Читать книгу Braco - kleiner Bruder, großer Engel - Anina Toskani - Страница 4

Es werde Licht – eine magische Begegnung …

Оглавление

Der Mai heißt bei uns im Volksmund Wonnemonat, weil er, bunt & überschwenglich, mit Knospen, frisch hervorsprossendem Grün und den ersten wärmenden Sonnenstrahlen, Lebensfreude & Blütenpracht hervorlockt…

Kein Wunder also, dass sich gerade im Wonnemonat Mai Menschen verlieben. Der Frühling trieb sich dieses Jahr auch bei uns in München Südost, hinter dem Balkon, im kleinen Perlach Park, auf den Wiesen herum, ließ Gänseblümchen und Löwenzahn sprießen und zündete täglich neue Kerzenblüten in leuchtenden Farben an, von rosa über pink bis dunkelrot, auf den Kastanien gegenüber vom Haus und, in der Allee, auf dem Weg zur U-Bahn. Der Wind streute ihre Blütenblättchen, wild von den Blütenkerzen heruntergezerrt, wie Konfetti für die Braut auf unserem Gehweg aus. Überall lag berauschender Fliederduft in der Luft.

Trotz aller Pracht herrschte bei uns daheim Trübsal. Deli, meine heißgeliebte Mutter, war seit Wochen kaum aus dem Haus zu locken; ihr Altersstarrsinn wurde von Tag zu Tag schlimmer. Oft saß sie den lieben langen Tag, wie ein Droschkenkutscher, mit den Unterarmen auf die Oberschenkel gestützt, auf der alten grünen Velourscouch, die Vater vor Jahren frisch mit dickem grünem gemustertem Samt hatte überziehen lassen, um die Nachkriegsgarnitur für unser Wohnzimmer aufzumöbeln. Deli saß da seit Jahren in der gleichen Position auf der grünen Couch, Stunde um Stunde, Tag für Tag und grübelte weltentrückt vor sich hin. „Wenn ich nur wüsste, was in ihrem Kopf vorgeht?!“ Dachte ich oft bei mir. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, schien sie einer inneren Stimme zu lauschen, die für sie sehr real war, denn sie war total in das Zuhören versunken. Wie boshaft und bedrohlich die-se innere Stimme war, wurde ich erst viel später gewahr, durch unermüdliches, vorsichtiges Nachfragen, worauf mir Deli einmal eingestand, dass die innere Stimme ihr einredete, sie müsse sterben, sie solle sich umbringen! „Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht!“ murmelte sie oft zur Antwort wie ein Mantra vor sich hin, wenn sie da so einige Stunden des Tages auf der grünen Couch, wie erstarrt dasaß. Es hatte mich Monate an intensiver Beobachtung gekostet, bis ich sie durch vorsichtiges, wiederholtes Nachfragen veranlassen konnte, über ihre inneren Stimmen zu sprechen und, sich mir anzuvertrauen. Ich erfuhr schockiert, dass sie diesen bedrohlichen Ohrwurm seit über 40 Jahren mit sich herumtrug. Das war, genau seit dem Tag der Schilddrüsenoperation der Fall, als sie unter Vollnarkose operiert worden war, weil sie einen gutartigen Knoten hatte, den der Arzt entfernte. Niemand hatte bisher geahnt, was da passiert war, denn sie hatte es niemand, weder meinem Vater, noch mir, noch dem Arzt, klar mitteilen können. Nur durch beständiges, liebevolles Nachfragen hatte ich Jahrzehnte später, eigentlich viel zu spät, entdeckt, was sie bedrückte und, was wohl die Ursache war. Da war guter Rat teuer! Unsere Hausärztin wusste lei-der keinen Rat, außer, dass ich Deli in der Psychiatrie vorstellen sollte, und das ging auf keinen Fall ohne Delis Einwilligung. Doch, Deli hatte nicht nur vor dem boshaften Ohrwurm, sondern vor allen fremden Menschen außer mir, ihrer einzigen Tochter, furchtbare Angst. Woher ihre große Panik vor Menschen rührte, wussten wir auch nicht. Das fanden wir auch nie heraus.

