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1. Lesage: Der hinkende Teufel – Roman einer Nacht

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Nichts deutet im Titel von Réne Lesages Der hinkende Teufel darauf hin, dass mit diesem 1707 erstmals erschienenen, 1726 in überarbeiteter Fassung publizierten Roman ein Bild der Großstadt, und ein ‘realistisches’ zumal, entworfen werden soll: Allzu skurril gestaltet sich die Rahmenhandlung, in der ein Teufel, Asmodeus, von einem Studenten aus seinem Gefängnis befreit wird und doch am Ende in dieses zurückkehren muss; allzu zahlreich und romanesk sind die eingestreuten Geschichten, kaum je mit dem Schauplatz ‘Großstadt’, so will es scheinen, auf andere als zufällige Weise verbunden. Die Entstehungszeit – zu früh, um ein Bild der modernen Großstadt überhaupt zu ermöglichen – verweist durch die Quellen, an denen sich Lesage orientierte, noch weiter zurück: Auf Louis Velez de Guevaras Diablo Cojuelo (1641), Fernandez de Riberas Los autojos de mejor vista (1625) und Francisco Santos Día y noche de Madrid (1663). Und doch hält die Großstadt in Lesages Diable boiteux, einem zu seiner Zeit sehr erfolgreichen Werk, das auch heute noch zu den Klassikern des 18. Jahrhunderts zählt, ihren Einzug in die Literatur – bleibt abzuwarten, ob durch das Hauptportal oder die Hintertür.

Der kurze Hinweis auf die Vorbilder, im Falle Velez’ von Lesage selbst legitimiert, weil er diesem sein Werk zueignet, soll weder pedantisch noch belehrend wirken (beides liefe denn auch dem Ansatz des Romans zuwider); er soll nur bei einem Werk, das einerseits zu Recht der Großstadtdarstellung zugeordnet wird, auf der anderen Seite die Distanz zu seinem Gegenstand betonen, und dies in gleich mehrfacher Weise: Die Vorbilder verweisen auf Spanien, und tatsächlich spielt auch Lesages Hinkender Teufel in Madrid, das heißt: nicht in Paris. Doch ist nicht auch oder ausschließlich Paris gemeint? Zudem: Kommt die Stadt im Sinne einer mehr oder minder poetischen Beschreibung ihrer Bauwerke, ihrer Atmosphäre, der für sie typischen Bewohner überhaupt zur Darstellung? Ist sie der originäre, nicht austauschbare Schauplatz des Geschehens oder sogar der stille Held ohne Schicksal und ohne Physiognomie, der das Geschehen im Hintergrund steuert – gleichsam ein weiterer, nunmehr namenloser Teufel, der ‘Geist’ des Geschehens? Dass sich solche Fragen ergeben, zeigt den durchaus problematischen Status der Großstadt im Hinkenden Teufel: Um welche Stadt handelt es sich, wie ist sie konkret beschaffen, welche Rolle spielt sie für diesen Text?

Die Geschichte einer Nacht, die zunächst zarten Banden vorbehalten schien, führt den Studenten Don Cleophas, bei einer Dame überrascht und zur Flucht genötigt, in die Dachstube eines Astrologen und Magiers, in der er einen Teufel, Asmodeus, aus einer Phiole befreit. Dieser hatte Don Cleophas versprochen, ihm, in Freiheit gesetzt, „alles [zu] enthüllen, was in der Welt geschieht“; er wolle ihm „die Schwächen der Menschen entdecken“, sein „Schutzgeist“ sein und ihn weiser machen als Sokrates. Verführerische Versprechungen, gewiss, denen der junge Mann verständlicherweise nicht widersteht, die aber von den Reizen der Großstadt nichts verlauten noch vermuten lassen. Bei der Schilderung der Befreiung, der Präsentation und Beschreibung des Teufels (ob seiner Größe von zweieinhalb Fuß eher ein ‘Teufelchen’) lässt der Erzähler kein pittoreskes Detail aus, und vor allem dem Mantel wird überraschende Aufmerksamkeit zuteil: Übersät von unzähligen, in einer „unmissverständlichen Deutlichkeit ausgeführten Figuren“, bietet er ein Bild nationaler Stereotypen dar: die in eine Mantille gehüllte Spanierin, die kokett-verführerische Französin, singende und Gitarre spielende italienische Kavaliere, ein Engländer, der seiner Dame Bier und eine Tabakspfeife (!) anbietet, Deutsche während eines wüsten Zechgelages – alles durchaus comme il faut. All dies geschieht auf der Welt nicht nur auf Asmodeus’ Anstiften hin, sondern ist, auf den weißen Atlas des Mantels in hoher Kunst gebannt, ein nach Nationen aufgefächertes Sittenbild. Mehr als nur pittoreskes Detail, lässt diese Gestaltung des Mantels bereits erahnen, was mit dessen Hilfe – denn der Mantel bildet, für den nun kommenden Flug über Madrid, die Flügel des Teufels – im Weiteren ans Licht kommt: ein schonungsloses, aber nicht nur negatives Sittenbild, nicht mehr nach Ländern unterschieden, sondern auf eine Stadt konzentriert. Unbesehen seiner verschiedenen Motive und Perspektiven und unabhängig von seinem jeweiligen Kolorit und seiner – noch zu beschreibenden – Komposition trägt das Bild (nicht einen Titel, sondern) einen Namen: Tableau.

