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2. Hugo: Notre-Dame de Paris – Roman eines Wortes
ОглавлениеLesage schrieb, so viel sollte aus dem vorangehenden Kapitel hervorgehen, den Roman einer Nacht, deren Eröffnungen ein grelles Licht warfen auf die Sitten der Städte – nicht nur der einen Stadt Madrid. So wie sich bei Lesage der Text auf einen begrenzten Zeitraum konzentrierte und von erhöhten Standpunkten aus nicht nur topographisch Umgrenztes, sondern auch Menschlich-Allgemeines (freilich in enger Bindung an die Großstadt, den moralischen Mikrokosmos) zutage förderte, so ist auch Victor Hugos Roman Der Glöckner von Notre-Dame einer Zentralperspektive verpflichtet, in der eine Kirche, genauer: die Kirche von Paris, das Geschehen wie in einem Brennspiegel zusammenfasst und es ins Symbolische überhöht. Hatte Lesage durch seine Quellen Vergangenes evoziert und im Sittentableau die alte Tradition der Stadtsatire wiederbelebt, richtet Hugos Roman, 1831, also mehr als ein Jahrhundert später entstanden als Der hinkende Teufel, mitten in der Ära der klassischen Moderne den Blick zurück in eine ferne Vergangenheit: in das späte Mittelalter, genauer ins Jahr 1482, dessen Bezeichnung im Untertitel die deutsche Übersetzung (warum? Es wäre nicht einmal zu ‘übersetzen’!) eliminierte. Der Roman einer Kirche erzählt die Geschehnisse eines Jahres, und es ist der Konsequenz seines Autors zuzuschreiben, dass er auch aus einem Wort entstand: „Ananke“, Schicksal. Hugo, der in der Vorrede die Genese seines Romans aus jenem von ihm nicht übersetzten Wort beschreibt, belässt diesem seine Fremdheit und bereitet damit ein Befremden vor, das bald auch, angesichts der blutigen und hoch dramatischen Handlung, den Leser ergreift. Der Verfasser, der sich im Vorwort nicht in der ersten, sondern in der dritten Person singularis („der Autor“) äußert, konzentriert die Handlung in der und um die Kirche Notre-Dame, wobei die Ereignisse, dramatisch zugespitzt, als exemplarisch für eine Entwicklung erscheinen, die Altes auslöscht und mit dem Tod der Kathedralen die Vergangenheit zum Verschwinden bringt. So verschwand auch die Inschrift ‘Ananke’, die eine „gepeinigte Seele“ hinterließ. Notre-Dame de Paris (der Leser mag es mir nachsehen, dass ich, der deutschen Übersetzung und dem Filmtitel zum Trotz, am Originaltitel festhalte) ist ein Roman gegen das Vergessen, gegen die Auslöschung der Vergangenheit im Zeichen der Moderne und im Namen eines Fortschritts, der respekt- und geschichtslos Altes vernichtet und damit gesichtslos wird. In einem kontradiktorischen Gestus gegenüber dem Wandel der Zeiten wird die Literatur zu einem Medium des Bewahrens und ist selbst ein „Denkmal“ von einer dem Kirchenraum ähnlichen Symbolkraft. Aus dem einen Wort ‘Ananke’ entsteht ein Monument aus Sprache:
Der Mann, der das Wort in die Mauer schrieb, ist vor Jahrhunderten dahingegangen; nun ist auch das Wort an der Mauer der Kirche gelöscht, und die Kirche selbst wird bald vom Erdboden verschwinden. Aus diesem Wort aber ist dieses Buch entstanden.