Noch immer erinnere ich mich gern an die Schulzeit am Gymnasium in Düren. Da waren Deli und ich noch glücklich, ja fast überglücklich gewesen. Wenn sie oft stundenlang, mit Näharbeiten auf dem großen Schneidertisch, saß und die Beine herunterbaumeln ließ, saß ich oft, in unserem großen Badezimmer der Altbauwohnung, in Norddüren, zu ihren Füßen und lauschte, denn Deli erzählte mit ihrem typisch Kölschen Humor im Kölschen Dialekt lustige Geschichten vom Land und Omas Bauernhof, was da alles mit Kühen, Schweinen, Hühnern und den Knechten und Mägden und den vielen Dorfkindern vorgefallen war. Bei meinen Freundinnen und sogar bei den Lehrern am Gymnasium war Deli sehr beliebt, denn sie war immer gern auf Schulausflügen dabei und machte mit uns im Sommer Radtouren über Land zum Freibad oder zum Bauernhof ihrer Zwillingsschwester in der Umgebung von Düren. Ihre Fröhlichkeit war einfach ansteckend. Umso mehr lastete nun ihre Trübsal und Verzweiflung auf meinem Gemüt, denn so hatte ich meine geliebte Mutter nie in Erinnerung gehabt.

Ihre Versteinerung und der Starrsinn arteten nun, als sie auf die 90 zuging, immer mehr in eine totale Ablehnung des Lebens, schlimmer als jede Wehrdienstverweigerung, die durch Zivildienst abzuleisten wäre. Erst viel später sollte ich, in der Geriatrie der psychiatrischen Klinik, noch vielen ähnlichen Fällen begegnen, die vom Altersstarrsinn wie besessen waren und konstant nein zu ihrem täglichen Leben sagten, ganz gleich, wie es ihnen ging.

Zwar hatte mir Delis Zwillingsschwester, meine Patin, Tante Tinni, schon ab und zu gesagt, dass Deli schon als Kind zu Absonderung und Melancholie neigte, wenn sie stundenlang im Garten, ganz allein, ihren Tränen im Kummer freien Lauf ließ, aber das war nie ein Anlass zur Sorge gewesen, so wie jetzt. Eigentlich waren die Zwillinge fröhlich und unbeschwert auf dem Land großgeworden. Gelegentlich sah es, auch in meinem Inneren, düster, ja zappendüster, aus: Hoffnung und Verzweiflung wechselten einander ab, wie das Auf und Ab einer Achterbahn. Fand ich jemand, der mich unterstützen konnte, um meinen Berufsalltag und die Betreuung Delis besser zu bewältigen, war die Freude groß, aber nie von langer Dauer. Nach und nach kündigten alle, die ich zu Hilfe holte, den Job oder warfen kurzerhand das Handtuch: Die Putzhilfen, der Pflegedienst und gelegentlich auch ich selbst, wenn die Wand des Starrsinns nicht mehr zu durchbrechen war.


Tinni, links, und Deli mit drei Jahren

Unsere Ärztin konnte leider auch keine Hausbesuche machen, wenn Deli nicht in der Verfassung war, zu ihr zu gehen, denn ihre Praxis war überfüllt mit Kranken. Der benachbarte Pflegedienst stellte nach 10 Tagen einfach seinen Service ein, weil Deli aggressiv auf stets wechselnde Pfleger/innen reagierte und zuletzt dem Mann mit dem knallorangefarbenen T-Shirt, der, morgens um 8 Uhr, an der Tür klingelte, um sie an die Medikamente zu erinnern, nicht hereinließ: sie hielt ihn, wie sie mir später erzählte, schlicht und ergreifend für ein Mitglied der gefährlichen, asiatischen Bettel-Sekte, mit den orangefarbenen Kutten, die bei älteren Damen und Hausfrauen gelegentlich an der Tür hausieren. Als sie mir dies aufgebracht schilderte, musste ich schmunzeln. Insgeheim freute ich mich über ihren gesunden Menschenverstand. Ein Betrüger an der Haustür hätte bei Deli nie eine Chance gehabt. Im Alltag war sie klar im Kopf trotz der merkwürdigen Alzheimer Dämonen!

Zu alledem war sie, weder auf den Kopf, noch auf den Mund gefallen, wenn es um ihre Freiheit und ihre Selbständigkeit ging. Ich, dagegen, war inzwischen mit meinem Latein am Ende und mit meinen Kräften auch. Burnout nannte der Arzt diesen Zustand, wenn man morgens ebenso müde und zerschlagen aufsteht, wie man am Abend ins Bett gefallen ist. Ab und zu hatte ich regelrechte Schwächeanfälle, bekam dazu die letzten Winter mehrmals eine langwierige Lungenentzündung und verlor schließlich täglich ein halbes Pfund Körpergewicht. Der Hausarzt notierte es mit Kopfschütteln und großer Besorgnis. Er redete mir ernsthaft ins Gewissen, ich solle ein Pflegeheim finden, sonst sei ich noch vor meiner Mutter im Grab und schaute mir dabei, ernsthaft besorgt, tief in die Augen.

