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3. Stifter mit dem Zeichenstift: Aus dem alten Wien

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Im Unterschied zu Lesage, der für die Darstellung der Stadt (wenngleich augenzwinkernd) das Übernatürliche bemühte, anders auch als Hugo, dessen ins Symbolhafte ausgreifende Synthese des alten und neuen Paris die Komplexität der Stadt ins Werk setzte, mag die Gangart des Textes von Stifter, Aus dem alten Wien, gemächlich erscheinen, dem Image des Autors als eines Exponenten des literarischen Biedermeier durchaus entsprechend. Einigen hundert Seiten bei Lesage und Hugo stehen hier nur wenige Kapitel gegenüber, und der Text gehört, anders als die genannten Romane, dem pragmatischen Genre an – nach den Anstrengungen, die Hugos die Zeiten überspannender Totalitätsgestus dem Leser und dem Interpreten abverlangte, zeichnet sich eine durchaus willkommene Entspannung ab.

War der Zeitensprung zwischen Lesage und Hugo mit mehr als hundert Jahren relativ groß, ist jener zwischen Hugo und Stifter eher klein: von 1831 zu 1844. Die Studien Aus dem alten Wien waren Stifters Beitrag zu dem von ihm herausgegebenen Band Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben von 1844. Solche der Unterhaltung breiterer Leserschichten dienenden, dem Feuilleton nachempfundenen Skizzen und Bilder aus dem Leben der Großstädte erschienen zuerst in Frankreich: Paris ou le livre des cent-et-un, 1831–34 in fünfzehn Bänden, Paris au dix-neuvième siècle, recueil de scènes de la vie parisienne (1839), Le Diable à Paris. Paris et les Parisiens (1845–46). Aber auch Dickens, dessen Sketches by Boz noch zu behandeln sein werden, beteiligt sich an diesem, fast schon als Modegattung zu bezeichnenden Genre, bei dem, seiner Herkunft und der von ihm anvisierten Leserschichten gemäß, zunächst wenig ‘Poetisches’ zu erwarten ist.

Stifters Studien sind mit einem nostalgischen Beiklang versehen, der das alte Wien dem Älterwerden des Autors anverwandelt und eine sentimentale Anekdote als Vergleich zwischen der Stadt und einem Menschenschicksal anführt: Es geht ihm mit seiner Stadt Wien wie mit einer ehemals geliebten Frau, die er nach langer Zeit wiederfindet und die ihm noch schöner vorkommen will als zuvor; doch bald wird ihm klar, dass er ihre Fehler vermisst:

Es wird mir bei Wien mit seinen guten und bösen Veränderungen ein wenig so gehen wie bei meiner Freundin […]. Die im alten Wien fröhlich waren, werden die harmlosen Dinge, welche in diesen Blättern folgen, ansehen wie die ausgebleichte Schleife einer Geliebten, die jetzt alt geworden ist, und von der sie nicht einmal wissen, wo sie sich befindet.

Was dem Leser als Eigenart der kommenden Skizzen vermittelt werden soll – dass sie nämlich, bleich geworden, alten Zeiten angehören und als harmlos gelten können –, wird durch das sogleich folgende Kapitel, „Vom Sankt Stephansturme“, zunächst bestätigt. Es setzt mit einer Sprachregelung ein, die auch weiterhin, dem Brauch gemäß, an der Wendung vom Sankt Stephansturm festhalten will, obwohl sie grammatisch nicht korrekt ist: ‘der Turm von Sankt Stephan’ müsste es richtig heißen, führt Stifter aus. Nun, der Anfang ist nicht dazu angetan, den Leser hier etwas Neues im Umgang mit dem Panorama von Wien erahnen zu lassen, denn der Text kommt gemächlich und durchaus altertümlich daher, indem zunächst der Anblick der Stadt von einer Anhöhe beschrieben wird. Aus dieser Perspektive bildet der Stephansdom den Mittel- und Anhaltspunkt, oder, mit Stifter, den „Schwerpunkt, um welchen sich die Scheibe der Stadt lagert“. Und an der Kirche ist wiederum der Turm „der Zeiger ihrer Majestät“. Eine oberflächliche Lektüre könnte über das hinweggehen, hinwegsehen, was die Besonderheit dieser Beschreibung ausmacht: die Kirche als Schwerpunkt, der Turm als Zeiger, die Scheibe der Stadt. Offenbar soll der Raum Wiens geometrisch vermessen, in eine Ordnung gebracht werden – ein Vorgang, bei welchem der Turm deiktische, ‘Zeige’-Funktion übernimmt:

So kündet der Turm in Weiten, aus denen man sonst nichts sehen kann, immer den Platz an, auf welchem die Stadt steht. Wenn ich von den Anhöhen Wien betrachtete, so hielt ich den Stephansturm für den Stift, an dem man die Scheibe der Stadt emporheben könnte.

Das Bild ist kaum so lächerlich, wie es der Autor in der Folge den Leser glauben machen möchte, denn sieht man in ihm einerseits, konturenhaft, Stifter, den Maler und Zeichner, so zeigt sich in poetologischer Sicht eine Zusammenführung des pittoresken Elements mit dem Bestreben nach geometrischer Strukturierung. „Dieser erhabene Leitstift“, eine ungewöhnliche, durch die ordnende und ‘weisende’ Funktion des Turms bedingte Wendung, zeigt die leitende Idee, das zeichnerische Element und Stifters ‘Liebe zur Geometrie’ an, die er schon vorher in aller Deutlichkeit ausgesprochen hatte:

Man sagt den Eingebornen Wiens nach, daß sie Herzweh bekommen, wenn sie den Stephansturm nicht mehr sehen. Man könnte ihn auch den Stift eines Sonnenzeigers nennen, zu dem alle Straßen in der Umgegend wie die Halbmesser eines Kreises zu ihrem Mittelpunkte zusammenlaufen.

In der Mitte steht das Werk mit seinen „großen Linien“ – gemeint sind hier die Kirche und der Text gleichermaßen, und warum die Linienführung, den geometrischen Formen entsprechend, für Stifter eine solche Bedeutung erlangt, wird spätestens dann ersichtlich, wenn der Diskurs, der zunächst die Annäherung an Wien, geleitet vom Stephansturm, aus der Ferne vollzieht, dann aber, der Stadt nahe gekommen, sogar in ihrer Mitte befindlich, die Bewältigung jener Fülle zu leisten hat, durch welche sich selbst das alte Wien als der Großstadt zugehörig erweist – so wie die Kirche dem Betrachter „zugeartet“ wird. In einer langen, über eine ganze Seite sich hinlagernden Kette von elliptischen Sätzen, alle eingeleitet durch „sei es, dass“, wird die Fülle von Wien als eine Folge von Gemälden dargestellt; das Zitat muss die Gemäldegalerie auf einige Bilder begrenzen:

[…] sei es, dass er [der Einheimische] in Gedanken oder gedankenlos durch eine Gasse heraus geht, und nun den Bau vor sich hat, der wie ein Gebirge einfach und doch so schön ist, und der seinen Geist erhebt und kräftigt; sei es, daß er aus der Goldschmiedgasse kommend immer wieder durch das plötzliche Vorspringen der großen Gestaltungen überrascht ist, oder sei es, daß an nebligen Spätherbstabenden, auf welche der Vollmond scheint, der Turm einen phantastischen Schatten auf den Nebel wirft, welcher Schatten unten durch das feurige Rot der Stadtlichter und oben durch das Silberblau des Mondlichtes begrenzt ist, sei es, daß in klaren Nächten, wenn man gegen die große Schulenstraße zugeht, breite Silberströme von dem glasierten Dache der Kirche niederrinnen, gegen die der Turm wie ein dunkler Riese emporragt und zu dem Monde weiset, welcher diese Wirkung hervorgebracht hat […].