Schon in der Widmung an Velez, in der Lesage offen seine Abhängigkeit bekennt, aber auch selbstbewusst auf den eigenen Anteil an seinem Werk hinweist, ist, sowohl in der Zueignung der ersten als auch in jener der zweiten Ausgabe, von ‘Bildern’ die Rede: „Eure bizarren Bilder und Eure außergewöhnlichen Einfälle“ betonen die Besonderheit des Textes, der in Spanien Bewunderung hervorgerufen habe, aus eben diesem Grund in Frankreich aber nicht erfolgreich habe sein können, denn der französische Geschmack ist auf Genauigkeit und Natürlichkeit gerichtet. Der Begriff ‘Bild’ dient offenbar zur Charakterisierung des Textes von Velez, während der eigene als „tableau des mœurs du siècle“, als „Sittengemälde des Zeitalters“ präsentiert wird, gegenüber der ersten Fassung verändert und erweitert, denn die Zeiten ändern sich, und der Stoff für ein Sittenbild ist unerschöpflich. Schon jetzt, am Anfang unserer Darstellung und noch bevor die Großstadtliteratur recht eigentlich begonnen hat, zeichnet sich ihre Besonderheit in Umrissen ab: Offenbar ist sie dem Wandel unterworfen wie ihr Gegenstand und verändert sich mit den Zeiten oder genauer: muss dieser Veränderung angepasst werden; da ferner die Verhaltensweisen der Menschen variieren und menschliche Torheit ohnehin unerschöpflich ist, bietet ein Sittenbild den Stoff für ausgedehnte Beschreibungen, die ganze Regale füllen können und noch immer nicht vollständig wären – kurz: Die Großstadt, als Vorlage für ein Sittenbild verstanden, sprengt jeden Rahmen und ist immer nur Ausschnitt aus einem darstellerisch nicht einholbaren, letzthin rein imaginären ‘Tableau’. Das Sittenbild, bloße Formel oder auch abgenutzte, als ‘Bild’ kaum mehr wahrnehmbare Metapher, erfährt indes durch die poetische Anlage des Romans von Lesage eine unvermutete, plastische Revitalisierung. ‘Bild’ bezeichnet fortan auch konkret den Blick auf Madrid, so wie er sich Asmodeus und Don Cleophas im Flug und bei den ‘Landungen’ darbietet. Der Turm von San Salvador bietet einen ersten Halt und, durch seine erhöhte Position, die Möglichkeit eines Überblicks. Da aber die Einblicke in die Häuser – man vergesse nicht: Lesage zeichnet nicht die Topographie der Stadt, sondern die Sitten ihrer Bewohner – durch Dächer und Mauern verstellt sind, werden diese durch den Teufel flugs entfernt, und schon blickt der Student „wie am hellen Mittag“ in das Innere der Wohnungen: „Der Anblick war ganz überraschend und fesselte ihn über die Maßen. Neugierig wanderten seine Augen umher und verweilten lange bei den bunten Szenen, die sich ihm darboten.“ Dieser „Wirrwarr von Dingen“, so meint der Teufel, gewähre zwar „einen ergötzlichen Anblick“, sei aber doch nur ein „nichtiges Vergnügen“ – und in der Tat ist schwer vorstellbar, dass die bloße Beschreibung dessen, was der Student erblickt, einen ganzen Roman ausmachen könnte, ohne dabei mehr als nur Langeweile zu verbreiten. Das Schauen allein erfasst die Bedeutung der Stadt noch nicht; vielmehr soll ein Nutzen entstehen, der Student das Leben kennen lernen. So will der Teufel „erklären, was alle die Menschen treiben“, möchte „die Beweggründe ihres Handelns enthüllen und Euch [sc. den Studenten, aber auch den Leser] in ihre verborgenen Gedanken eindringen lassen“. Von der Höhe des Kirchturms geht der Blick in die Tiefe, empfängt der Betrachter nicht nur optische Eindrücke, sondern gewinnt auch – tiefgehend in einem anderen Sinne – Einsichten. Die Öffnung der Häuser, indem Dächer und Mauern beiseite geräumt werden, legt die Handlungen, Gedanken und Motive der Menschen offen, dringt nicht nur in deren privaten Lebensraum ein, sondern auch in deren Seelen. Doch dazu bedarf es gleichsam übernatürlicher Kräfte; die Fiktion des allwissenden Erzählers wird auf den Teufel übertragen und gewinnt damit eine fantastische, ja geradezu magische Komponente: Entsteht daraus auch ein ‘realistisches’ Bild der Großstadt? Kaum; denn nicht anrührende, sondern erschreckende, nicht lebensnahe, sondern skurrile Szenen werden wie in einem Panorama entfaltet: Dabei sitzt der Student nicht selten dem Anschein auf, während der Teufel den verborgenen Kern der Szene enthüllt:

„Wenn mich die Augen nicht trügen“, sagte Zambullo, „sehe ich im gleichen Hause ein stattliches, bildschönes junges Mädchen. Ach, ist die reizend!“ – „O je“, erwiderte der Hinkende, „die jugendliche Schönheit, die Euch in die Augen sticht, ist die ältere Schwester des Stutzers, der schlafen geht. Man kann sie als das Gegenstück der alten Kokette ansehen, die bei ihr wohnt. Die von Euch bewunderte Taille ist eine höchst sinnreiche Maschinerie. Busen und Hüften sind künstlich. Unlängst, als sie zur Predigt ging, verlor sie vor versammelten Zuhörern ihr Hinterteil. Da sie sich aber auf jugendlich zurechtmacht, streiten sich zwei junge Kavaliere gleichzeitig um ihre Gunst. Sie gerieten ihretwegen einander bereits in die Haare. Die Verrückten! Sie kommen mir wie zwei Hunde vor, die sich um einen Knochen raufen.“

In der Nacht und in der Heimlichkeit eines tabubrechenden Blickes offenbart sich die verborgene Kehrseite einer dem Schein hingegebenen Welt. Das Moment der Täuschung, das durch diese Einblicke aufgehoben werden soll, zeigt eine Welt im Zeichen der Illusion, die nur durch eine schonungslose Satire als das erscheinen kann, was sie ist: bloßer Anschein, der nach Ent-Täuschung (desengaño) verlangt – eine verkehrte, gleichsam auf dem Kopf stehende Welt. Beobachtung und Reflexion als dem Menschen gegebene Mittel der Erkenntnis reichen nicht hin, den Schein zu entlarven; dazu bedarf es übernatürlicher, ‘teuflischer’ Mittel. So einleuchtend und, aus der Sicht der Erkenntnis und der Belehrung, so notwendig das Mittel der Sozialsatire sich ausnehmen mag, so wenig kann es einen ganzen Roman tragen und alimentieren. Die Abfolge einzelner ‘Bilder’ und Szenen, zuerst beschrieben, dann in offen legender, enthüllender Manier kommentiert, müsste, konsequent und ausschließlich ins Werk gesetzt, eine Monotonie hervorrufen, die dem ‘aufklärerisch’-kritischen Anspruch des Romans zuwiderliefe – einen Leser, der sich gelangweilt abwendet, kann man nicht belehren. Die Darstellung der Großstadt als einer Ansammlung von Typen und Szenen, deren Vielfalt sich nur in einem komplexen sozialen Raum konzentrieren kann, ist bei aller Differenziertheit dann doch zu mager, um einem Werk größeren Umfangs Interesse und Spannung zu verleihen. Es bedarf nicht nur einzelner additiver Szenen, so prägnant sie auch sein mögen – das weiß Lesage, der Dramatiker –, es bedarf auch der (möglichst ausgreifenden) Handlung romanesken Charakters –was läge näher, als diese aus jenen zu entwickeln?