Konzentriert auf eine Kirche, ausgerichtet auf die Geschehnisse eines Jahres, entstanden aus einem Wort: So ergibt sich die Einheit des Buches. Das Ende einer Inschrift, das Verklingen eines Wortes ist zugleich der Anfang eines Textes, der indes dem Gestaltungsprinzip der Einheit, so wie es im Vorwort und im Titel suggeriert wird, sehr bald schon nicht mehr zu folgen vermag. Bereits zu Anfang nämlich – mit der Genauigkeit „[heute] vor dreihundertachtundvierzig Jahren, sechs Monaten und neunzehn Tagen“ – wird entgegen der Erwartung des Rezipienten, nun einen historischen Roman in der Art des auch in Frankreich seinerzeit berühmten Walter Scott zu lesen, das Vergangene im Licht der Gegenwart perspektiviert: Koinzidenz (oder: Kollision?) zwischen 1482 und 1831 oder: 2003 …? Der Text-Gestus des Anfangs rückt die Zeitpunkte auf den Tag genau in unmittelbare Nähe: Beginnt so ein historischer Roman? Das Prinzip der Einheit wird sogleich erneut gebrochen, indem alle Pariser Glocken (und nicht nur jene von Notre-Dame) läuten, um das Fest der Heiligen Drei Könige und gleichzeitig die Wahl des Narrenpapstes anzukündigen. Doch bevor der Leser dies erfährt, wird ihm in einer Serie von Negationen, die sämtlich darlegen, welches Ereignis nicht stattfindet, ein poetisches Prinzip dieses Romans des Singulären vor Augen geführt: das Prinzip der Fülle. Es bezeichnet die Nahtstelle zwischen einer längst vergangenen und einer noch gegenwärtigen Zeit, denn die Vermassung der Moderne wird auf das Mittelalter projiziert, dessen Geräusche und Gewimmel in ferner Vergangenheit ein Gesetz der modernen Großstadt evozieren:
Der Platz vor dem Palast mit dem sich drängenden Volke bot den Neugierigen an den Fenstern den Anblick eines Meeres, in das fünf oder sechs Straßen gleich ebenso vielen Flussmündungen jeden Augenblick neue Fluten von Köpfen ergossen. Die Wogen der Menge, die sich beständig vergrößerten, brachen sich an den Häuserecken, die sich hier und dort wie Vorgebirge in das unregelmäßige Becken des Platzes vorschoben. Die große Treppe in der Mitte der hohen gotischen Fassade des [sc. Justiz-] Palastes, auf der ein doppelter Strom unermüdlich hinauf und hinunter zog und, nachdem er am Treppenabsatz gebrandet, sich in großen Wogen über ihre beiden seitlichen Abhänge ergoß, die große Treppe, sage ich, rieselte unaufhörlich in den Platz hinunter, gleich einem Wasserfall in einen See.
Die Fülle wird nicht mit den Mitteln städtischer Größe, nicht nach Maßgabe einer kulturell geprägten Metaphorik, sondern im Rückgriff auf die Natur geschildert, deren Gewalt die Massenaufläufe in der Stadt wohl allemal übertrifft. Obschon es scheinen könnte, als verwende der Erzähler eine vertraute, wenn nicht schon abgedroschene Metaphorik (das ‘Wogen’ der Menge), erreicht diese doch eine neue Prägnanz: die „Fluten von Köpfen“, die ‘rieselnde’ Treppe gewinnen einer gewohnten Sprechweise neue Qualitäten ab. Diese Fülle ist so zugleich etwas, das der Stadt (an diesem Feiertag, an dem das Dreikönigsfest begangen wird) inhärent ist und sie gleichwohl transzendiert. Das scheinbar nur beiläufig eingestreute „sage ich“ erweist aber schon jetzt, am Beginn des Romans, den Text als etwas, das von einer Sprecher-Figur nicht nur gesteuert, sondern auch initiiert ist. Wie der Roman auf der Ebene des Anekdotischen seinen Ursprung in einem fremden Wort fand, Ananke, so verdankt er die Dynamik seines Verlaufs der Rede des Dichters; dass er zudem einen Dichter, Pierre Gringoire, zu seinen Hauptfiguren zählt, dass er auch nicht selten fremde Rede, dichterische zumeist, zitiert und darüber hinaus mit fremdsprachigen Zitaten, Gelehrsamkeit signalisierend, durchsetzt ist – all das unterstreicht den genuin sprachlichen Charakter des Textes, der immer auch die eigene Rede, den eigenen Diskurs reflektiert.
Sogar der Name Paris wird, mit Du Breul als Gewährsmann, gleich in doppeltem Sinne sprachlich gedeutet: „Ich bin“, so wird Du Breul zitiert, „Pariser von Geburt und Parrhisier von Sprache, denn parrhisia meinet auf griechisch Freiheit der Sprache, deren ich mich allzeit bedienet habe […].“ Das könnte als Motto auch für Victor Hugo gelten, der nicht nur in dichterischer Freiheit spricht, sondern auch der Sprache alle Freiheit gibt, die sie braucht, um sich eines so gigantischen Gegenstandes wie der Großstadt zu bemächtigen. Diese Freiheit, zur Fülle führend, kennzeichnet nicht nur den Text des Romans, sondern auch, wie sein Spiegelbild, die Moralität, die Pierre Gringoire aus Anlass des Festes dichtete:
Gringoire schwelgte darin, zu hören, zu sehen, zu fühlen, wie der unendliche Wortschwall, der unaufhörlich aus allen Teilen seiner hochzeitlichen Dichtung hervorsprudelte, eine ganze große Versammlung – von Gesindel freilich, aber was kümmerte das ihn – betäubte, lähmte und versteinerte.