In ihrem Verlauf strebt diese Textpassage einen immer höheren Grad des Pittoresken an, so dass nicht nur eine Folge von Gemälden entsteht, sondern das malerische Element gleichsam aus dem Diskurs herausgetrieben wird: die Geometrie wird räumlich, die Zeichnung farbig, der Eindruck ‘bebildert’ sich. Durch die verschiedenen Standpunkte des Betrachters, je nachdem ein beliebiger Wiener oder der Autor selbst, ändern sich auch die Bilder. War zunächst die Kirche gleichsam ‘von unten’, aus der Perspektive der Stadt erschienen, so erscheint bald die Stadt als ein An-Blick vom Stephansturm herab:

Erst gegen Morgen hin wird die Stadt stille, und es gibt nur eine kurze Zeit nach Mitternacht und vor dem Morgen, in welcher es in der Stadt Nacht ist. Da liegt sie unten wie tot und starr. Und wenn man auf dem Turme hoch oben ist, von den prangenden Sternen umgeben, von der umliegenden Landschaft nichts im einzelnen gewahrend, sondern nur die dunkle Scheibe derselben erblickend, die von der lichten, sternflimmernden Himmelsglocke geschnitten wird, und wenn man dann niedersieht in die schwarzen Klumpen der Häuserdurchschlingungen, in denen sich die Nachtlichter wie trübe irdische Sterne zeigen, so erscheint einem erst recht das menschliche Treiben, das hier eine Größe darstellen will, als Tand.

Dem Raum der Großstadt wird die Zeit angelagert, in der (Toten-)Stille herrscht, sich der Blick nach oben richtet und, nachdem er wieder auf die Stadt gefallen war, die Welt der Menschen als Tand erkennt. Obwohl an dieser Stelle noch nicht erkennbar, verweist der Text, in einer vertikalen Bewegung begriffen, schon auf das Kapitel voraus, das jenem über den Stephansturm folgen wird – das Kapitel über die Katakomben. Doch zunächst trübt hier nur ein Anflug von Zweifel das insgesamt malerisch-harmonische Bild von Wien, dem im Weiteren Klangbilder der Stadt zugeordnet werden. Noch bevor der Tag anbricht, ertönen Geräusche: das Rasseln der Wagen, die der Stadt ihre Nahrung bringen, und mit den „Zeichen des Lebens“ am frühen Morgen wird das „Rollen, Rasseln und Prasseln immer dichter“, bis die ganze Stadt von diesem Tönen erfasst wird. Erst mit dem Heraufziehen des Morgens wird die Stadt zu Füßen der Kathedrale sichtbar, und erneut greift der Autor zur ordnungsstiftenden Geometrie:

Wir sehen sie [sc. die eigentliche Stadt] wie eine Scheibe um unsern Turm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern, Giebeln, Schornsteinen, Türmen, ein Durcheinanderfliegen von Prismen, Würfeln, Pyramiden, Parallelopipeden, Kuppeln, als sei das alles in toller Kristallisation aneinandergeschlossen und starre nun da so fort.

Je weiter der Blick schweift – so weit, dass sogar der Leser ein imaginäres Fernrohr in die Hand bekommt und mit dem Autor zusammen aus erhöhter Perspektive die Stadt betrachtet –, desto größer wird die im Text zu bewältigende Fülle. Um Wien herum endet das Bauen, die Stadt vergrößernd, nicht, und in den Wiener Gebirgen lagert noch Baumaterial für (wie Stifter, den Plural von Wien vermeidend, schreibt:) „noch ein Wien und noch eins, und weiß Gott wie viele“, so dass durch diesen Anblick die Majestät des vom Menschen Geschaffenen zur Anschauung kommt. Damit hat Stifter den Raum dessen, was bis jetzt das Zentrum seiner Aufmerksamkeit ausmachte, das optische Erscheinungsbild der Stadt, kaum merklich verlassen oder besser: erweitert, denn fortan bestimmen auch die Reflexionen über menschliches Vermögen und menschliches Verhalten den Gang des Diskurses. Ein moralistischer Gesichtspunkt, die Kraft, die Schönheit des vom Menschen Gemachten betreffend, führt allmählich noch einen weiteren Aspekt der Darstellung von Wien ein: Durchaus kritische Überlegungen zu Wert und Funktion des Geldes erweitern den Horizont der Stadt um Bilder menschlichen Verhaltens, so dass dem äußeren Bild von Wien gleichsam ein moralisches Tableau an die Seite gestellt wird. War den Stadt-Bildern im Sinne der ‘bildenden’ Kunst durch die Geräusche der Stadt eine Begleitmusik beigegeben, so lagern sich nun diesem Gebilde auch innere Bilder, Reflexionen über die conditio humana an. Dies brauchte nicht eigens akzentuiert zu werden, ergäben sich nicht hieraus, durch den Gedanken der Tiefe miteinander verflochten, wiederum Verbindungen zum Kapitel über die Katakomben.

