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1. „Ich male Paris“ – Merciers Tableau von Paris
ОглавлениеMit der Darstellung von Merciers Tableau von Paris, das erstmals 1781 in zwei Bänden erschien und bis 1789 auf zwölf Bände anwuchs, bewegt sich die Analyse auch weiterhin, ähnlich wie schon bei Stifter, im Rahmen des Pragmatischen. Ungleich größer angelegt als Stifters Genreszenen, strebt das Tableau von Paris nicht weniger an, als das Gesamtbild der Kapitale zu entwerfen, und teilt mit Hugos Roman, der ebenfalls Paris im Titel führt, den Totalitätsanspruch; hier jedoch ein ähnliches Maß an Poesie und Sprachkunst zu erwarten wäre unangebracht: Zu nah ist der Autor selbst an den Gegenstand gebunden, zu sehr hat er, hierin ein Kind der Aufklärung, die konkrete Darstellung der Stadt und die Möglichkeiten im Blick, die Lebensbedingungen der Menschen in der Großstadt zu verbessern. So wird Mercier von der Nüchternheit des Historikers (oder Chronisten) geleitet und vom Anspruch eines Moralisten, der im Unterschied zu Lesage keinerlei Wendung zum Wunderbaren vornehmen muss, um die stetig wachsende Kapitale als ein ‘Tableau’ menschlichen Verhaltens zu entwerfen. Mercier schwebt nicht, wie Asmodeus und Dom Cleophas, über der Stadt und muss auch nicht Dächer und Wände von den Häusern entfernen; er habe, berichtet er selbst, die Stadt so häufig zu Fuß durchquert, dass er mit Fug und Recht sagen könne, das Buch mit den Beinen geschrieben zu haben, und das entsprechende Kapitel trägt den lapidaren Titel „Mes jambes“.
Lapidar ist auch der Beginn des Tableau von Paris: „Ich werde von Paris sprechen“. Doch ungeachtet der unprätentiösen Schlichtheit dieses Anfangs sind sowohl das sich selbstbewusst artikulierende ‘Ich’ als auch die Stadt Paris gleichsam unbekannte Größen: Für dieses ‘Ich’ hatte die Darstellung von Paris bis dahin kein Beispiel bereitgestellt, und die Stadt selbst, jene scheinbar unproblematische Gegebenheit – schon vor Mercier topographisch und historisch beschrieben – gewinnt in Merciers Tableau ein neues, gegenüber den früheren Darstellungen präzise ausgeleuchtetes Gesicht. Mehr als tausend Kapitel wird Mercier benötigen, um die Stadt in all ihren Erscheinungsformen, mit ihren verborgenen Abgründen und der Komplexität ihrer Aspekte dem Leser vor Augen zu stellen. Vor Augen? Nicht dem optischen Erscheinungsbild von Paris gilt Merciers Interesse, sondern dem, was er in einer paradoxen Formulierung die „moralische Physiognomie“ der Stadt nennt. Dem Leser, mit einer ungewohnten Perspektive konfrontiert, die auf die Gesamtheit der Großstadt ausgerichtet ist, und bei seinem Gang durch die Stadt von einem in neuer Weise sich artikulierenden Ich begleitet, steht mit der Lektüre des Tableau von Paris eine überdimensionierte Aufgabe bevor – ein Grund, den Text zu vermessen. Sowohl das ‘Ich’ als auch die Stadt Paris und vor allem die Art und Weise, wie über sie gesprochen wird, sind neu und bedürfen einiger Aufmerksamkeit. Deshalb sei dem Leser ein Dreischritt vorgeschlagen: Zunächst gilt jenem ‘Ich’ unsere Aufmerksamkeit, sodann der Stadt und schließlich der für Mercier spezifischen ‘Schreibweise’.