Der „Wortschwall“, dem Wogen der Menge analog, auf ihr Rufen und Geschrei als Fülle der gesprochenen Worte antwortend, scheint das der Großstadt adäquate Darstellungsmedium zu sein, und nur zögerlich treten aus dem Menschengewimmel die Figuren des Romans hervor: Gringoire, der Dichter, Dom Frollo, der Erzdechant von Notre-Dame, Quasimodo, der Glöckner und Titelträger der deutschen Übersetzung, der in einem mit seinem Namen betitelten Kapitel eingeführt und sogleich zum Narrenpapst gekrönt wird, einer Figur, deren Wahl das größte Geschick im Schneiden grotesker Fratzen belohnt. An die Vorstellungskraft des Lesers appellierend („stellt euch jeden möglichen menschlichen Gesichtsausdruck vom Zorn bis zu Wollust vor, jedes Alter von den Runzeln des Neugeborenen bis zu den Runzeln einer sterbenden Greisin, alle religiösen Wahngebilde vom Faun bis zum Beelzebub“), verfolgt der Erzähler das Spektakel, bis schließlich, nach den vergeblichen Versuchen der Mitbewerber, die „erhabene Fratze“ des Quasimodo den Sieg davonträgt. Die schon bekannte Fülle als Darstellungsprinzip des Textes, hier ins Groteske ausgeweitet, bestimmt auch die Schilderung des Siegers; doch welche Fratze führt er vor!
Wir wollen nicht versuchen, dem Leser eine Vorstellung von der siegreichen Fratze zu geben, von ihrer vierflächigen Nase, ihrem hufeisenförmigen Mund, ihrem kleinen, linken Auge, das halb unter einem Gestrüpp fuchsroter Augenbrauen verschwand, während ihr rechtes Auge ganz von einer ungeheuren Warze bedeckt war, ihren schiefen Zähnen, zwischen denen Lücken klafften, ihrer schwieligen Lippe, die einer der Zähne wie ein Hauer überragte […].
„Die Fratze war sein wirkliches Gesicht.“ Wie sich in der Kathedrale Paris gleichsam konzentriert, ist auch die Fratze Quasimodos, in der kaum vorstellbaren Übersteigerung des Wirklichen ins Groteske, das Konzentrat einer Erscheinung, die, den ganzen Körper betreffend, den Menschen in ein Ungeheuer verwandelt hat. Der total verwachsene Quasimodo „sah aus wie ein zerbrochener Riese, den eine ungeschickte Hand schlecht wieder zusammengelötet hat“. Gleichsam das inkarnierte Groteske, Kunstfigur, die für ein Kunstprinzip steht, stellt Quasimodo durch seine Erscheinung (nicht durch seinen Charakter, der in denkbar großer Differenz zu seinem Aussehen steht) die Verbindung zur Pariser Unterwelt dar, die, nicht minder grotesk, aber dem Bösen verschrieben, im Roman ihr Unwesen treibt.
Das Erhabene der Kathedrale, von welcher Quasimodo als ihr Glöckner, vom Getöse der Glocken taub geworden, ein Teil ist, findet seinen niederen Gegenpart in der Welt der Bettler und des Gesindels, dem auch die weibliche Hauptfigur, die Zigeunerin Esmeralda, zugehört, von dem sie sich aber durch ihre Schönheit, ihre Tanz- und Gesangskunst positiv abhebt. Notre-Dame de Paris ist nicht nur, mit ‘hohen’ ebenso wie mit ‘niederen’ Themen, der Roman der Fülle – er ist auch der Roman der Gegensätze, vermittelt im Mikrokosmos der Stadt, in der sich, der Gattung ‘Roman’ scheinbar entgegengerichtet, ein Drama von solchen Ausmaßen ereignet, dass allein die Größe und Majestät der Kathedrale ihm ein Bild sein kann. Notre-Dame ist, anders als das Geschehen, nicht zeitlich gebunden; das alte Paris, in dem die Handlung 1482 spielt, ist zugleich das neue des Jahres 1831, und für die Kontinuität der Geschichte steht, symbolisch dem Mittelalter zugeordnet, diesem zugleich aber entwachsen, die Kathedrale Notre-Dame de Paris. Nachdem das Drama begonnen hat, die Handlung eröffnet ist, widmet der Erzähler das gesamte dritte Buch der Kirche, und erst jetzt wird sie in den Roman eingeführt, bildet mit ihrem Namen den Titel eines Kapitels. Diesem Retardierungsmoment folgend, soll auch in unserer Darstellung von der Kirche erst später die Rede sein, denn noch sind nicht alle Figuren des Romans eingeführt.