Der Leser, so hatten wir gesagt, wird in das Anschauen der Stadt mit einbezogen, als sich Wien in seiner ganzen Größe und mit der Vielzahl seiner Gebäude dem Blick erschließt. Nachdem der moralistische Aspekt der Betrachtung gewonnen war, hat sich auch der Raum erschlossen, in den nun der Leser als Partner des Autors, von diesem im Führen des Fernrohrs geleitet, eintreten kann. Doch dieser Raum ist weniger der Stadt-Raum im topographischen Verständnis als vielmehr der Handlungsraum der Menschen, deren vielgestaltiges Gewimmel den Einzelnen leicht in eine Randposition drängt, ihn ausschließt und auf diese Weise dem aussetzt, was als Einsamkeit in der Menge, als Anonymität des Großstadtlebens zu den Konstanten der Großstadterfahrung und -darstellung rechnet. Konnte die Stadt, zumal mit dem Stephansturm in ihrem Mittelpunkt, geometrisch vermessen und klarer Strukturierung unterworfen werden, so entzieht sich das Leben der Menschen einem solchen Ordnungsfaktor und kann nur durch eine sprachlich ungeordnete, in Satzfetzen daherkommende Aufzählung überhaupt in die Darstellung einbezogen werden: „Einer hat das große Los gezogen – einer in den Armen der schönsten Frau gezittert […] Geizhälse zählten das Geld – Träume zuckten durch tausend Herzen – Wüstlinge feierten eine Orgie […].“ Die Gedankenstriche sind den Gedanken, Eindrücken und Erinnerungen der Leser offen, so dass der Text, im Fortschreiten durch den Raum der Stadt, sich thematisch und poetisch immer weiter öffnet. Der Versuch, das Geschehen einer Nacht zu schildern, für den Lesage einige hundert Seiten benötigte, erscheint hier auf das strikte Minimum beschränkt, auf Wörter statt auf Sätze und Diskurse; er lässt aber der Vorstellung einen nicht minder großen Raum als denjenigen, den Lesage mit seinem Roman ausfüllte: „Welch eine Fülle, unermesslich reich an Freude und an Schauer, liegt nicht in der Geschichte einer einzigen Nacht einer solchen Stadt […].“ Während Autor und Leser noch das Geschehen der Nacht, das sichtbare und das nur imaginierte, verfolgen, bricht erneut der Tag herein, und der Kreis schließt sich – in weiterer Bewegung begriffen, der viele andere, neue Tage und Nächte folgen … Sie zu beschreiben würde dem Gesagten nichts hinzufügen, denn die menschlichen Dinge, unter dem Gesichtspunkt der Moralistik betrachtet, ändern sich nicht, zumindest nicht so schnell. Das Beenden des Textes aber, der sich nun in eine Kreisbewegung begeben hat und somit die anfängliche Liebe zur Geometrie auch am Schluss noch erkennen lässt, ist ohne einen entschlossenen Gestus kaum möglich. Als die Glocken des Stephansturms, zusammen mit den anderen Kirchen der Stadt, Mittag verkünden, fordert der Autor seinen Begleiter freundlich auf: „so lasse uns denn wieder hinabsteigen.“ Vom Autor gleichsam geleitet, hat der Leser an den letzten Betrachtungen dieses Kapitels teil, die wir einem späteren Ort vorbehalten wollen, dem Ende unseres Kapitels, das erst nach dem Abstieg in die Katakomben von Sankt Stephan erreicht sein wird.