Selbstbewusst hatte Mercier sein Tableau mit dem schlichten Pronomen ‘ich’ begonnen und in der Folge dieses ‘Ich’ mit der Stadt kombiniert. Bevor Paris in den Blick rückt, sei der Autor kurz vorgestellt, der zwar in seiner Zeit Berühmtheit erlangte, diese aber mit einem weitgehenden Vergessen durch die Nachwelt bezahlte. Er war Pariser von Geburt (1740), Sohn eines wohlhabenden Handwerkers, der auf die Schulbildung seiner Kinder (ein Akt bürgerlicher Emanzipation) großen Wert legte. Doch die gute, an klassischen Vorbildern orientierte Erziehung flößt dem jungen Mann Abscheu vor dem ‘Bildungsgut’ ein und stiftet ein umso größeres Interesse an den Erscheinungen der eigenen Zeit: „So darf alles, was um mich herum ist, meiner ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein, denn leben muss ich unter meinesgleichen, und schließlich ergehe ich mich nicht in Sparta, Rom oder Athen.“ Als Hilfslehrer in Bordeaux verfasst Mercier 1763, unter dem Einfluss von Rousseaus Nouvelle Héloïse, seine ersten Werke. Nach Paris zurückgekehrt, schließt er Freundschaft mit dem jüngeren Crébillon und lernt Diderot sowie den schon schwer erkrankten Rousseau kennen. In rascher Folge erscheinen Erzählungen (Histoire d’Izerben, poète arabe 1766, L’homme sauvage 1767, Songes philosophiques 1768), schließlich 1769 die Contes moraux, ou les Hommes comme il y en a peu. Theaterstücke folgen, das seinerzeit berühmteste, Der Schubkarren des Essighändlers, wurde auf Veranlassung Goethes ins Deutsche übersetzt und von ihm 1798 in Weimar aufgeführt. Mercier war jedoch nicht nur als Dramatiker tätig, sondern wurde berühmter und bedeutender noch durch seine theatertheoretischen Schriften (Du théâtre ou nouvel essai sur l’art dramatique, 1773; Nouvel examen de la tragédie française, 1778), mit denen er, ähnlich wie Diderot, die neue Form des bürgerlichen Trauerspiels propagierte und, wie später Schiller unter Merciers Einfluss, das Theater als eine ‘moralische Anstalt’ betrachtete.
Die Veröffentlichung des Tableau von Paris bringt dem Autor die Verfolgung durch die Zensurbehörden ein, vor denen er sich in die Schweiz, nach Neuchâtel, flüchtet. Dort, wo er sich 1781 bis 1786 aufhält, schreibt er weiter an seinem Tableau von Paris, das somit großenteils gar nicht in Paris entsteht. Als 1789 die Revolution ausbricht, schließt er sich zunächst den Jakobinern, dann den gemäßigten Girondisten an, was ihm ein Jahr Kerkerhaft einträgt; seiner Enthauptung entgeht er nur durch den Sturz Robespierres. Danach setzt er seine politische Karriere fort, wird Mitglied im Direktorium, 1795 Mitglied des Institut de France, der ‘revolutionären’ Nachfolgeorganisation der Académie Française. Er verfasst unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse eine Fortsetzung des Tableau von Paris unter dem Titel Le nouveau Paris, kann aber an den Erfolg des früheren Werkes, das direkt nach Erscheinen ins Deutsche, Englische, Italienische und Niederländische übersetzt wird und in hohen Auflagen kursiert, nicht mehr anschließen. Er stirbt 1814 in Paris und wird auf dem Père Lachaise beigesetzt. Sein Ruhm gründet sich vor allem auf den utopischen Roman L’An 2440, rêve s’il en fût jamais (Das Jahr 2440, der Traum aller Träume) und auf das Tableau von Paris.
