schön von mir.«

Zehra zieht kopfschüttelnd weiter.

Es ist kurz vor sechzehn Uhr, und ich muss an Nelly und das Schwimmbad denken. Mist! Was wird die von mir halten, wenn ich dort nicht auftauche? Wird mich dort überhaupt jemand vermissen? Für einen Moment überlege ich, per WhatsApp wenigstens abzusagen. Aber dann halte ich es für besser, morgen einfach zu behaupten, ich hätte es vergessen.

Der Nachteil als YOUNG AGENT ist, dass ich noch kein Auto fahren darf. Nicht, dass ich es nicht könnte. Im Gegenteil: Im Fahrtraining an der Agentenakademie war ich einer der Besten. Und in der Nähe von Istanbul musste ich mal mit einem Jeep in vollem Tempo durch einen Wald rasen. Das hat Spaß gemacht. Aber im Alltag in der Stadt ist mir das Autofahren natürlich verboten. Also schwinge ich mich auf mein Rad. Wenigstens ist es ein E-Bike, eine Spezialanfertigung für mich als Agent: Dem Motor sieht man nicht an, dass das Rad es auf eine Geschwindigkeit von 55 Stundenkilometer bringt. Das Rad dürfte ich ohne Führerschein und in meinem Alter noch gar nicht fahren. Aber ein paar kleine Vorteile darf man ja wohl haben als Agent. Es hat auch lange genug gedauert, bis ich meine Vorgesetzten davon überzeugt hatte, das Rad im Alltag nutzen zu dürfen. Ich lege meinen Daumen auf die Batterie. Ohne die Freigabe meines Fingerabdrucks könnte man das Rad gar nicht bewegen.

Dann düse ich los.

Zehn Minuten später bin ich am Ziel: eine kleine Tankstelle am Rande unseres Stadtteils. Ich schließe mein Rad an, gehe ins Kassenhäuschen, lasse mir einen besonderen Schlüssel für die Toilette geben, den sonst niemand bekommt, gehe im Toilettenhäuschen in die zweite Kabine mit der Aufschrift »privat«, schließe hinter mir ab und drücke auf den Spülknopf. Der Boden unter mir entpuppt sich als Fahrstuhl und senkt sich mitsamt Kloschüssel ab. Unten verlasse ich die Kabine, gehe durch einen zehn Meter langen Gang, an dessen Ende sich eine feuerfeste Stahltür von selbst öffnet, und stehe in einem mit alten englischen Möbeln gemütlich eingerichteten und mit dickem Teppich ausgelegten Büroraum, in dessen Mitte der Prof hinter einem gewaltigen Schreibtisch sitzt, bei dem ich mich jedes Mal frage, wie sie den hier herunterbekommen haben.

»Hallo, Liam«, begrüßt der Prof mich freundlich. »Ausgeschlafen? Erholt?«

»Beides nein«, antworte ich.

»Fein!«, sagt der Prof, als hätte ich mit »Ja« geantwortet.

»Ich wollte eigentlich schwimmen gehen«, sage ich.

»Oh.« Der Prof lächelt mich an. »Wenn du Glück hast, kannst du das sogar bald.«

Er schiebt mir ein paar Fotos über seinen Schreibtisch zu. Darauf ist eine prächtige Villa zu sehen. Mit einem Pool!

»Wow!«, rufe ich. »Bekommen meine Eltern ein neues Haus?«

Eine Sekunde lang sieht der Prof mich an, als ob ich nicht ganz bei Sinnen wäre.

»Das ist die Villa von Thorsten Maffei«, sagt er dann schließlich.

»Dem Sänger?«, frage ich.