Der Glockenklang zu Mittag, mit dem der Abstieg vom Stephansturm eingeläutet wurde, mag den Leser auf seinem „Gang durch die Katakomben“ noch eine Weile begleiten, denn was in dieser allgemeinen Weise kaum direkt an Hugos Notre-Dame de Paris zu erinnern vermag, führt, mit einer anderen Bemerkung Stifters zusammen gelesen, dann doch zurück zum Roman der Kathedrale, der das Ende der Baukunst durch den Buchdruck heraufziehen sah. Indem Stifter jene Vorzeit des Glaubens evoziert, die auch das Zeitalter der Kathedralen prägte, rückt die moderne Epoche kontrastiv in den Blick, die nur das Materiell-Nützliche noch kennt; der Buchdruck trägt zur ‘Verwässerung’ der Literatur mit bei und führt dazu, dass, von fremden Gedanken geradezu überflutet, die Menschen keine eigenen mehr kennen – ein Anklang an die Idee Hugos: „Ceci tuera cela“? Die Einleitung des Katakomben-Kapitels enthält eben jene Gedanken, die dem Autor kamen, als er nach dem Gang durch die Totenstadt wieder ans Tageslicht trat; mit anderen Worten: Das Kapitel beginnt mit seinem Ende, so wie Victor Hugos Roman mit dem Ende einer Inschrift, Ananke, begann. „So etwas geschieht in dem Jahr 1842!“ Und nicht: 1482, möchte man hinzufügen, die Verbindung zu Hugo imaginär unterstreichend. Im Sinne des Fortschritts, der angeblich die Menschheit erfasste, erscheint manches im Jahr 1842 gar nicht mehr möglich, und es geschieht doch. Warum?, fragt Stifter. Zwar hätten Einzelne vom Fortschritt profitiert, doch „was wir verloren haben, das verloren alle“. Die Idee, einzelne Entwicklungen von der Gesamtentwicklung zu unterscheiden, das Individuelle dem Kollektiven entgegenzustellen, war eine der Grundkonzeptionen von Notre-Dame de Paris; deshalb die Massenszenen auf der einen, die Darstellung von Einzelschicksalen auf der anderen Seite. Nun ist ein fiktionaler Text geradezu aufgerufen, das Singuläre an Figuren und Schicksalen aufzuweisen, während einer nicht-fiktionalen Studie wie jener von Stifter, selbst wenn sie nicht frei von Erfindungen ist, eher das Nachzeichnen von konkreten Beobachtungen und die allgemein-moralischen Reflexionen aufgegeben sind. Die Leichenberge der Katakomben, die sich den erschrockenen Blicken des Autors darbieten, lassen ohne eine allwissende (Erzähler-) Figur, wie sie bei Lesage durch den Teufel Asmodeus gegeben war, die Rekonstruktion von Einzelschicksalen nicht zu; deshalb kann sich der Autor die Frage, was diese Toten wohl im Leben getan hätten, zwar stellen, aber nicht beantworten:

Endlich kamen die ersten Bewohner dieser stillen, finsteren Stadt, nämlich: wie Holz aufgeschichtet, viele Klafter lang und hoch, lauter Knochen von Armen und Füßen – es überläuft einen ein seltsamer Schauer. – Was werden alle diese Werkzeuge, als sie noch ein denkender Geist belebte, ein liebendes oder hassendes Gemüt anstachelte, Schönes, Herrliches oder Entsetzliches getan haben? Und nun liegen sie hier, starr, übereinander geschichtet, eine wertlose, schauererregende Masse.