Freilich: Zu den auch heute noch bekannten und gelesenen Autoren zählt er kaum, obwohl seinerzeit in Deutschland Goethe, Hegel, Jean Paul, Wieland und Schiller zu seinen Lesern rechneten: „Ich habe einen unendlichen Respekt für diesen großen drängenden Menschenozean“, schreibt Schiller 1788 an Caroline von Beulwitz, und er plante sogar, im Anschluss an ein Kapitel bei Mercier, ein Drama mit dem Titel Die Polizey, das jedoch nicht zur Ausführung gelangte. Die Fülle seines Werkes, das über hundert Bände umfasst, ist zugleich Merciers Leistung und sein Problem. Vor allem Grimm schmäht Mercier in seiner Korrespondenz als „Tintenkleckser“; Diderot scheine alles gelesen, Mercier alles geschrieben zu haben, und dieser bilde zusammen mit Restif de la Bretonne und Cubières das „Triumvirat des schlechten Geschmacks“. Dennoch: Merciers Tableau von Paris wirkte stil- und traditionsbildend und ist die Initialzündung für eine Thematik, die fortan ihren Platz im Spektrum der Literatur behauptet: Mit Merciers Tableau von Paris setzt – fulminant, großflächig, engagiert – die Großstadtliteratur ein, und spätere Schriftstellerkollegen wie Balzac und Baudelaire wussten ihm, anders als die wohl auch um des Erfolgs willen neidischen Zeitgenossen, Tribut zu zollen.
Nachdem nun der Autor des Tableau von Paris kein ganz Unbekannter mehr ist, gilt die Aufmerksamkeit jenem Thema ‘Paris’, das Mercier zu Anfang seines Textes so kühn mit dem eigenen Ich verband. Die Frage „Was ist Paris?“ kann in dieser allgemeinen Form keine Antwort erheischen; die Frage hingegen, wie die Stadt in Merciers Tableau zur Darstellung kommt, soll ungeachtet der Dimensionen des Werkes gestellt und mit der gebotenen Stringenz beantwortet werden; dass der literaturkritische Diskurs, der immer seinem Thema mehr oder minder hinterherhinkt, in diesem Fall besonders hinter seinem Gegenstand zurückbleibt, muss man gelassen hinnehmen und sich, wie Mercier in Paris, auf den Weg durch dieses Werk machen.
„Ich“ bildet, als erstes Wort des Werkes, die Initialeinstellung – nicht nur in Bezug auf die ‘Person’, die sich hinter diesem Ich verbirgt, sondern auch als Gegenüber eines hier mitgemeinten ‘Du’, das den Leser bezeichnet. Wenn das Ich immer wieder seine Betroffenheit wegen des Elends in der Großstadt artikuliert, wenn es jene ‘Figur’ ist, die für bestimmte Verfahrensweisen des Textes optiert und die dessen Besonderheit verantwortet, so ist es doch auch, als Erfahrungsmuster, gleichsam der Ursprung des Tableau von Paris: „Ich bin so viel gelaufen, um das Tableau von Paris zu machen, dass ich sagen kann, ich hätte es mit meinen Beinen geschrieben; auch habe ich gelernt, lebhaft und prompt auf dem Pflaster der Hauptstadt zu laufen. Das ist ein Geheimnis, das man, um alles zu sehen, beherrschen muss; man erwirbt es durch Übung […].“ Das Besondere der Stadt erschließt sich nur in der unmittelbaren und konkreten Erfahrung, als Dabei-Sein, denn die Metropole, in dauerndem Wandel begriffen, steht unter dem Gesetz der Veränderung, der man gleichsam hinterherlaufen muss, um sie nicht zu verfehlen. Paris bestimmt nicht nur die Marschgeschwindigkeit Merciers, sondern auch die Gangart des Textes. Das Tableau von Paris eilt von einem Thema zum anderen, kann keine Darstellungsform lange beibehalten und hat so wenig einen konkreten Argumentationsverlauf, wie die Gänge Merciers durch die Stadt einem bestimmten Ziel zustreben. Von der Stadt gleichsam generiert, stellt sich das sprechende Ich in einer Weise dar, dass es weniger an eine Person – mit Familie, Charakter, Beruf – erinnert als an eine textbezogene Figur, die über eben jene Eigenschaften verfügt, die sie für den Text (als dessen Ursprung) benötigt. So lebt Mercier in einer Mansarde; wie nämlich der Kopf am oberen Ende des Körpers das edelste Organ, das Gehirn, beherberge, so wohne auch in der Hauptstadt das Genie, der Fleiß, die Tugend im oberen, billig zu mietenden Teil der