Dom Claude Frollo, der Dompropst von Notre-Dame, „war wirklich kein ganz gewöhnlicher Mensch“ – das hatte man, mit dem bunten Spektrum der kuriosesten Figuren schon vertraut, auch nicht erwartet. Unter den übrigen Personen des Romans – der grazilen Zigeunerin Esmeralda, dem eitlen, sensiblen, in Armut lebenden Dichter Gringoire, dem ungestalten, kaum noch einem Menschen gleichenden Quasimodo sowie einer Fülle weiterer, ebenfalls skurriler Figuren – ist Claude Frollo gleichwohl etwas Besonderes, das sich sogar vor diesem alles andere als gewöhnlichen Panoptikum abhebt. Ein eifriger Schüler und Student, „war er zwischen Messbuch und Wörterbuch groß geworden“, beherrscht, wie nur wenige damals, die drei klassischen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, studierte Theologie, aber auch die Medizin und die freien Künste: „Er war von einem wahren Fieber des Lernens besessen, wollte sich das ganze Gebiet der Wissenschaft aneignen und alle ihre Schätze in sich anhäufen.“ Als ihm durch den Tod seiner Eltern die Fürsorge für den kleinen Bruder Jean anvertraut ist, entdeckt dieser Buchgelehrte sein Herz und nimmt auch, als er, nach seiner Predigt am Sonntag Quasimodo, ein Findelkind vor der Kirche entdeckt, dieses in seine Obhut; er nennt es nach dem Tag, an dem er es fand, Quasimodo, und der Name des Kindes ist sprechend: „Der einäugige, bucklige, krummbeinige Quasimodo war wirklich nur ein ‘Quasi’.“
Nachdem nun, nach Pierre Gringoire und Esmeralda, wieder zwei Personen des Romans zusammengeführt sind, nimmt die Handlung ihren romanesken Lauf – romanesk deshalb, weil sie dem Ungeheuerlichen, dem Grausamen und Schrecklichen – dem für die neuere Zeit dann doch nicht ‘Realistischen’ – verhaftet ist, jener Dimension, die eingangs mit dem Wort Ananke bezeichnet worden war: Der Schicksalsbegriff steht, die Handlung prägend, wie ein Fatum über diesem Geschehen, das so blind ist für die Leiden der Menschen, dass sie allein im Buch der Kathedrale jenen Raum finden, der sublimiert, was ihnen zustößt. Hatte eingangs eine leidende Seele (man erfährt später, dass es Dom Frollo war) das bedeutungsschwere Wort ‘Ananke’ in die Mauer geritzt, findet man am Ende in der Gruft unter dem Galgen von Montfaucon zwei Gerippe: Das eine, ein männliches, hält das andere, ein weibliches, fest umschlungen: „Es musste das Gerippe eines Mannes sein, der den Keller lebend betreten hatte und dort gestorben war. Als man versuchte, ihn von dem Gerippe loszulösen, das er umarmt hielt, da zerfiel er in Staub.“
Vom Ende her die Handlung zu skizzieren mag ungewöhnlich anmuten, ist aber einem Roman, der in sehr gemächlichem Duktus beginnt, nicht unangemessen. Die beiden breit ausladenden Tableaus des Anfangs, als das Dreikönigsfest und die Wahl des Narrenpapstes dargestellt werden, waren eher geeignet, einige der Figuren einzuführen und die Poetik des Romans, der im Mittelalter moderne Massenszenen aufbietet, zu beleuchten: die Szenen des Anfangs waren autotelisch, wurden eher zur Charakterisierung des Textes aufgeboten, als dass sie den Fortgang der Handlung eingeleitet hätten. Diese ist von melodramatischer Art und insofern der ideale Stoff für eine Hollywood-Verfilmung, die jedoch, dem Medium gemäß, auf die poetologische und ideengeschichtliche Ausrichtung des Romans verzichten muss. Wie die Kirche im Zentrum der Stadt, so steht Esmeralda im Mittelpunkt der Handlung. Sie hatte den Dichter Gringoire vor dem Tod gerettet, Quasimodo auf dem Pranger den Durst gelöscht. Alle sind von ihr fasziniert, sogar Dom Frollo, der sich heftig in sie verliebt, sie aber, als sie ihn abweist, an die Inquisition verrät. Das topographische und das ideelle Zentrum des Textes, die Kathedrale und die Zigeunerin, werden zusammengeführt, indem Esmeralda in Notre-Dame Schutz genießt. Als durch ein Parlamentsurteil, das Frollo herbeigeführt hatte, Esmeraldas Asyl aufgehoben wird, will die Bande von Dieben und Bettlern, der schon vorher Gringoire in die Hände gefallen war, die Zigeunerin befreien, scheitert aber bei diesem Versuch. Esmeralda wird, nach einigen Retardierungen in der Handlung, schließlich doch als Hexe gehängt, Dom Frollo, der an ihrem Schicksal Schuldige, durch Quasimodo vom Turm der Kathedrale in die Tiefe gestürzt. Quasimodo ist danach verschwunden, und erst etwa zwei Jahre später wird sein Leichnam gefunden: In der Gruft, die sich unter dem Galgen von Montfaucon befindet und welche die Leichen der Gehängten aufnimmt, hält ein Gerippe ein anderes umschlossen, und nach den Beschreibungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei diesen beiden Gerippen um die Überreste von Esmeralda und Quasimodo handelt – gesagt wird es nicht, aber mit Gewissheit suggeriert. „Die Hochzeit des Quasimodo“ ist das letzte Kapitel betitelt – eine schauerliche Vereinigung im Tode, erneut die Verbindung des Erhabenen mit dem Grotesken aufrufend, die den Kern und den Grund bildet für Notre-Dame de Paris.