Dann und wann, „gleichsam symmetrisch geordnet“, ragen Köpfe aus dieser Masse hervor; die Verwendung des Wortes ‘symmetrisch’, das schon vorher die Beziehung zwischen der Stephanskirche und der Stadt Wien bezeichnet hatte, lässt einen Gedanken aufkommen, den es durch die schauerlichen Gänge und Gewölbe der Katakomben hindurch zu verfolgen gilt: Gäbe es vielleicht zwischen der Kirche und ihrem ‘Untergrund’, zwischen den Szenen und Bildern über und unter der Erde, schließlich zwischen den beiden Kapiteln eine mehr oder minder verborgene Symmetrie? Häufig in einer spannungsvollen Stellung, in einem dramatischen Ausdruck verharrend, verweisen die Skelette in ihrer Ruhe „auf einen furchtbar bewegten Moment“ zurück, einen Augenblick freilich, den Lebende nicht kennen können, da er der Moment des Sterbens selbst ist: Die Skelette sind wie Zeichen, die das, worauf sie verweisen, zugleich verschweigen – „fremde Bürger einer anderen Welt“. Der soeben aufgekommene Gedanke einer Symmetrie zwischen der einen und der anderen, der ‘oberen’ und der ‘unteren’ Welt wird durch die Darstellungsweise bekräftigt. Aus der Beobachterperspektive – zunächst vom Stephansturm herab, dann, in den Katakomben, in direkter Konfrontation – lassen sich die Schicksale der Menschen vielleicht erahnen, aber nicht entschlüsseln, und so kann der Autor wiederum Beobachtungen nur anhäufen, Figuren (von Personen mag man bei den Skeletten nicht mehr sprechen) nur beschreiben: so ungeordnet, wie sie sich darbieten:

Ein großer nackter Mann lehnte starr an der Mauer; zu seinen Füßen saß ein anderer zusammengekauert, die Hände über der Brust gefaltet, und den Kopf, der nur mehr an einem losen Bande des Halses hing, über die Schulter seitwärts gesunken – eine Frau in sich gebückt und eingesunken, gleichfalls mit gefalteten Händen, lauerte in einem Winkel, und an den Wänden lehnten oder saßen, oder lagen andere […].

Die Beschreibung könnte fortfahren, ohne dass anderes oder gar Neues damit erschlossen würde, das der Neutralität des Blickes, die ein unterschwelliges Entsetzen nicht verheimlicht, die Kenntnis der Schicksale erschließen würde. Als Menschen entrückt und verfremdet, als Relikte des Lebens aber dennoch präsent, haben die Leichname teil an beiden Welten, der ‘oberen’ und der ‘unteren’ und vermitteln, so schauerlich es klingen mag, dann doch zwischen Leben und Tod, indem sie Spuren ihrer früheren Existenz, und sei es nur in Form zerfallender Kleidungsstücke, noch bewahren. Wenn der Autor mit einer rührend hilflosen Geste den Leichnam einer Frau mit den Resten ihrer Kleidung bedeckt – nicht mit der Hand, was ihn ekeln würde, sondern mit dem Stock –, spricht daraus nicht nur menschliche Verbundenheit, sondern auch das Bewusstsein von der Nähe des Todes zum Leben, von jener Symmetrie, die oben schon angesprochen wurde. Tatsächlich dringt die Musik eines Gottesdienstes in der Stephanskirche in die Grube hinab: „wie eine goldene Leiter, schien mir’s, gingen diese gedämpften Töne von den geliebten Lebenden zu uns hernieder.“

Ist der Anblick der Leichen in dieser Häufung schon entsetzlich genug, tut sich unter der Gruft noch eine weitere auf, und die Gänge der Katakomben scheinen ohne Grenzen und Ende zu sein. Ebenfalls grenzenlos ist die Phantasie, die sich vorstellt, das Licht ginge aus und der Besucher müsste nun, ohne jede Führung, in den Gewölben umherirren: Sein Rufen würde nicht gehört, Stunden und Tage vergingen, er hörte die Orgel tönen, das Rasseln der Wagen auf den Straßen, das Läuten der Glocken – „und so fort, und so fort – bis in der Gruft um einen Toten mehr ist“. Auch Quasimodo ging, es sei daran erinnert, lebendig in die Gruft, in der er Esmeralda fand – im fiktionalen Raum des Romans war dies Realität, in Stifters Bericht aus der Totenstadt ist es nur eine Vorstellung, aus der Stifter bald erlöst wird, denn die Gruppe kommt nach oben, zurück ans Tageslicht.