Am Ende des dritten Kapitels, dessen Verlauf und Inhalt schon dargestellt wurden, beginnt die erste der zahlreichen und ausführlichen Erzählungen, die nicht eigentlich in die Schilderungen bloß eingestreut sind, sondern die den Figuren der Stadt ihre Geschichte verleihen. Das Bild von Madrid ist zwar einerseits und auf einer primären Darstellungs- und Erfahrungsebene Tableau eines Augenblicks; es ist aber anderseits auch Ausgangspunkt von Geschichten, mit denen die Figuren, über die gegebene Situation hinaus, an Tiefe gewinnen. Der Leser erfährt ihre Erlebnisse und gewinnt auf diese Weise Einblicke in Schicksale und Charaktere. So bietet die Großstadt nicht nur eine Serie von Bildern dar, sondern enthält auch einen Fundus von Geschichten. Deren Tiefe – im einen, deskriptiven wie auch im anderen, narrativen Sinn – wird allein durch den erhöhten Standpunkt: auf dem Kirchturm oder jedenfalls von oben, auf der Basis einer allwissenden Figur, gewonnen.

Das absichtsvoll zutreffende Sittenbild, das dem Leser und dessen ‘Bild’, dem Studenten Don Cleophas, Einsicht und Erkenntnis vermitteln, ihnen die Welt so zeigen will, wie sie ist, nämlich verkehrt: dieses ‘realistische’ Bild verdankt sich der Fiktion, bedarf der magischen Kräfte und des übernatürlichen Wissens. Eine Paradoxie mag man es auch nennen und damit den scheinbar einfachen Gleichlauf von der Entwicklung der Großstadt und der Geschichte ihrer Literatur in Zweifel ziehen. Es wäre müßig, schon jetzt und generell darüber zu streiten, ob die Literatur die Großstadt nicht abbilden kann oder nicht abbilden will; was im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft – nämlich dass sie es nicht tut –, ist für die Problemstellung jedoch nicht ohne Relevanz und lehrt zumindest so viel, dass die Relation von Literatur und Großstadt, von Poetik und Thematik eines Textes nicht einschichtig, einförmig und schon gar nicht einfach ist: Zwischen den Extremen einer Abbildung des Gegenstandes und seiner künstlerischen Neuschöpfung liegen sicher, theoretisch wie konkret, viele mögliche Stadien, und es gehört zum Reiz einer Literaturgeschichte der Großstadt, diese zahlreichen Möglichkeiten zu betrachten und ihre vielfältigen Realisierungen zu würdigen.

So als hätte der Text neben der Anhäufung von Einzelbildern durch die Erzählung längerer Geschichten die Chance einer Kombinatorik von Narration und Deskription allererst entdeckt, führt das achte Kapitel, „Asmodeus zeigt Don Cleophas viele Leute und enthüllt was sie den Tag über taten“, im Wechsel beides vor. „Bitte fangt mit dem Hauptmann dort an“, fordert der Student den Teufel auf, „der seine Stiefel anzieht; irgendeine wichtige Sache ruft ihn offenbar weit weg von hier.“ Und in der Folge erfährt man, warum der Hauptmann nach Katalonien reisen will. Das gesamte Kapitel besteht aus solchen Kurz-Geschichten, welche die Bilder erklären, jedoch gegenüber den satirischen Deutungen der Szenen zu Anfang erbaulich-aufbauenden und nicht destruktiven Charakter haben – auch dies gehört zu einem Sittenbild. Die bloß additive Abfolge – der Bilder, der Geschichten, der Kapitel – vermeidend, lässt der Erzähler das neunte Kapitel schon am Ende des achten beginnen, als nämlich, die Reden des Asmodeus übertönend, ein Lärm einsetzt, der vom benachbarten Irrenhaus herrührt: Dorthin führt nun der Teufel seinen Begleiter und bietet ihm wiederum keine bloße Abfolge von Bildern, sondern erklärt ihm, worüber die Insassen ihren Verstand verloren. Doch der satirische Impetus des Textes lässt sich auch bei diesem eher mitleiderregenden Gegenstand nicht lange unterdrücken: „Aber“, fuhr der Teufel fort, „nachdem ich Euch jetzt die eingesperrten Narren gezeigt habe, muss ich Euch noch die vor Augen führen, die man einsperren sollte.“ – Und darauf folgt das zehnte Kapitel, „Dessen Stoff unerschöpflich“: „‘Wohin ich auch blicke’, fuhr der Teufel fort, ‘entdecke ich lauter Geistesgestörte.’“