Das letzte Wort des Romans, „Staub“, evoziert nicht nur die Vergänglichkeit, die an den beiden Figuren Esmeralda und Quasimodo, in einer Totenhochzeit vereint, zur Anschauung kommt; es verdeutlicht auch die Gefahren, denen ausgesetzt ist, was in der Geschichte Menschenwerk war. Notre-Dame de Paris, der Roman – thematologisch – der Massenaufläufe, der Roman – poetologisch – der Fülle, bietet mit einer weit ausgreifenden, das Romaneske tangierenden Imaginationskraft das Bild einer verschwundenen, gleichsam ihrerseits zu Staub zerfallenen Epoche auf, aus der, gefährdet zwar, aber noch nicht zerstört, die Kirche wie ein Mahnmal hervorragt: ein historischer Roman, der im Text zu bewahren sucht, was den Spuren der Zeit zum Opfer fiel. Ein historischer Roman? Die Frage sei erneut aufgeworfen unter Hinweis auf das ausgiebige Quellenstudium, das Hugo für seinen Roman betrieb: Der Roman der Kathedrale ist ein Buch aus Büchern, der Autor jenen Figuren mutatis mutandis offenbar nicht unähnlich, die im Text den Texten verschrieben sind: dem erfolglosen, gleichwohl (oder deshalb?) ehrsüchtigen Dichter Gringoire, dem fürchterlichen Dom Frollo (deshalb: mutatis mutandis). Die Kirche, Denkmal einer Zeit, die sich in der Architektur verwirklichte und bewahrte, wird zum Mittelpunkt einer Handlung, der sie immer wieder Zuflucht bietet und für die sie eine symbolisierende Überhöhung vollzieht; durch die Kirche, einen (für Paris: den) sakralen Ort, wird das Geschehen nobilitiert.
Doch Notre-Dame ist auch und noch heute das Zentrum einer Stadt, von der zweifelhaft ist, ob sie sich in diesem Bauwerk bruchlos wiedererkennt. Wenn durch die Frage nach dem historischen Roman Zweifel an dieser Gattungszuordnung laut wurden, sind dafür jene Kapitel verantwortlich, in denen der Erzähler mit dem Autor eine Personalunion bildet und in diese Doppelrolle auch den Leser als Dritten im Bunde mit einbezieht. Kaum hatte mit der Beschreibung des doppelten Festes, die zwei Bücher in Anspruch nahm, die ausführliche Exposition des Romans eingesetzt, ist das dritte Buch mit seinen beiden Kapiteln „Notre-Dame“ und „Paris aus der Vogelschau“ ganz der Kirche gewidmet, indem sie zuerst beschrieben, sodann als Standort für einen Blick über Paris verwendet wird.
Mit Beginn des dritten Buches wird die Kirche Notre-Dame de Paris selbst zum Gegenstand der Darstellung, das heißt genauer: zum Gegenstand der Beschreibung – aus einer Perspektive, die wie am Anfang das Alte mit dem Neuen verknüpft. Hier spricht nicht mehr allein der Erzähler, sondern wohl auch, mit einem konservativen, der eigenen Zeit skeptisch begegnenden kulturkritischen Impetus, der Autor: „Am Angesicht dieser alten Königin unserer Dome wird man neben einer Runzel immer eine Wunde finden. Tempus edax, homo edacior. Diese Worte möchte ich gern also übersetzen: die Zeit ist blind, der Mensch ist dumm.“ Das ist gut gesagt, aber falsch übersetzt, müsste es doch heißen: ‘Die Zeit ist gefräßig, der Mensch gefräßiger’, und tatsächlich führt Hugo im Weiteren aus, welche furchtbaren Zerstörungen, mit jenen der Zeit gar nicht zu vergleichen, der Mensch an dieser Kirche anrichtete. Dabei zeigt sich ein Kunstprinzip, das für den Roman insgesamt, besonders aber für jene Passagen wirksam wird, die der Beschreibung von Kirche und Stadt gewidmet sind und die das gesamte dritte Buch ausmachen: das Imaginäre. Real und konkret gesehen, hatte sich die Zeit – zu jenem Zeitpunkt, da der Text entsteht – schon gefräßig gezeigt, der Mensch indes noch gefräßiger. Doch ungeachtet dieses Zerstörungswerkes ist die Kathedrale im Text konserviert, was nichts anderes bedeutet als die Bewahrung ihres originalen Bildes in der Vorstellung, deren Ort nicht nur der mentale Innenraum der Imagination, sondern auch der Text des Buches ist:
Eine der herrlichsten Ruhmestaten der Baukunst ist doch gewiß diese Fassade mit den drei Spitzbogenportalen, mit dem reichgezackten Gesims der achtundvierzig Königsnischen, mit der ungeheuren Rosette, der die beiden Fenster zu Seiten stehen wie die Dechanten dem Priester, mit dem hohen Bogengang, der auf seinen schlanken Säulen eine schwere Plattform trägt, und den beiden schwarzen massigen Türmen mit ihrem Fensterschutz aus Schiefer. Alle Teile verschmelzen harmonisch zum prächtigen Ganzen, dessen fünf gigantische Stockwerke sich dem Auge auf einmal darbieten und sich doch stufenweise vor ihm entfalten, überwältigend durch ihre zahllosen Einzelheiten […] und doch nicht verwirrend, weil alles durch die ruhige Größe des Ganzen mächtig zusammengefasst wird. Eine ungeheure steinerne Symphonie ist diese Fassade, das Riesenwerk eines Mannes und eines Volkes, einheitlich und doch zusammengesetzt, wie die Iliaden und Romanzen, deren Schwester sie ist […]. (Hbg. A. C.-H.)