Wieder dieser zweifelnde Blick. »Ich glaube, du bist wirklich noch ein bisschen übermüdet«, tadelt mich der Prof. »Der Sänger heißt Peter, sein Nachname schreibt sich mit Ypsilon, und er hat nicht das Geringste mit diesem Thorsten zu tun. Wir sind uns recht sicher, dass Thorsten Maffei einer der größten Mafiabosse unseres Landes ist und möglicherweise einen regen internationalen Handel mit gefährlichen Terroristen betreibt. Von denen kauft er Drogen für den Weiterverkauf. Und vielleicht handelt er sogar mit Waffen, möglicherweise im Tauschgeschäft. Das Ganze läuft sehr wahrscheinlich über einen mächtigen Mittelsmann, der die Kontakte zwischen den internationalen Terroristen und der Organisierten Kriminalität hierzulande herstellt.«

Ich nicke. Wenn der Prof mir diese Geschichte erzählt, statt einfach hinzugehen und diesen Mafioso zu verhaften, dann heißt das, dass sie auch hier nicht den geringsten Beweis in der Hand haben.

»Lassen Sie mich raten«, sage ich. »Der Mittelsmann ist unser lieber Bekannter, …«

»… wahrscheinlich der Boss, der uns gestern durch die Lappen gegangen ist. Genau! Niemand anderes hat sonst so gute internationale Kontakte«, bestätigt der Prof. »Hätten wir ihn erwischt, hätten wir ihn vernehmen können und deine Mission wäre möglicherweise gar nicht nötig.«

»Und ich hätte heute schwimmen gehen können. Ich verstehe.«

»Ganz genau!«, sagt der Prof.

»Aber …«, wende ich ein, »Terrorismus ist nicht gerade das Geschäftsfeld, in dem sich zahlreiche Kinder tummeln. Wie soll ich mich da einschleusen? Warum holen Sie keinen erwachsenen Agenten?«

Der Prof wirft mir nun einen milden Blick zu.

»Glücklicherweise hat Thorsten Maffei eine Tochter, die ihm alles bedeutet«, erklärt er und schiebt einige weitere Fotos über den Tisch, auf denen ein Mädchen abgebildet ist: »Shiona. 14 Jahre alt. Sie liebt Musik, hat eine gute Stimme und will mit einer Freundin, die Bass spielt, eine Band gründen. Über eine Instagram-Annonce sucht sie dafür noch einen Gitarristen und einen Schlagzeuger.«

Als Agent muss man auf die schwierigsten und seltsamsten Aufträge vorbereitet sein. Deshalb habe ich an der internationalen Agentenakademie auch eine umfassende Ausbildung genossen: Sprachen, Allgemeinbildung, Geografie, Erste Hilfe, Kampfsport, Waffenkunde, Schießen mit Pistole, Gewehr und Pfeil und Bogen, Sich-Tarnen, Tauchen, Codes Entschlüsseln, Türenöffnen, Klettern, Skifahren, Auto- und Motorradfahrtraining, sogar ein Sportflugzeug könnte ich fliegen.

Aber Musik????

Ich spiele kein einziges Instrument, höre zwar wie alle in meinem Alter ganz gern die neuesten Songs, aber ich halte mich dennoch für völlig unmusikalisch! Ich kann weder tanzen noch singen, geschweige denn – wie gesagt – irgendein Instrument spielen. Und jetzt soll ich mich als Gitarrist für eine Band bewerben?

Der Prof lächelt mich an.

»Drei Nächte Autosuggestionstraining und an den drei Tagen jeweils sechs Stunden Intensiv-Gitarrenunterricht!«, teilt er mir mit.

WAS?????

Okay, das mit dem Autosuggestionsding ist eine echt heiße Sache. Auf diese Weise habe ich unter anderem meine Sprachen gelernt, im wahrsten Sinne des Wortes im Schlaf. Während ich nachts schlafe, werden in einer Art Hypnoseverfahren über ein paar an mir angeschlossene Dioden die entsprechenden Fähigkeiten in meinem Gehirn gespeichert. Ein bisschen so – so hat es der Prof uns erklärt –, als ob man auf einem Computer eine Software speichert. Wie es genau funktioniert, weiß ich nicht. Auf jeden Fall handelt es sich um eine speziell für Geheimdienste entwickelte Methode. Und sie funktioniert recht gut. Also zumindest beim Sprachenlernen. Aber dass ich nach drei Tagen als begnadeter Gitarrist und Popstar aufwache, wage ich zu bezweifeln.