Die Enthüllung moralischer Abgründe im scheinbar Harmlos-Privaten, die Ausweitung des – man muss sagen: seiner Natur nach geschlossenen – Raumes einer Irrenanstalt auf den ‘normalen’ Lebensraum der Madrider Bürger, die Verbindung von bloßen Bildern mit den sie erklärenden Geschichten sind für den Roman von Lesage typische Kunstmittel, die gleichsam die Stadt mit einem poetischen Koordinatensystem versehen: Sie ist nicht nur Bildergalerie, sondern auch Aktionsraum, nicht nur Gegenstand der Beschreibung, sondern auch Objekt der Reflexion. Nicht selten führt der Weg aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder von einem Teil der Stadt in einen anderen. Könnte mit diesem Befund die Darstellung von Lesages Hinkendem Teufel schon ihrem Ende entgegengehen, so hätte eine solche Eile die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn gegen Schluss hält der Roman noch einige Überraschungen bereit, die indes wieder auf den Anfang zurückverweisen. Der Auflösung dieser Komplikationen sollen die abschließenden Darlegungen dienen.

Dem gescheiten, kritischen, etwas boshaften, jedenfalls aber allwissenden (freilich nicht allmächtigen) kleinen Teufel fiel die Aufgabe zu, dem zwar liebes-, jedoch nicht unbedingt lebenserfahrenen Studenten die Welt der menschlichen Gebräuche und Verhaltensweisen, der Charaktere und Schicksale, kurz die Welt der Sitten zu zeigen und zu erläutern. Das umfassende Wissen des Asmodeus macht hierbei indes nicht halt, und die Ansätze zur Innenschau werden gegen Ende des Romans noch vertieft. So zeigt das zwölfte Kapitel, „Gräber, Schatten und der Tod“, wiederum aus einer Kirchturmspitzen-Perspektive nicht nur die umliegend gelagerten Grabstätten, enthüllt der Teufel auch nicht nur die Lehren des Lebens und des Todes; vielmehr lässt des Asmodeus Zauberkraft den Studenten die Leichen sehen, die sich bewegen und handeln – ein schauerlicher Anblick, der indes nicht nur, nach Art der Totentänze, die Gleichheit der sozialen Schichten sub specie aeternitatis zeigt, sondern Don Cleophas auch den eigenen Tod buchstäblich vor Augen führt. Doch damit nicht genug, wird dieses Schauspiel noch dadurch überboten, dass Asmodeus dem jungen Mann auch den Tod im Bilde zeigt – also nicht nur Gräber und Tote, sondern auch Sterbende in der Hand des Sensenmannes: Wie um die schauerlichen Effekte auf ihren Höhepunkt zu treiben, erscheint nun der Tod in effigie:

„Blickt nach Sonnenaufgang; dort zeigt er sich Euch: eine riesige Schar Vögel von schlimmer Vorbedeutung fliegt ihm schreckenverbreitend voraus und verkündet sein Nahen mit Todesgekrächz. Seine unermüdliche Hand schwingt die schreckliche Sense, unter der Geschlechter und Geschlechter fallen. Sein einer Flügel ist mit Krieg, Pest, Hungersnot, Schiffbruch, Feuersbrunst und anderen todbringenden Unglücksfällen, die ihm stündlich neue Beute liefern, bemalt, auf dem anderen Flügel sieht man junge Ärzte im Beisein des Todes promovieren, der ihnen, nachdem sie geschworen, die Heilkunst nie anders als nach heutigem Brauch zu üben, selbst den Doktorhut aufsetzt.“

Obwohl der Student dem Anblick nicht recht traut und an der sich darbietenden Gestalt des Todes zweifelt, vermutet er doch: „Diese grausige Gestalt zieht gewiss nicht umsonst über Madrid ein und wird ihre Spuren zurücklassen.“ Die beiden „Schaugäste“ beginnen nun zu fliegen, folgen dem Tod und nehmen Einblick in sein Wissen: Das Tableau des Todes, zunächst optisch und weithin statisch, wird nun in Aktion versetzt und zeigt das Sterben in vielfachen, variablen Szenen, die sich auf der Bühne des Lebens, an deren Rand gleichsam, ereignen; dass die letzte Sterbeszene als „Schauspiel“ bezeichnet wird und damit die Dramatisierung des Tableaus ankündigt, leitet unmittelbar über zu einem weiteren handlungsbezogenen Darstellungsverfahren, der schon bekannten Erzählung, die das Bild erläutert. Hier zu verharren bedarf es nicht mehr, denn dadurch würde nur Bekanntes wiederholt.