Für das Ende dieses Kapitels steht noch aus, was oben, zwischen dem Blick vom Stephansturm und dem Gang in die Katakomben, aufgeschoben wurde. Noch müssen der Betrachter und sein Begleiter, der Leser, vom Turm hinabsteigen und die Erfahrung dessen bewahren, was sie, von oben wie auch aus der Perspektive der Katakomben, wahrgenommen haben. Wenn die Menschen und die Bilder genannt werden, haben die einfachen Worte vor dem Hintergrund des Gesehenen und Beschriebenen an Tiefe und Komplexität gewonnen, soll der Leser, woher er auch kam, ein Wiener werden, denn das, was in Wien erlebt, über Wien gesagt wurde, hat längst die Grenzen der Stadt überschritten:

Nimm die Menschen und die Bilder, wie sie kommen. Jetzt ein kleines, unbedeutendes Wesen, jetzt ein tiefer Mann voll Bedeutung; jetzt ein Scherz, jetzt Ernst, jetzt ein Einzelbild, jetzt Gruppen und Massen – und alles dies zusammen malet dir dann zuletzt Geist und Bedeutung dieser Stadt in allem, was in ihr liegt, sei es Größe und Würde, sei es Lächerlichkeit und Torheit, sei es Güte und Fröhlichkeit. So, nun steige hinab, und trete an das nächste beste Individuum, und beachte es und studiere es, und werde gemach auch einer aus diesen allen, welche in Wien leben, und leben und sterben wollen nur in Wien.

Stifters Zeichenstift, der sich selbst dem Schrecklichen nicht versagte, setzt einen versöhnlichen Schlussstrich. In ihrer Vielfalt bildet Wien die Buntheit des Lebens und die Düsternis des Sterbens ab und umfasst den Kreis des Daseins. Die Allgemeinheit der conditio humana, die in der Stadt zum Ausdruck kommt, führt Stifter, hierin ein wahrer Patriot, schließlich auf Wien zurück.

Ein Panorama, ein Gesamtbild der Großstadt zu entwerfen ist im Rahmen der Geschichte der Großstadtliteratur immer wieder ein Wagnis und eine Herausforderung an die literarischen Darstellungsmittel, denn die Größe der Vorlage verlangt nach dem rechten Blickpunkt, einer Perspektive, die sowohl das Besondere als auch das Allgemeine (in) der Metropole erfasst. Die bloße Beschreibung dessen, was sich dem Blick darbietet, könnte nur zu einer Anhäufung von Einzelheiten, nicht aber zu einem Bild der Großstadt, einem Panorama zumal, führen. Um diesem Dilemma zu entgehen, greift Lesage zu dem Mittel des Übernatürlichen, schafft Hugo die sowohl reale als auch imaginäre Kathedrale als symbolisches Kraftzentrum seines Textes. Stifter schließlich, bescheidener als seine Vorgänger, aber nicht weniger kunstvoll, unterwirft die Stadt einer konzeptionellen Ordnung, die in einer geometrischen Konstruktion ihren Ausdruck findet, wobei sich horizontale und vertikale Linienführung durchkreuzen. Die Unterschiede zwischen den Autoren scheinen beträchtlich zu sein, so dass der Vergleich auf den ersten Blick nur das offenbart, was der Leser ohnehin vermutete – dass nämlich die Autoren auf durchaus verschiedene Weise ihren Gegenstand gestalten. Und doch: eines ist allen gemeinsam – die Zuflucht, die rein imaginäre Konstruktionen offenbar dann bieten, wenn eine auch nur annähernd ‘realistische’ Darstellungsweise an der Aufgabe, die Großstadt ins Bild zu fassen, scheitern müsste. Diese Großstadtliteratur ist kein Reflex der Wahrnehmung, sondern Ausdruck künstlerischer Gestaltung, die auf die Wendung in die reine Vorstellung, in die Phantasie von Autor/Erzähler und Leser gleichermaßen nicht verzichten kann. Damit stellt sich erneut und prägnant die Frage nach dem ‘Ort’ der Großstadt: In den Text nicht nur eingebunden, sondern aus ihm geradezu hervorgehend, schafft die Darstellung der Großstadt einen Vorstellungsraum, in dem sich die Figuren des Textes mit den Figurationen des Lesers treffen. Es wäre für einen Literaturwissenschaftler verlockend, nun zu behaupten, der Ort der Großstadt sei eben nicht die Wirklichkeit unserer Wahrnehmung, sondern der imaginäre Raum literarischer Texte – verlockend wohl, aber wohl kaum richtig. Denn der Reiz des Imaginären, in dem wir unsere Phantasie spielen lassen können, wird durch die Realität, auf die literarische Texte, in welcher Weise auch immer, beziehbar sind, nicht eingeebnet, sondern erhöht.