Ein Pflegeheim wollten weder Deli noch ich akzeptieren, denn ich liebte und versorgte sie genauso wie sie mich lange Jahre, als ihr einziges Kind, immer beschützt, versorgt und verwöhnt hatte. Pflegeheim? Nein! Das wollte und konnte ich ihr nicht antun! Das wäre der allerletzte Ausweg, wenn gar nichts mehr ginge. Wie sollte ich Deli auch ohne ihr Einverständnis dazu bringen. Gedankenschwer und müde, saß ich eines Abends, nach einem anstrengenden Arbeitstag vor meinem Computer daheim und hangelte mich auf dem youtube Kanal zur Ablenkung von den Alltagsproblemen durch eine Reihe von Videos erwachter Meister, deren Weisheit mich oft tröstete, wenn ich einfach nicht mehr weiterwusste. Teilweise lauschte ich dem Sat-sang von Mooji oder interessanten Gesprächen mit Sathguru. Doch, gaben mir beide keine Tipps zu unserer häuslichen Situation mit Alzheimer Dämonen, Depression und Panikattacken.

Als ich müde vor mich hin döste, poppte in der Vorschlagsliste ein Video auf, das einen Mann mittleren Alters mit halblangen dunklen Haaren und ein paar Silbersträhnen zeigte. Er trug ein weißes Hemd und seine dunklen Augen blickten mich intensiv an. Sein Blick schien tiefer zu gehen als der Blick normaler Menschen. Etwas in seinen Augen faszinierte mich, das erregte meine Neugier und hielt mich ab, wegzuschauen. Seine Augen zogen mich magisch in den Bann. Ich klickte auf das Video und saß dann fasziniert vor Braco‘s gebendem Blick. Mir kam das Gefühl, ich könne mich gar nicht sattsehen an seinem Blick, einfach unglaublich! Meine Augen schienen an seinen zu kleben. Ich wunderte mich maßlos und schaute das Video gleich mehrmals hintereinander an. Angestrengt versuchte ich zu begreifen, was Braco, der "kleine Bruder“, da eigentlich tat.


Aufgrund meiner Hypnose-Ausbildung, hielt ich seine faszinierende Ausstrahlung für eine Art Hypnose. Doch, selbst bei professionellen Hypnotiseuren, hatte ich noch nie eine so tiefe innere Ruhe erfahren wie hier. In den sieben Minuten seines Blicks konnte er spürbar eine Seelenverbindung herstellen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich dieses Video mit Braco‘s Blick anschaute. Ich verbrachte eine ganze Weile damit und kehrte auch an den nächsten Abenden wieder zu Braco’s Blick zurück. Manchmal hatte ich dabei den Eindruck, als schiene die Welt für einen Moment stillzustehen, so, als würden Planetenbewegungen angehalten und das Universum befände sich im Haltezustand, komisch! Ich spürte und sah deutlich, wie silbrig-weißes Licht zu mir kam, das irgendwie lebendig vibrierte und meine Energie veränderte. Der ganze Raum um mich herum schien irgendwie in dieser Vibration lebendig zu werden. Ich staunte, beobachtete und spürte, wie sich meine Stimmung hob und die trüben Gedanken nach und nach wie vom Wind weggeblasen erschienen. Als das geschah, wurde ich so neugierig auf Braco, der mir unverwandt seelenruhig in die Augen blickte, dass ich anfing nachzuforschen, wer er war und, was es mit diesem magischen Blick auf sich hatte. Ich las über ihn und seine Vergangenheit mit dem Propheten Ivica. Seitdem hat mich Braco’s Blick nicht mehr losgelassen. Ich saß noch bis in die Puppen vor dem Computer, konnte mich nicht abwenden und bestaunte die Heilungszeugnisse der Besucher seiner weltweiten Veranstaltungen.