Die Kathedrale als gleichsam steinernes Buch ist in der beschriebenen Weise, mit einer steinernen Symphonie verglichen, nicht mehr in der Wirklichkeit anzutreffen, sondern wurde von Zerstörungen heimgesucht, die im weiteren Verlauf der Beschreibung minutiös aufgeführt werden, als sollte Zug um Zug das fatale Wirken der Zeit und der Menschen festgehalten, ja geradezu dokumentiert werden. Man glaubt, eher einem Archäologen oder einem Konservator zuzuhören als einem Dichter, und Befremden stellt sich ein: Hat Victor Hugo über seinen ausgiebigen Quellenstudien bei Du Breul, Sauval und anderen den eigenen Antrieb verloren, seine Geschichte vergessen, seine Schreibweise (um nicht zu sagen: seinen Tonfall) aufgegeben? Die Häufung der Fragen suggeriert schon die Antwort: mitnichten, denn die Exaktheit der Beschreibung konfrontiert das Alte, nur noch Vorstellbare, mit dem Neuen, das sich dem erschrockenen Auge als Bild der Zerstörung darbietet. Nun ist zwar eine Destruktion beklagenswert, nicht unbedingt aber ein adäquater Gegenstand für einen poetischen Text. Was führt dazu, dass gerade bei Notre-Dame die Veränderungen durch die Zeit solche, offenbar der poetischen Rede würdigen Dimensionen annimmt? Bauwerke einer Übergangszeit wie die Kathedrale Notre-Dame
beweisen, dass ihre [sc. der Baukunst] großen Werke weniger individuelle als soziale Schöpfungen sind, von arbeitenden Völkern geboren, nicht von genialen Männern erdacht, ein Niederschlag von Nationen, eine von Jahrhunderten angehäufte Masse, der Rückstand einer langen Reihe verdunstender Geschlechter, kurz eine Art Naturerzeugnis.
Nicht weniger wird hier versucht, als die Unterscheidung von Natur und Geschichte zu versöhnen. Die Fülle des Textes, eingangs an den Massenszenen aufgezeigt, die weniger an eine Stadt des Mittelalters als an eine moderne Großstadt denken ließen, findet in der Zeitentiefe der Kirche ihre konzeptionelle, dabei gleichwohl anschauliche Begründung. Wer solche Bauwerke, und sei es nur teilweise, zerstört, vergeht sich an Traditionen, vor deren Würde die Gegensätzlichkeit von Natur und Geschichte vergeht. Der Respekt vor ihnen ist zugleich die Achtung vor der eigenen Genealogie, einer Entwicklung, die in die Tiefe der Zeiten zurückreicht – bis hin nach Babel, dem „großen Sinnbild der Baukunst“, wie Victor Hugo schreibt, aber auch dem Symbol für die Aufsplitterung der einen menschlichen Sprache in eine Vielzahl von Idiomen. Wenn Notre-Dame, wie schon zuvor bemerkt, das Symbol der Romanhandlung ist, der zentrale Ort, an dem alle Fäden der Handlung zusammenlaufen, so stellt sich nun, im Übergang zum folgenden Kapitel, „Paris aus der Vogelschau“, heraus, dass die Kathedrale auch das Sinnbild der Stadt ist, Konzentrat eines Schicksals, das sich in der Geschichte von Paris widerspiegelt und wiederholt.
