Читать книгу Kleine Literaturgeschichte der Großstadt - Angelika Corbineau-Hoffmann - Страница 12
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Sittenbilder – die Großstadt als moralisches Tableau
Gemessen an den Themen der Literatur, gemessen auch an den Versuchen, die Aufgabe der Kunst, die Regeln der literarischen Gattungen zu definieren, ist die Großstadt ein Gegenstand ohne Würde. Wer sich in der Frühzeit der Großstadtdarstellung auf dieses Thema einlässt, muss gewahren, mit diesem Gegenstand gleichsam allein zu sein, und kann sich auf die Unterstützung der Tradition oder auch der zeitgenössischen Diskussion nicht verlassen. Der Gegenstand ‘Großstadt’ wird nicht theoretisch untermauert; Modelle für seine Darstellung stehen nicht bereit: ein klassischer Fall jener Denk- und Erfahrungsfigur des Neuen, die in der sich langsam herausbildenden Moderne den Rang eines Paradigmas gewinnt, für das wiederum die Großstadt selbst zum Paradigma wird. Für die heutigen Leser, von den großstädtischen Erfahrungen geprägt und mit den Kunstmitteln der Großstadtdarstellung vertraut, sind die Schwierigkeiten der Anfänge kaum zu ermessen. Die Vorstellung, dass menschliches Verhalten nicht nur von allgemeinen, naturhaften Vorgaben bestimmt, sondern mindestens in demselben Maße von kulturellen Normen und sozialen Übereinkünften geprägt ist, findet an der Großstadt als eines Ballungsraumes sozialer Schichten und menschlicher Verhaltensweisen eine anschauliche Bestätigung (auch dann, wenn man für diesen Blick erst auf zauberische Weise die Dächer von den Häusern heben muss). Reicht es nicht, die Verschiedenheit der Sitten, aber auch die inneren Antriebe menschlichen Verhaltens in der Großstadt aufzudecken, um die Bedeutung dieses Gegenstandes, und sei es zunächst nur für die Erkenntnis der moralischen Dinge, allen Lesern vor Augen zu stellen?
Für eine Literatur, die sich dem Nützlichen verschreibt, mag das ausreichen; soll sie aber auch oder sogar vorrangig künstlerische Qualitäten aufweisen, muss mehr von ihr verlangt werden. Nicht weniger ist der Literatur als Aufgabe gestellt, als dass aus einer räumlichen Beziehung, das Verhalten der Menschen in der Großstadt betreffend, eine kausale wird: Die Großstadt ist am Verhalten, am Schicksal der Menschen ursächlich beteiligt und kann deshalb auch das emotionale Dabei-Sein auf Seiten des Lesers einfordern. Sie generiert Schicksale, begründet Handlungen und bestimmt auch in spezifischer Weise den literarischen Diskurs, die Sprach-‚Handlung’ des Autors oder Erzählers. Wenn in der Benennung dieses Kapitels nicht nur von Sittenbildern, sondern auch von einem moralischen Tableau die Rede ist, bedeutet dies nicht einfach ein Vor-Augen-Stellen der Lebensformen in der Großstadt; vielmehr bezeichnet der Begriff ‘Tableau’, der dem bürgerlichen Trauerspiel, genauer: seiner Theorie, entnommen ist, das unmittelbare, das Medium Sprache transzendierende menschliche Interesse, das dem Leser angesonnen wird. Indem dieser der conditio humana in ihrer speziellen, die Moderne charakterisierenden großstädtischen Erscheinungsweise begegnet, soll er Anteil nehmen an menschlichen Schicksalen, an welchen der Mensch, die Großstädte bauend, selbst entscheidenden Anteil hatte.