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ZUR GESCHICHTE

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Im Jahre 1812 erwarb der russische Kaiser Alexander der Erste das Land Bessarabien. Dieser Landstrich erstreckt sich über das heutige Moldawien und einen Teil der Ukraine, begrenzt von Rumänien und dem Schwarzen Meer. Während Nordbessarabien eine dicht von Eichen- und Buchen bewaldete Hochebene ist, von tiefen Schluchten eines Karpatenausläufers durchzogen, geht das Land in Richtung Süden rasch in ein dünnbesiedeltes, karges Steppenland über, wo in einer baumlosen Landschaft mannshohes Gras auf fruchtbarer schwarzer Erde wächst. Schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte war diese Steppe ein Durchzugsgebiet der Urvölker. Von den asiatischen Steppen zogen nomadisierende Volksstämme an den Karpaten entlang nach Europa. Griechen, Daker, Goten, Hunnen und Römer wanderten hier entlang. Von den letzteren stammen die Moldauer ab, welche die Hauptbevölkerung darstellen. Vor der Einwanderung von Siedlern wurde das Land von einem Hirten- und Wandervolk genutzt, den nogaischen Tataren, einem Turkvolk. Viele Ortsnamen erinnerten später noch an dieses Nomadenvolk, das sich später zum größten Teil in die Türkei zurückzog.

Der russische Kaiser wollte das Gebiet wirtschaftlich nutzen und verschenkte riesige Landflächen an seine Heerführer, die sich im Napoleonfeldzug verdient gemacht hatten. Doch für die Landwirtschaft braucht man Bauern, deshalb warb der Kaiser Siedler. Er fand sie im zersplitterten Deutschland. Durch die fortwährenden napoleonischen Kriege war die Bevölkerung hier verarmt und verbittert. Wie göttliche Verheißung erschienen deshalb den Menschen die Versprechungen des russischen Kaisers, dem sie wegen seiner Gottgläubigkeit großes Vertrauen schenkten. Die russische Regierung gewährte den deutschen Einwanderern verschiedene Privilegien: So war das zu besiedelnde Land zehn Jahre lang von Abgaben und Grundsteuern befreit, arme Familien wurden mit einer Zahlung von zweihundertsiebzig Rubeln unterstützt. Nach der Ansiedlung würde jede Seele pro Tag fünf Kopeken Nahrungsgeld bis zur ersten Getreideernte erhalten. Die Einwanderer und ihre Nachkommen sollten für ewige Zeiten vom Militärdienst befreit sein, auch wurde ihnen das Recht auf freie Ausübung ihrer Religion zugesagt. Erst nach zehn Jahren mussten die Unterstützungsgelder nach und nach zurückgezahlt werden.

Das klang gut in den Ohren der ausgehungerten, geknechteten Bevölkerung, und so fanden sich viele, die dem Werben des Kaisers Folge leisteten. Im Frühjahr 1814 traten die ersten Siedler die Reise ins ferne Bessarabien, ins Land der Hoffnung, an. Pferde- und Handwagen, Ziegen- Ochsen- und sogar Schubkarren, mit Hausrat und kleinen Kindern beladen – so begaben sich die Menschen auf die mühselige Wanderung. Was für eine Reise! Nach Monaten voller Strapazen, nach Überwindung unzähliger Hindernisse, kamen die Erschöpften endlich im Land ihrer Träume an. Doch die Erfüllung dieser Träume ließ auf sich warten, denn von 1814 bis 1816 wurden die Deutschen zunächst in moldauischen Dörfern untergebracht, wo sie als Tagelöhner ihr Auskommen fanden. Nun galt es, sich in Geduld zu üben, die fremde Sprache zu erlernen und sich in Ungewohntes zu fügen. Selbst die Nahrung war ganz anders als daheim. Anstelle des Brotes, welches die Deutschen gewöhnt waren, mussten sie mit Mamaliga, einem Brei aus Mais, vorliebnehmen. Der Traum vom eigenen Hof schien in weite Ferne gerückt, manch einer sehnte sich schmerzlich nach der alten Heimat.

Doch die Behörden arbeiteten, wenn auch langsam, an der Aufgliederung des Landes. Sie teilten die südbessarabische Steppe, Budschak genannt, in Areale ein und nummerierten sie. Wie aus einem Gemeindebericht des Jahres 1848 hervorgeht, kamen die ersten Siedler im Juni 1816 an, um ihr Land urbar zu machen. Zur Unterstützung bekamen sie dafür pro Familie eine Kuh und zwei Ochsen, einen Wagen und einen Holzpflug sowie verschiedene Gerätschaften wie Hacke, Spaten, Sichel und Dreschflegel ausgehändigt.