Häuser, und während der Geist in den Kutschen fahre, gehe das Genie zu Fuß. Das Tableau von Paris enthält auch ein Bild dessen, der es schuf; es ist die Inszenierung einer individuellen Erfahrung im konkreten Raum der Stadt, mit anderen Worten: die Projektion eines moralischen Raumes auf einen physischen. Aus dieser persönlichen Position eines sprechend-schreibenden Ich ergibt sich als Besonderheit des Textes seine historische Dimension. Hatte noch Lesage und in gewisser Weise sogar Stifter das Allgemeine des Sittenbildes, die generellen Züge der Conditio humana herausgestellt, ist nun bei Mercier das Bild der Stadt auch das Bild einer Zeit, genauer: die Momentaufnahme, denn der stete Wandel der Großstadt erlaubt es nicht mehr, den Anspruch von Dauer und Allgemeinheit des Beobachteten zu erheben. Die davoneilende Geschichte der modernen Großstadt macht das Festhalten des Alltäglichen, Zufälligen und oftmals Unbemerkten zu einem Dokument des Wandels, und Mercier wird nicht müde, die Besonderheit der eigenen Zeit gegenüber vergangenen und noch kommenden Epochen herauszustellen. Immer wenn der Text in frühere Zeiten zurückblendet – ausgelöst von einem gegenwärtigen Eindruck –, tendiert er, sonst eher nüchtern verfasst, zur Emphase; als Mercier über die Reste des soeben abgerissenen Petit-Châtelet hinweggeht, klingt sein Kommentar sensibel in präromantischer Art:
Ich bin über die Reste hinweggegangen: aber welch ein Anblick! Die Gewölbe halb geöffnet, unterirdische Kerker, die zum ersten Mal seit so vielen Jahren Luft bekamen, schienen den entsetzten Augen der Passanten die in ihrer Finsternis versunkenen Opfer zu enthüllen. Ein unwillkürliches Schaudern ergriff euch, indem ihr den Blick in diese tiefen Gräben warft, und man sagte sich: Wurden tatsächlich an einem solchen Ort, auf dem Grund der Erde, in einem Loch für Tote, Lebende einquartiert?
Nicht nur die Wendung zurück in die Geschichte, sondern auch der Blick in die Zukunft affiziert den sensiblen Betrachter, und er sieht vor dem inneren Auge den Untergang von Paris – nicht ohne die Hoffnung, dass sein Buch die Zerstörung der Stadt überleben möge, damit es dereinst von Paris künde, dessen Bild es bewahrte. Dieses Überschreiten der unmittelbaren Gegenwart auf dem Weg der Vorstellung verbindet Mercier mit seinem Leser, denn auch dieser soll sich nicht streng und gläubig an den Text halten, zumal der Autor nicht alles beschreiben könne; er soll vielmehr über das hinausgehen, was ihm Text und Autor vermitteln, und gerade die in Anbetracht des Gegenstandes unvermeidbare Offenheit der Darstellung – modern würde man von ‘Leerstellen’ sprechen – ist ein Impuls für die Imagination des Lesers. Mit dem Ich des Autors ist das dem Text eingeschriebene Bild des Lesers verbunden; nicht so, dass dieser nur gleichsam hinterhertrottet, sondern in dem Sinne, dass er dort weiterdenkt, wo der Autor bloß Fragmente aus dem Gemälde der Stadt vermitteln kann. Vom Autor zwar geleitet (auch in Gegenden und an Stätten, die der Leser sonst kaum kennen gelernt hätte), aber nicht an ihn gebunden, erschließt sich der Leser neue Erfahrungen, und wie um die Herkunft des Wortes ‘Erfahrung’ (‘Durchstreifen’) zu illustrieren, wird der gemeinsame Gang durch die Stadt zu einer Erprobung dessen, was, als humanitas, die Menschen verbindet. Gleich ob das ‘Ich’ beobachtet, träumt, empfindet oder urteilt, immer ist ihm der Leser beigesellt, dem identische oder ähnliche Reaktionen oder Verhaltensweisen angesonnen werden. Die Komplexität der Stadt macht jedoch alle Bewegung des Körpers oder des Geistes zu einem unabschließbaren Unterfangen: Weder kann man die Stadt ganz durchschreiten, noch kann man sie, in die Tiefe gehend, vollständig beobachten oder gar erklären; doch die Erfahrung, dass alle Beschäftigung mit Paris nur Annäherungswerte bereitstellt, betrifft nicht individuelle Einschränkungen und Defizite, sondern verbindet, tröstlich, Autor und Leser.