Wie der Tod gleichsam an den Rändern des Sittenbildes positioniert, dabei aber von besonderer optischer und emotionaler Prägnanz ist, führt auch ein weiteres Kapitel vom Üblichen, Normalen und im Rahmen einer Sittenschilderung Erwartbaren weg: „Träume“. Außergewöhnlich ist dabei, dass Don Cleophas – sei es, dass er seine Passivität langsam überwindet, sei es auch, dass er mehr und mehr Interesse an den Bildern Madrids entwickelt – ausdrücklich die Träume der Menschen zu sehen wünscht; und da die Nacht (und damit auch der Roman) dem Ende entgegengeht, wird es Zeit. „Ihr liebt wechselnde Bilder [so sagt der Teufel]; Ihr sollt zufrieden sein.“ In der Folge entsteht jedoch keine Prosa von visionärem Charakter, sondern nur eine Beschreibung durchaus realistischer, wenngleich eben nicht realer Szenen, die sich vor dem inneren Auge der Schläfer abspielen: Die Träume tragen zwar nicht den Charakter des Wirklichen, wohl aber die Züge des Möglichen; es scheint, als habe Lesage hier die Chance vertan, sein realistisches Sittentableau ins Imaginäre auszudehnen. Auch die dem Text beigegebene Illustration zeigt nicht die Träume, sondern nur die Schlafenden und scheint auf dieselbe Weise wie der Text den Reiz des Themas zu verfehlen: darstellerisches Unvermögen im einen wie im anderen Falle? Wohl nicht ganz. Denn der Status der Träume und die Glaubwürdigkeit des Berichteten werden am Ende der Geschichte noch einmal in einer so kühnen wie schelmischen Konstruktion dem Urteil des Lesers anheim gegeben – am Schluss der Geschichte, als nun endlich der Autor das Wort ergreift.

„Einundzwanzigstes Kapitel: Was Don Cleophas nach der Trennung vom hinkenden Teufel tat, und wie zu endigen der Autor des vorliegenden Werkes für angebracht befunden“. Der hinkende Teufel, Roman einer Nacht, endet damit, dass Asmodeus der Macht des Zauberers gehorchen und zu ihm zurückkehren muss und dass Don Cleophas sich erschöpft zu Bett legt: „Auf die Dauer eines Tages und einer Nacht [sc. fiel er] in einen todähnlichen Schlaf.“ Nicht sicher, ob nicht seine nächtlichen Abenteuer ein Traum gewesen seien, findet er nach dem Aufwachen die Spuren jener Feuersbrunst, aus der Asmodeus, in der Nacht des Romans und während des Romans der Nacht, ein junges Mädchen befreit hatte. Don Cleophas aber gilt nun als ihr Retter und soll sie zur Frau erhalten, ganz wie es Asmodeus, als letzte Tat in Freiheit, noch gerichtet hatte. Doch der Student, naiv oder nur ehrlich, bekennt dem Vater, den eigenen Abenteuern nun offenbar glaubend, dass nicht er, sondern der Teufel die kühne Tat vollbracht habe. Der Vater des Mädchens erbittet Aufklärung und hört nun von Don Cleophas jene Geschichte, die der Leser soeben verfolgt hatte – am Ende wird der Roman einer Nacht im Licht des Tages und vor neutralen Augen noch einmal erzählt. Doch statt, wie zu erwarten wäre, durch seine abenteuerliche Erzählung jegliche Glaubwürdigkeit einzubüßen, erscheint der Student dem Vater nun erst recht als der Richtige, um das Glück der Tochter auszumachen, was nicht weniger bedeutet, als dass die Geschichte Glauben findet: ein letztes Augenzwinkern der Fiktion, verantwortet nun vom Autor, der mit dieser Hoffnung, der Leser möge ihm glauben, sein Werk beschließt.

Kleine Literaturgeschichte der Großstadt

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