Das geschah im Frühjahr 2013, als ich wirklich, mit meinem Latein und meinen Nerven, völlig am Ende war und nicht wusste, wie ich die störrische Deli und ihre Bedürfnisse noch mit meiner Ganztagsarbeit inklusive der unbezahlten Überstunden und dazu unsere beiden kleinen Singlehaushalte unter einen Hut bringen sollte. Deli weigerte sich immer mehr, vor die Tür zu gehen. Sie saß nur noch mürrisch auf der grünen alten Velourcouch und grübelte über das Sterben nach. Auf vernünftige Ratschläge hörte sie schon lange nicht mehr.

An den nächsten Tagen vertiefte ich meine Braco-Forschungen und gelangte irgendwann an einen Punkt der inneren Einkehr, von dem es kein Zurück mehr gab. Ich spürte, dass etwas Besonderes am Werke war, eine Art Engel-Energie, die mein Leben intelligent neu zu organisieren und neue Prioritäten zu setzen schien. Alles, was ich in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte, Operngesang, Bücher und meine Sehnsüchte und Träume, alles blieb auf der Strecke durch den Dschungel des Alltags mit Deli und den Dämonen. Es kam mir oft vor, als sei mein normales Dasein in einen Abgrund oder eine Bergspalte gerutscht und mir einfach so durch die Finger geglitten, in eine dunkle Ungewissheit, von der ich nicht wusste, wann sie enden würde.

Ich war schon erschöpft durch den Vollzeitjob für ein Team aus zwei Chefs und 20 Kollegen, obwohl es im Büro recht gesittet zuging. Und doch fühlte ich mich ausgelaugt, wenn ich abends heimkam. Deli saß den lieben langen Tag daheim in ihrer Droschkenkutscherhaltung, grübelnd oder an besseren Tagen in der kleinen Wohnküche am Fenster, um die Nachbarn und Vorübergehenden auf dem Innenhof zu beobachten. Von denen wusste sie so gut wie alles über ihre Beziehungen und die Kinder. Daheim kümmerte sie sich nicht mehr um die Wohnung. Sie ließ alles vergammeln, räumte kaum auf, putzte und spülte sehr nachlässig. Der Haushalt wurde mehr und mehr zum Desaster. Delis Gemütszustand und ihr oft aggressives Verhalten zehrten an meinen Nerven viel mehr als sämtliche Kollegen und der Stress im Büro. In mir entstand mit der Zeit eine große Leere, eine Art Vakuum, das nur von der sanften heiteren Energie von Bracos Blick durchbrochen wurde. Dann fühlte ich mich manchmal wie von Engelsschwingen getragen. All diese Veränderungen kamen überraschend, unbegreiflich, schleichend, dass auch der Verstand sie nicht nachvollziehen konnte. Der Alltag war wie verhext, denn, nach jedem kleinen Aufschwung bei Deli, den ich mit einem seligen Lächeln begrüßte, ging es hernach noch tiefer bergab in den Abgrund.

Wieder saß ich eines Abends vor dem Computer und starrte gebannt in Bracos Augen, da stand plötzlich die Zeit still. Ich betrat einen Raum innerer Leere, so als ob alles plötzlich verschwinden würde. Das geschah in Sekundenbruchteilen, mein Denken geriet außer Funktion. Der Verstand blieb stehen wie eine Küchenuhr, das Plappern des inneren Dialoges stoppte. Die innere Stimme fand einfach keine Worte und hatte vor Schreck, bei ihrem üblichen Gebrabbel von überflüssigen Kommentaren, den roten Faden verloren. Mir fiel einfach gar nichts mehr ein, ich war nur da und erlebte das aus der Beobachterposition. Ich lächelte und seufzte tief. Dann empfand ich eine erfrischende Ruhe und eine Art Heiterkeit im Innern. Eine unbekannte Lust, einfach drauflos zu lachen über das ganze Drama unseres Erdendaseins, blubberte wie die allererste Fontäne eines Springbrunnens aus meinem Bauch herauf. Seit Jahren hatte ich wahrhaftig mit Deli so gut wie nichts mehr zu lachen gehabt, ganz im Gegenteil. Oft hatte ich mich dann, sehnsüchtig, an die gute alte Zeit, am Mädchengymnasium in Düren, erinnert, als ich dreizehn war.