Er wolle, so beginnt Mercier, von Paris sprechen – doch was meint dieses ‘Paris’? Nicht die Bauwerke, Kirchen, Monumente, Sehenswürdigkeiten – darüber hätten schon andere geschrieben. Ihn interessieren, ganz im Sinne seiner Zeit, die öffentlichen und privaten Sitten, die herrschenden Ideen, die aktuelle Situation des Denkens, von ihnen wird er ‘berührt’ („frapper“), und sie verwandeln die Stadt, die architektonisch festgefügt ist und als kaum wandelbar erscheint, in eine „bizarre Anhäufung von verrückten oder vernünftigen, aber immer sich wandelnden Verhaltensweisen“. Statt in ihrer Architektur und den sie beschreibenden Werken quasi festgeschrieben zu sein, verliert die Stadt unter dem Blick Merciers ihre Begrenzungen, zeigt sie ihre „grenzenlose Größe“ und gerät zu einem nicht mehr berechenbaren Monster, das Geld und Menschen ansaugt, die anderen Städte aber aussaugt und verschlingt – mit dem biblischen Wort: „Quaerens quem devoret“. Die ‘moralische Physiognomie’ von Paris bildet den Ausgangspunkt, das eigentliche Interesse jener ausgreifenden, ausufernden Beschreibung der Stadt; ihr ‘Tableau’ ist ihr in seinen/ihren Dimensionen adäquat. Nur durch die immer wieder begonnene, nie aber erreichte Annäherung des Textes an seinen Gegenstand kann das Tableau von Paris beanspruchen, ein Bild der Stadt zu entwerfen – ein Bild freilich, das sich aus Momentaufnahmen, Zufallstreffern, gleichsam Schnappschüssen zusammensetzt und dessen vorgestellte Einheit letztlich so utopisch bleibt wie in Merciers Roman Das Jahr 2440; nur wird hier das utopische Element nicht aus dem imaginären Entwurf heraus gebildet, sondern aus einer vom Text nicht einholbaren Fülle der Erfahrung, vor der auch das schreibende Ich letztlich kapitulieren muss: „Selbst wenn ich die hundert Münder, die hundert Zungen und die eiserne Stimme hätte, von denen Homer und Vergil sprechen, wird man befinden, dass es mir unmöglich gewesen wäre, alle Kontraste der großen Stadt aufzuführen.“ Doch nicht Stimme und Zunge gelten für Mercier als Darstellungsmittel der Stadt, sondern, dem Titel entsprechend, die Instrumente des Malers, Zeichenstift und Pinsel, die nichts anderes wiedergeben können, als der Künstler wahrnahm: in trister Farbgebung erscheint das scheußliche Elend der Stadt.