Aus der Gesamtschau der Großstadtliteratur im Kleinformat, die unserem Leser noch bevorsteht, mag schon jetzt ein Blick zurück auf die Panoramen geworfen werden, die Lesage, Victor Hugo und Stifter auf je verschiedene Weise ins Werk setzten, ein Blick zurück nicht im Sinne eines retrospektiven Resümees, sondern unter einem problematisierenden und in die Zukunft der Großstadtdarstellung gerichteten Gesichtspunkt. Zumal Stifter könnte den Anschein erweckt haben, mit pragmatischen, bloß der Realität entsprechenden Beschreibungen ließe sich der Gegenstand literarisch einfangen. Doch auch Lesage, der es offenbar nicht wagte, Paris zu sagen und zu meinen, sondern der Madrid sagte und Paris meinte, scheint sich nicht in vollem Umfange auf das Risiko einer großstädtischen Sittenschilderung quasi vor der Haustür einzulassen. Victor Hugo schließlich, kühner als die ihn einrahmenden Gefährten dieses Kapitels, entwirft im Bild, im Symbol einer Kirche nicht nur Schicksale, die er kunstvoll miteinander verflicht, sondern zudem noch eine Kulturtheorie. Erscheint bei Lesage und Stifter die Stadt gleichsam ausgezehrt – nur auf die menschlichen Sitten hier, nur auf einen resümierend-moralischen Aspekt dort reduziert –, ist sie bei Hugo im Gegenteil symbolisch besetzt, ja sogar überfrachtet: Die Kirche als Symbol einer Stadt, als Kreuzungspunkt von Schicksalen, vom Buch kulturgeschichtlich überholt und doch wiederum in ein Buch, den Roman selbst, eingebunden – all dies führt zu einer Überdetermination, für die freilich die Kunst viele illustre Beispiele kennt. Die panoramatische Darstellung der Großstadt scheint Beschränkung zu fordern und doch über diese Grenzen immer wieder hinauszuwachsen: ein Balanceakt, für den sich in der Literaturgeschichte der Großstadt nur wenige Belege finden wie zur Bestätigung der These, dass solche Panoramen Ausnahmen bilden und auf der prekären, labilen Grenze angesiedelt sind, die das Wagnis vom Scheitern trennt. Der große Gestus, der Großstadt geltend, gehört im literarischen Spektrum zu den Momenten mit Seltensheitswert; und doch wird er, am Ende des 19. Jahrhunderts, das eine Fokussierung auf die Großstadt erlebt, noch einmal gewagt: in Emile Zolas Paris-Panoramen, die eine Epoche auf ihren Höhepunkt führen und sie zugleich ihrem Ende zutreiben.

Kleine Literaturgeschichte der Großstadt

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