Deli auf dem Balkon an der Nähmaschine

Wir wohnten in Norddüren im Ausländerviertel. Deli hatte mit der Änderungsschneiderei alle Hände voll zu tun, da blieb oft keine Zeit zum Kochen und so machten wir mittags eine Sahnetortenschlacht, mit den Torten, die wir bei der Bäckerei in der Nachbarschaft kauften. Mit ihren geschickten Händen besserte Deli so unsere schmale Haushaltskasse auf und saß oft nächtelang, Nadel und Faden schwingend, auf dem großen alten Werktisch im Badezimmer. Unser Bad war ein langer Schlauch und der einzige Ort, wo sie ihre Nähmaschine und den Tisch hatte aufstellen können. Manchmal lag ich abends in der Badewanne, schaute ihr bei der Arbeit zu und wir lachten Tränen, wenn sie ihre kölschen Witze zum Besten gab. Mir kamen nun Tränen liebevoller Erinnerung, als ich an unsere Verschwörung vor 40 Jahren dachte. Wir hielten dicht und verrieten Vati nie, dass Deli keine Zeit hatte, mittags zu kochen und wir uns oft mit Sahnetorte den Bauch vollschlugen.

2013 war dann in München wirklich der Anfang vom Ende. Ich saß abends daheim vor dem Bildschirm: ratlos, orientierungslos, total ausgebrannt. Mit der Kraft der allerletzten Hoffnung saß ich nachts oft vor Bracos Livestream und seinen Videos auf DVD, die ich inzwischen von den Events mitgebracht hatte. Damit verdrängte ich meine Sorgen. Trotzdem wurde mir im Laufe einiger Wochen mit Braco klar, dass mein bisheriges Leben zu Ende war. Eine neue Ära musste anbrechen, aber wie, wo und wann, wusste ich nicht. Mühsam hatte ich viele Jahre in meine Operngesangsausbildung und die Stimme investiert. Am Ende waren Lehrbücher über Belcanto dabei herausgekommen. Doch, während der letzten Jahre, war auch meine Stimme, die ein Barometer für meinen Seelenzustand war, trotz meines umfangreichen Repertoires an Arien, wie ein Brunnen in der Wüste ausgetrocknet. Ich war ins Schweigen gefallen, fühlte mich fast nur noch in völliger Stille und Einsamkeit wohl. Mit Deli konnte ich oft diese Stille teilen, denn sie wurde auch von Tag zu Tag wortkarger, sprach nie mehr als nötig. Trotzdem fühlten wir uns gemeinsam wohl bei diesem Schweigen. Wir saßen oft beim Frühstück beieinander, still vertraut, schlürften Kaffee und Tee und starrten in das Flämmchen der Kerze, die ich auf den Tisch gestellt hatte. Dabei genoss Deli meine Anwesenheit sehr. Nur, wenn sie schlecht gelaunt war, aggressiv oder unruhig, musste ich mich fernhalten, Sie war dann ungenießbar und ich versank nach kleinen Auseinandersetzungen mit ihr jedesmal in Trübsal.

Da munterte mich Braco’s Blick am Wochenende wieder auf, wenn ich mich in meiner Not für einige Tage in eine Art Abstinenz von Menschen und Gedanken zurückzog, um neue Kraft zu schöpfen. Ich versuchte mich von den Sorgen zu lösen, denn ich war in den vorangegangenen drei Jahren immer stiller und einsamer geworden. Soziale Kontakte waren abgebröckelt, nach und nach ganz verschwunden; ich blieb daheim und ging tief in mich. Aus meiner lange zurückliegenden Scheidung, bei der, vor Jahren, meine Stimme zum ersten Mal zerbrochen war, wusste ich, dass meine Stimme das Barometer für mein Befinden ist. Ich verstummte und ließ es zu. Doch dabei nutzte ich meine einsamen Abende, nachzuforschen, wer Braco wirklich war: ich las und googelte alles, was ich an Details im Internet fand. Die erstaunlichen Heilungszeugnisse der Menschen, die seit 1995 zu Braco kamen, bewegten mich tief. Da war von regelrechten Wundern die Rede, von Heilung von Krebs, Diabetes, psychischen Belastungen, Nervenkrankheiten und so-gar angeborenen Anomalien. Braco hatte etwas, das spürte ich, nach dem ich tief in meinem Inneren suchte, eine Nahrung, die Kraft gab, ein Quäntchen stilles Glück, das ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Er besaß eine Leichtigkeit und Schlichtheit, ja eine Bescheidenheit, die sein Schweigen beredt machte und seine Präsenz heilend wirken ließ. Manchmal konnte sich sogar Deli dafür begeistern und saß mit mir vor dem Computer, um Braco’s Videos anzuschauen. Dann sah ich selten genug wieder ein Lächeln über ihre Züge huschen. Ja, Braco’s Blick tat ihr gut, obwohl sie irgendwie Angst vor einer Begegnung mit ihm hatte.