Außerdem: »Drei Tage und drei Nächte!«, werfe ich ein. »In der Zeit wird diese Shiona doch längst einen Gitarristen gefunden haben.«

Der Prof schaut mich etwas mitleidig an.

»Hältst du uns für Amateure?«, fragt er. »Wir haben natürlich dafür gesorgt, dass im Moment niemand Weiteres Shionas Instagram-Account lesen kann, also auch nicht ihre Annonce. Du lernst jetzt zügig, Gitarre zu spielen, und sorgst dafür, dass sie dich nimmt. Wird ja wohl nicht so schwer sein, wenn du der einzige Bewerber bist.«

Aha. Das klappt nie, denke ich, behalte es aber für mich.

»Okay«, sage ich stattdessen.

Der Prof schiebt mir einen Zettel über den Tisch mit ihrer Adresse und ihren Kontaktdaten.

»Wir haben ihr schon in deinem Namen auf WhatsApp geschrieben«, klärt der Prof mich auf. »Du wirst sicher heute noch eine Einladung bekommen, um dich vorzustellen. Versuch aber, das Treffen erst in drei Tagen zu machen.«

»Schon klar«, sage ich. Im selben Moment zeigt mein Handy an, dass ich eine Meldung über WhatsApp bekommen habe.

In der Tat lädt Shiona mich zu einem Treffen ein.

Sie schreibt:

Am besten gleich heute Nachmittag.

Und gleich hinterher:

Es gibt viele Bewerber, aber dein Profil gefällt mir am besten.

Was für eine Lügnerin! Ich weiß ja, dass sie nur meine Bewerbung bekommen hat.

Ich erhalte noch ein Kuvert mit einer schriftlichen Einweisung in diesen Fall, die ich nach dem Lesen sofort vernichten muss, und verabschiede mich vom Prof. Draußen, wieder am Rad, schreibe ich Shiona zurück und mache erst einmal auf cool, indem ich schreibe:

Danke für deine Einladung.

Kannst du mal ein oder zwei Videos schicken,

was ihr so spielt und was ihr draufhabt?

Ich hoffe, sie hat jetzt erst einmal damit zu tun, das Video mit ihrer Freundin zu erstellen. Denn schließlich weiß sie ja nicht, weshalb sie nur einen Bewerber hat. Entsprechend stark wird sie daran interessiert sein, mich zu bekommen.

Doch die Antwort lautet anders, als ich gehofft hatte.

Klar kannst du uns erst mal checken.

Aber doch besser live als per Video, oder?

Komm gleich vorbei, wenn du Zeit hast, und wir spielen dir etwas vor.

Ups. Und jetzt? Ich kann nichts auf der Gitarre, rein gar nichts. Insofern kann ich nicht zu ihr gehen. Nicht heute! Nicht jetzt!

Also schreibe ich:

Bin nicht in der Stadt!

Übermorgen?

Cool! Wo bist du denn?

Oh Mann! Ich überlege: Ihr Vater ist ein hochkrimineller Mafioso. Shiona wird davon nichts ahnen – hoffe ich mal. Aber ihr Vater dürfte Multimillionär sein. Welche Stadt also fände Shiona wohl cool? Ich muss grinsen, denn ich habe einen genialen Einfall.

London!

Und von dort bringe ich gleich einen Schlagzeuger mit, wenn du willst.

Du suchst doch einen?

Genial!!!!

Wie cool ist das denn!

Es folgen fünf Herzen und drei Küsschen.

Das Treffen ist also geritzt. Jetzt muss ich nur noch wirklich Gitarre spielen lernen und hoffe, diese Autosuggestion haut halbwegs hin. Das mit dem Schlagzeuger ist kein Problem. Denn Charles aus London soll sowieso zu meiner Unterstützung kommen, wie ich den Papieren im Kuvert entnehme. Und Charles, das erinnere ich noch von der Agentenakademie, spielt tatsächlich recht gut Schlagzeug. Na also. Die Jagd beginnt.

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