Der Anblick von Paris, „wie er sich damals [!] von der Höhe ihrer Türme dem Auge darbot“, ist „ihre größte Schönheit“. Ihm gilt, in einem der längsten Kapitel des Romans, die scheinbar detailverliebte, in Wirklichkeit aber nostalgisch-melancholische Aufmerksamkeit Victor Hugos, die im Text zu bewahren sucht, was in der Realität längst verschwand. Man sieht: Dieses Kapitel ist nicht minder dem Imaginären verschrieben als die Darstellung der Kirche, und es wäre dem Reiz des Textes wenig zuträglich, wollte man ihn, der doch ein Gesamtbild zu entwerfen trachtet, in der literaturwissenschaftlichen Textanalyse zerlegen. Die Stadt, von den Türmen der Kirche aus ‘gesehen’ (in Wahrheit: imaginiert), ersteht in ihrer ganzen Fülle und Pracht neu, immer mit dem impliziten Vorwurf versehen, dass das neue Paris dem alten nicht adäquat, die Geschichte der Stadt nicht nur eine Verfallsgeschichte ist (das wäre ‘natürlich’), sondern vor allem eine Geschichte der Zerstörungen durch Menschenhand. Dabei bietet Hugo nicht nur ein Panorama von gigantischen Dimensionen dar, denn: „Das Paris vor dreihundertfünfzig Jahren, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts war schon eine Riesenstadt“, sondern vermittelt zudem die Vorstellung eines lebendigen Wesens, das sich entwickelt, seine Grenzen überwuchert, mit einem Bienenstock, dem Meer oder, auf die Ile de la Cité bezogen, mit einer „riesigen Schildkröte“ verglichen wird. Zugleich Lebewesen und steinerne Chronik, der Natur und dem Buch verwandt, gewinnt das alte Paris Dimensionen zwischen dem imaginären und dem realen Bild, die schließlich den Bereich des Sichtbaren transzendieren. Diese Stadt hat ihren Ort nicht nur nicht mehr in der Wirklichkeit, sie kann ihn dort, der Realität entwachsen, auch nicht mehr, nie mehr finden. Der Versuch, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts in Gedanken wieder zu errichten, Versuch, den der Leser auf Geheiß des Autors unternehmen soll, führt denn auch letztlich über architektonische und topographische Gegebenheiten hinaus und schließt die Natur in die Stadt mit ein:
Denkt euch die Stadt im Winter, wenn der Nebel an den zahllosen Schornsteinen hängt: denkt sie euch in dunkler Nacht, wenn Licht und Finsternis im Irrgarten der Straßen ein seltsames Spiel miteinander treiben; denkt sie euch vom Monde beschienen, verschwommen im bleichen Dunst, aus dem nur die Türme klar ihr Haupt erheben; denkt sie euch als schwarze Silhouette gegen glühendes Abendrot – und dann vergleichet!
Das neue Paris wird zum ‘Negativ’ des alten, die Zeit, der das Buch entstammt, zur Kontrastfolie für das Paris des späten Mittelalters. Die Gegenwart des Schreibens steht im Zeichen des Verlusts und kann nur Altes evozieren, um es im Medium der Vorstellung, deren eigentlicher Ort nun der Text ist, zu bewahren. Wie aber verbindet Hugo die Stadt mit dem Text? Dieser letzten Frage, die wir an Notre-Dame de Paris richten, gelten die abschließenden Überlegungen dieses Kapitels. Am Ende des ausgreifenden Panoramas, das Hugo in „Paris aus der Vogelschau“ entwirft, steht nicht das Gesamtbild, sondern der Zusammenklang, die symphonische Harmonie der Glocken, die am Morgen eines Festtages (zum Beispiel jenes, mit dem der Roman beginnt) erklingen. Die Beschreibung von Klängen, zum Schwierigsten gehörend, was die Literatur darstellen kann, umfasst bei Hugo einen langen Abschnitt, der die zahlreichen Bilder des Kapitels in einer Symphonie aufgehen lässt:
Sagt, ob ihr auf Erden etwas Köstlicheres, Freudigeres wisst als diesen Aufruhr von Klängen und Tönen, als diese Glut von Wohlklang, als diese zehntausend erzenen Stimmen, die in steinernen Flöten von dreihundert Fuß Höhe alle auf einmal ertönen, als diese Stadt, die in ein Orchester verwandelt ist, als diese Symphonie, die mit der Macht eines Sturmes erbraust!