Niemand unter meinen zahlreichen irdischen Lehrern und Meistern hatte mir je die Frage nach dem Sinn des Daseins und vor allem nach dem Sinn solchen Leidens, wie es Alzheimer Patienten haben, beantworten können. Ich krankte an der täglichen Anteilnahme an Deli’s Leiden mit ihrer Trübsal, den Selbstmordgedanken und der Verzweiflung, ganz zu schweigen von den körperlichen Beschwerden, wie häufigen Durchfällen oder Atemnot und Schwere in den Beinen, die sie außerdem noch hatte. Mit Braco gab es nun eine stille Hoffnung ohne Worte. Mit jedem Blick, den ich mit Braco auf Videos verbrachte, wurde mir ein wenig leichter ums Herz. Ich wurde dann sehr neugierig auf seine persönliche Präsenz. Die Faszination, die die erste Begegnung ausgelöst hatte, ist mir noch immer gegenwärtig, als wäre es heute gewesen. Ich schöpfte Hoffnung, dass er Deli helfen könne, ihren wohlverdienten Lebensabend zu genießen.

Braco war meine allerletzte Hoffnung, denn alles andere hatte schon versagt: die Beratungen bei der geriatrischen Psychiatrie, bei der wir eine kettenrauchende Sozialhelferin angetroffen hatten, die Hilfsangebote von Pflegediensten, die keine Vertrauensperson stellen konnten, die Therapeutin, die ins Haus kam, diverse Putzhilfen, die das Handtuch warfen, manche Begegnungsstätte, die zu weit weg war, Ärzte, die sich nicht trauten, Deli einzuweisen und vieles andere mehr. Deli klebte an mir, wie eine Klette und hatte vor allen Fremden tierische Angst. Den Job, sie zu unterstützten, konnte ich nicht einfach an den Nagel hängen, eher hätte ich meiner Firma kündigen können. Doch wovon sollten wir dann existieren. Delis winzige Rente hätte für uns nie gereicht.

Begeistert brachte ich deswegen Deli die frohe Botschaft von Braco und von den Tausenden von Heilungszeugnissen, in denen Menschen von unheilbaren jahrzehntelangen Beschwerden und Leiden, körperlicher, psychischer und seelischer Art, erlöst worden waren. Meine Hoffnung, auch sie würde von den Alzheimer Dämonen befreit werden, wuchs, als ich noch eine Falldarstellung entdeckte, wie eine alte Dame von totaler Hilflosigkeit und Alzheimer Symptomen mit über 70 Jahren völlig genesen war und sich wieder selbst versorgen konnte. So schöpfte ich große Hoffnung, ich könnte Deli auf jeden Fall vor der Einlieferung in die Psychiatrie bewahren, wie schon einmal 10 Jahre zuvor.

Oft nahm ich in Braco’s Gegenwart wahr, dass sich der Raum um mich herum aufhellte. Das geschah, sobald ich seinem Blick begegnete oder seine Stimme hörte. Es war, als würde die Sonne aufgehen, in meinem Herzen und auch ringsherum in meinem Zimmer. Manchmal fühlte es sich so an, als hätte ich den Himmel mit den Fingerspitzen berührt! „Es werde Licht!“ Dachte ich oft lächelnd, denn mit der Erschaffung des Lichts, hatte laut der Bibel alles vor ewig langer Zeit im leeren dunklen Raum des Weltalls angefangen. „Es werde Licht!!“ Murmelte ich oft in Deli’s Gegenwart unbemerkt. Denn ich hatte noch immer Hoffnung auf Besserung. Ich war wild entschlossen, sie den Fängen der dunklen Mächten zu entreißen, von denen wir nicht wussten, woher sie kamen. Ich wollte unbedingt herausfinden, was hinter dem Phänomen auf der grünen alten Velourcouch steckte und Deli’s frühere Frohnatur zurückholen. Ich war mir sicher, Braco würde mir dabei helfen.


Braco’s Sonnensymbol im Onyxraum

Braco - kleiner Bruder, großer Engel

Подняться наверх