Wie bei Lesage spricht der Moralist, sieht jedoch den Grund des Elends nicht in den individuellen, charakterlich geprägten Verhaltensweisen der Menschen, sondern in den Lebensbedingungen der Großstadt: Zählt Mercier einerseits, ein wenig anachronistisch schon, zu den Moralisten, liegt andererseits seine Besonderheit, ja seine Modernität darin, dass er wie ein Soziologe ante litteram daherkommt. Es geht ihm nicht um allgemein menschliches Verhalten, das, der Großstadt als Ballungsraum der Menschen entsprechend, auch hier am besten zu beobachten und zu beschreiben ist, sondern um die Beziehungen zwischen dem Lebensraum Großstadt und den Verhaltensweisen der Menschen. Erst hier zeigt sich das, was den Moralisten und den ‘Maler’ der Sitten am meisten interessiert: Kontraste auf engstem Raum: „Die Taufe, die sofort nach dem Begräbnis vorgenommen wird, derselbe Priester, der einem Sterbenden die Letzte Ölung erteilt und den man ruft, um zwei junge Leute zu verheiraten.“ Gehen hier die Kontraste aus dem normalen Lebensverlauf hervor, der nur in besonderer Konzentration und Gleichzeitigkeit in der Großstadt zur Anschauung kommt, stellt Mercier jedoch auch Kontraste heraus, die immer wieder die Unterschiede der Stände zur Erscheinung bringen und welche die soziale Differenzierung, die zwischen Armen und Reichen klaffende Distanz als schreiendes Unrecht anklagen: Mercier, der Revolutionär, ist auch der Anwalt der Armen und Benachteiligten.
Bei aller Unverbindlichkeit, die aus der großstädtischen Ansammlung des Verschiedenen resultieren mag, ist Merciers Tableau von Paris keineswegs kunstlos, und selbst wenn es seinen Ursprung der zeitweiligen journalistischen Arbeit seines Autors verdankt – Mercier war, nicht eben zu dessen Wohl, 1775 bis 1777 Redakteur des Journal des dames –, ist es doch Literatur im besten Sinne des Wortes. Spricht Mercier von Paris als einer „konfusen Anhäufung“, ist dies nicht eine bloße Feststellung, sondern eine Herausforderung an die Kunstmittel des – metaphorisch zu verstehenden – ‘Malers’. Voraussetzung für das Malen ist das Sehen, das in vielfältigen Variationen benannt wird, dem sich aber immer das Verstehen zugesellt. Ein Akt des Verstehens ist, angesichts des pluralen Gegenstandes ‘Großstadt’, immer auch ein Akt des Ordnens – so, dass sich die einzelnen Beobachtungen zu einem ‘Bild’ zusammenfügen. Nimmt der Moralist die Kontraste wahr, hat der Maler sie zu gestalten. Manches Mal bieten sie sich, wie die Annoncen der Vergnügungen und die Todesanzeigen auf derselben Seite des Journal de Paris, dem Blick dar, zumeist aber müssen sie erst durch eine bewusste Anordnung hervorgebracht werden: Der Blick ist ein synthetisierender, der Erinnerung und nicht nur der momentanen Wahrnehmung geschuldet: „Diese Frau [die zum Leihhaus geht] tritt aus einer Equipage heraus und beleiht Diamanten mit 25 000 Francs, um abends zu soupieren. Jene andere bindet ihre Schürze ab und erbittet Geld, um Brot zu kaufen.“ Mag es sein, dass die beiden Frauen unmittelbar hintereinander zum Leihhaus gingen, so ist es ebenso denkbar und vielleicht wahrscheinlicher, dass die Szene eine Kombination auseinander liegender Momente darstellt, die vom Beobachter in Verbindung gebracht wurden; „rapprochement“, Annäherung ist die dafür von Mercier benutzte Vokabel. Dabei wird die Verfahrensweise des Textes von einem Erkenntnisinteresse geleitet, das Mercier mehrfach formuliert: Nur durch das schockartige Aufeinandertreffen von widersprüchlichen Gedanken lerne man, die wahrhafte Idee herauszufinden, und durch die Kontraste sehe man im Großen.