Die Klänge sind verhallt, die Kirche ist entstellt, die Stadt verändert: Und doch blieben alle erhalten, in Form der Sprache und im Medium des Buches. Ein letzter Schritt der Darstellung soll zeigen, dass mit dem großen Paris-Roman, dem Roman einer Kathedrale, nicht nur ein Werk poetisch hochrangiger Literatur, sondern auch ein singuläres Dokument und Denkmal einer zerronnenen geschichtlichen Epoche entstand. Der Roman über die Kathedrale behandelt nicht allein, in wie gesehen durchaus romanesker, das Drama tangierender Weise, das Schicksal von Personen, er verbindet auch nicht bloß das auf ihnen lastende Fatum, die Ananke, mit der Symbolkraft einer Kirche. War die Kathedrale früher, im Zeitalter der Architektur, ein steinernes Buch, eine Chronik aus Stein, so hat sie diese Bedeutung mit dem Aufkommen des Buchdrucks verloren. Der kollektiven Geschichte der Menschheit, die sich in der Architektur artikulierte, steht nun die individuelle Stimme des Buches entgegen, und es ist der durch Bücher gelehrte Claude Frollo, der mit dem prophetischen Satz: „Wehe! Dieses wird jenes töten“ (nämlich: das Buch die Kirche), eine erst noch kommende Zeit voraussagt. Doch im Zeichen des Verlusts eröffnet sich eine neue Chance. War die historisch authentische Dichterfigur des Romans, Pierre Gringoire, das Bild des poeta pauper, der zu Anfang mit seiner Moralität gegen den Prunk des Dreikönigsfestes nicht ankam, so ist das dem Anspruch nach ebenfalls authentische Bild des neuen Dichters von höherer Würde. Indem er den Satz Frollos: „Ceci tuera cela“, aufgreift und in einem eigenen Kapitel reflektiert, liefert Hugo zugleich die Legitimation für sein Buch. Was die Figur des Erzdechanten, in der Zeit der Handlung befangen, nur als Verlust beklagen kann, wird für den Autor der späteren Zeit zu einer neuen Herausforderung des Schreibens:
So hat die Menschheit zwei Bücher, zwei Testamente: ein gebautes und ein gedrucktes, eine Bibel aus Stein und eine Bibel aus Papier. Wenn man sich in diese beiden aufgeschlagenen Bibeln vertieft, so ist es gewiß verzeihlich, der majestätischen steinernen Schrift, den Riesenalphabeten der Säulenhallen, Kuppeln und Obelisken nachzutrauern. […] Aber man sollte nicht die Großartigkeit des Gebäudes leugnen, das die Buchdruckerkunst aufrichtet.
Doch was, wenn das Buch der neuen Zeit das Buch der alten zu seinem Thema macht, es den Zerstörungen entreißt, es imaginär wieder aufbaut? Dann sind die Zeiten versöhnt, hat die neue Epoche der alten ein Denkmal gesetzt. Dieses Buch, man sieht es deutlich, ist selbst imaginär, gleichsam eine Metapher wie jene, die aus der Baukunst eine steinerne Chronik der Menschheit machte. Damit verliert die Eingangsfrage, ob Hugo das alte Paris oder nicht letztlich das neue darstelle, den Beiklang der Alternative: Dieses alte Paris existiert nur aus der Perspektive des neuen, dieses Mittelalter ist eine Funktion der Moderne. Die moderne Großstadt Paris generiert ihre Geschichte – im Medium des Buches und im Zeichen des Imaginären.
Bei Victor Hugo ist die Stadt Paris der Aktionsraum für ein Geschehen, dessen Mischung aus Hohem und Niederem, aus Erhabenem und Groteskem dem Ort der Handlung ein subtiles Doppelgesicht verleiht. Die schrecklichen Ereignisse, dem ‘dunklen’ Mittelalter zugeschrieben, sind weniger, nach Art einer flächigen Darstellungsweise, der Pariser Topographie geschuldet als vielmehr einer Raumkonstruktion, für deren ausgreifende Dynamik die Kathedrale Notre-Dame das ‘Bild’ abgibt. Doch dieser Raum, nicht nur im Sinne der Geometrie verstanden, wird durch die Tiefe der Zeiten, für welche die Kirche sinnbildlich einsteht, amplifiziert. Die Temporalität, dem Bauwerk als die Zeiten überspannende Dauer schon mitgegeben, gewinnt durch den Text eine Dimension, die den fernen Geschehnissen die Gegenwart von Erzähler, Autor und Leser zuordnet: singuläre Koinzidenz der Zeitpunkte, die den zahlreichen, der Handlung selbst inhärenten Spannungen und Gegensätzen die für das Selbstverständnis der Moderne so charakteristische Denkfigur einer Opposition von ‘alt’ und ‘neu’ hinzufügt. Mag die Handlung dem Mittelalter zugeordnet sein, so ist doch der Modus ihrer Darstellung – im Medium eines erst im Roman zu sich selbst kommenden ‘Dramas’ – eine Errungenschaft der Moderne, so wie Hugo sie im Vorwort zu seinem Drama Cromwell selbst exemplifiziert. Der Roman Notre-Dame de Paris vermag die Gegensätze zwischen den Zeiten und Denkweisen nicht zu versöhnen, strebt dies aber auch gar nicht an, denn sie sind Voraussetzungen und Garanten gleichermaßen für eine poetische Konzeption, welche das alte Paris im Horizont des neuen und umgekehrt das neue im Horizont des alten zur Erscheinung bringt. Auch die Moderne, dem Prinzip permanenter Erneuerung verschrieben, hat, so wäre die Botschaft von Hugo zu entschlüsseln, ihre Geschichte, und erst aus der Vielgestaltigkeit der Personen und Ereignisse, aus der Vielstimmigkeit der Klänge, Sprechweisen und Texte erwächst der Stadt Paris, Großstadt im Sinne der Komplexität, die sie – nicht in der konkreten, historischen Gegebenheit, sondern als Ort der Diskurse – umschließt, die Dichte der Geschichte und der Rang des Exemplarischen.