Es ist für uns kaum vorstellbar, was die Menschen empfunden haben müssen, die hier mit Ochsenkarren standen und ihre neue Heimat betrachteten. So weit das Auge reichte, nur Gras und meterhohe Unkräuter. Die riesige Ebene war von flachen Hügelketten durchzogen, in der Ferne glitzerte ein Flüsschen. Auf dem ihnen zugewiesenen Land gab es weder Baum noch Strauch. Als das erste Gewitter grollte und strömender Regen sie in ihre Wagenzelte trieb, wurden bestimmt einige Tränen vergossen. Doch für Verzagte war hier kein Platz, tapfer besannen sich die Menschen auf ihre Träume und die Möglichkeit, sie in diesem Land zu verwirklichen. Harte Arbeit war freilich nötig, aber wer von ihnen war die nicht gewöhnt?

Weil in dem hohen Bewuchs Ungeziefer und Schlangen ihr Unwesen trieben, errichteten die Menschen Hütten aus Lehm und Gras. Die Männer spannten mehrere Ochsen vor einen Pflug und bestellten das Land, was sehr große Anstrengungen erforderte. Zum Glück war der Boden fruchtbar. Nach der ersten Ernte von Roggen und Weizen konnten die Deutschen endlich wieder Brot essen. Langsam begannen sie sich heimisch zu fühlen. Mit Fleiß und Ausdauer schritten sie zur Tat. In den folgenden Jahren entstanden an dem Steppenflüsschen Kogälnik Dörfer mit geraden Straßen, Steinhäusern, Schulen, Kirchen und Läden.

In der Organisation des gesellschaftlichen Lebens, bei der Beschaffung von Saatgut und bei der Gründung von Ämtern erhielten die Menschen, die ja meist nur einfache Bauern waren, Unterstützung von dem sogenannten Fürsorgekomitee, welches sich aus russischen und deutschen Beamten zusammensetzte. Dieses Fürsorgekomitee kümmerte sich um alle Belange des Zusammenlebens, jedoch hauptsächlich um die wirtschaftlichen, und war bis 1871 aktiv.

Ihre Dörfer nannten die Bauern Paris, Leipzig, Gnadental, Hoffnungstal und Eigenheim. Allein aus diesen Namen kann man die große Hoffnung ablesen, die man auf dieses Land setzte.

Die Gemeinde meiner Vorfahren war das elfte der neu gegründeten Dörfer und wurde ‚Feré-Champenoise‘ genannt, zur Erinnerung an den Sieg der verbündeten Armeen über die Franzosen am 25. März 1814 bei der Stadt Feré-Champenoise. Da die Leute diesen Namen schwer aussprechen konnten und ihr Dorf das elfte war, nannten sie ihre Gemeinde in schwäbischer Mundart einfach die ‚Elft‘. Später gab es ein ‚Alt-Elft‘ und ein ‚Neu-Elft‘.

Die Kolonisten hatten ihre Träume wahr gemacht und sich eine neue Heimat geschaffen. Sie betrieben Ackerbau und Viehzucht, bauten Obst und Wein an, gruben Brunnen, fischten im Fluss und holten Steine aus dem Steinbruch. Die Frauen spannen, webten, nähten die Kleidung und bekamen Kinder.

Es dauerte aber auch nicht lange, da mussten die Siedler einen Friedhof anlegen. Im Jahre 1818 überfiel die Menschen das erste Mal ein seltsames Fieber. Die Bauern, die eben erst ihr Land urbar gemacht hatten, die gerade ihre Häuser errichteten, starben an Malaria. Fast hundert Menschen, zumeist Kinder, fielen der unbekannten Krankheit zum Opfer. Einige Familien starben völlig aus.

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Als im Jahre 1822 heimkehrende Truppenteile vom russisch-türkischen Krieg auf dem Durchmarsch nach Russland waren, brachten sie die Pest mit. Ganze Dörfer verödeten und die Steppe ergriff wieder Besitz von den Feldern. Auch an Cholera, Diphtherie und Pocken starben in den folgenden Jahren viele Menschen.

Zu den unbekannten Krankheiten kamen unbekannte Naturgewalten hinzu. Erdbeben erschreckten Menschen und Vieh, Überschwemmungen, Dürreperioden und Heuschreckenplagen führten zu Missernten. Schädlinge wie Erdhasen, Hamster und Krähen konnten nur mit viel Mühe von der Ernte ferngehalten werden.

Trotz dieser Widrigkeiten vermehrten sich die Deutschen in den folgenden einhundert Jahren beträchtlich, vergrößerten ihre Ortschaften und besiedelten bald die ganze südliche Budschaksteppe. Mit ihrem Fleiß und ihrem unvorstellbaren Durchhaltevermögen rechtfertigten sie das vom russischen Kaiser in sie gesetzte Vertrauen, Kulturträger eines wilden, unbewohnten Landes zu sein.

Emilie

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