So viel ist deutlich: Es genügt nicht, die Stadt einfach abzubilden, um sie zu verstehen; vielmehr muss das, was man in ihr wahrnimmt und beobachtet, in eine Konstellation gerückt werden, so dass sich Kontraste herauskristallisieren. Mag ein solches Verfahren bei einzelnen Szenen überzeugen, bleibt doch unklar, wie auf diese Weise ein Gesamtbild der Stadt entstehen soll; jene kurzen Kapitel bei Mercier lassen sich sicher mit dieser Methode gestalten – aber ein ganzes Buch, sogar ein ‘Tableau’ in zwölf Bänden? Indes: Annäherung und Kontrastierung wären als bloß technische Darstellungsmittel verkannt. Vielmehr können die Kontraste auf breitem Raum erstellt werden, der Allgemeinheit des Ansatzes entsprechend; denn es gibt eine Gewissheit, die Merciers ‘Bild’ von Paris bestimmt: „Das moralische Verhalten des Menschen ist durch ein unbekanntes Band mit dem physischen Erscheinungsbild der Gegenstände verbunden.“ Die erste, originäre und grundlegende Verbindung besteht zwischen dem moralischen und dem physischen Raum, und hier liegt, bei allen Schwächen der Darstellung, die man dem eilenden Beobachter von Paris zuschreiben mag, das zeitlose Interesse dieses Textes. Weder ist die Stadt ein isolierter, nur für sich gegebener Gegenstand, noch sind ihre Bewohner in sich ruhende, von ihrer Umgebung unabhängige Menschen. Beide sind auf Gedeih und Verderb miteinander verflochten: Die ‘moralische Physiognomie’ der Großstadt entspricht der ‘physiognomischen Moral’ ihrer Bewohner. Im weiten Raum von Paris lässt sich studieren, wofür sonst weite Reisen notwendig wären; alle Sinne werden angesprochen, und hier findet der Betrachter vor, was Mercier, unübersetzbar, als „abrégé de l’univers“ bezeichnet: das Universum, verkürzt und konzentriert, eine Stadt als Welt, die Welt als Stadt.
Den Unterscheidungen zwischen dem Ich, der Stadt und den Schreibweisen Merciers, die zur Orientierung des Lesers (was sowohl den Leser Merciers als auch unseren betrifft) vorgenommen wurden, sind selbst dem Gesetz der Großstadt unterworfen: am Ende heben sie sich auf und gehen in jene Fülle ein, deren Beschreibung und Bewältigung das Tableau von Paris unternommen hatte. Letzten Endes bleibt nur der Text übrig, in den Autor, Leser, Gegenstand und Darstellungsweise eingingen, so dass auch er sie gleichsam verschlingt, quaerens quem devoret. Nur der Text? Was er vermochte, macht die gewohnten Maßstäbe des Gelingens oder Scheiterns obsolet. Wenn er scheitert, so deshalb, weil er, der Dimensionen des Unterfangens eingedenk, gar nicht gelingen kann; wenn er gelingt, liegt der Grund dafür in den bescheidenen Beschränkungen, die er, jedem Anspruch auf Totalität abhold, seinem Gegenstand, dem sprechenden Ich und dem Leser auferlegt – sie alle sind nur Figuren der Annäherung, nicht aber schon die Nähe selbst.
Die Frage nach Scheitern oder Gelingen, auf der Ebene des gegebenen Textes nicht zu beantworten, erweist ihren tieferen Sinn erst aus einer anderen Perspektive. Dieses Paris, das mit seinem Namen, aber auch in der Fülle seiner Erscheinungsformen im Text präsent ist, ist diesem auch transzendent, aufgehoben in einem Bewusstsein, das seinen Ort jenseits der Stadt, aber auch jenseits des Textes hat. Und so entscheidet in letzter Instanz der Leser, bereit, dem Text zu folgen (bis hin zu seiner Überschreitung), vielleicht aber auch nicht geneigt, sich ihm anzuvertrauen, über das Gelingen des Unterfangens Tableau de Paris. Die Literaturgeschichte setzte einen letzten Akzent: Sie schrieb, über eine ganze Generation hinweg, am ‘Tableau de Paris’ weiter, und sie schrieb selbst dort Merciers Entwurf fort, wo sie sich scheinbar von ihm entfernte: Balzac und Baudelaire sind die Erben des Tableau von Paris, das selbst noch bei Zola seine Spuren hinterließ – Stoff für weitere Kapitel der Literaturgeschichte der Großstadt.