Читать книгу Die Ungeliebten - Anita Florian - Страница 3
Kapitel 1, im Jahr 1969
ОглавлениеDie Ungeliebten
1. Teil
Der Nebel wurde immer dichter und hüllte das weite Tal in ein graues Meer. Die Sicht war schon nach zwei Metern abgeschnitten. Die nasse Hauptstrasse schien fast wie leergefegt, schwach glänzte sie im Licht der Straßenbeleuchtung. Ab und zu fuhr ein einsames Fahrzeug entlang, wohl, um schnell nach Hause zu kommen. Scheinwerfer tauchten aus dem Nichts auf und verschwanden genauso schnell wieder. Die Dämmerung setzte ein, rasch begann es dunkel zu werden. Niemand sah die junge Frau am linken Straßenrand, die hinter sich ein kleines Mädchen mitzerrte, sich laufend zu ihr hinabbeugte und immer wieder auf sie einredete. Mitte November, es hatte zu nieseln begonnen, das Wetter verschlechterte sich zunehmend. Die Frau hatte es offensichtlich sehr eilig, riss ständig am Arm des Mädchens, dem es eindeutig zu schnell vorwärts ging. Manchmal glitt ihr Blick an eines der Häuser, wo beleuchtete Fenster, die durch den grauen Nebelschleier trübe durchschimmerten, ein gemütliches Heim verrieten. Ihre Schritte wurden schneller, doch immer wieder blieb sie stehen, das Mädchen konnte kaum mithalten, ihr kleines Gesicht war verzerrt vor Schwäche. Die schmale, junge Frau setzte all ihre Kraft ein, denn sie erstrebte so schnell wie möglich, noch bevor die Schwärze der Nacht sie endgültig einkreiste, ihr Ziel zu erreichen. In der Linken hielt sie die kleine, kalte Hand des kleinen Mädchens und zog unentwegt an ihr. Rechts trug sie eine alte, verschlissene Reisetasche, die aus allen Nähten zu platzen drohte. Sie waren die einzigen Fußgänger, die sich an diesem regnerischen, unfreundlichen Spätnachmittag ins Freie wagten.
Da tauchte wieder ein Scheinwerfer eines Autos auf, die Frau winkte heftig dem Fahrzeug entgegen, aber es brauste schnell mit lautem Motorgeheul vorbei. Vermutlich hatte es der Fahrer eilig, oder er hatte sie bewusst nicht wahrgenommen. Nun waren sie auf ihre Beine angewiesen, die allmählich schwer wurden und zu schmerzen begannen. Vor allem das Mädchen kämpfte tapfer gegen ihre aufsteigende Müdigkeit an. Auch die Schuhe begannen zu drücken. Bald würden ein paar schmerzhafte Blasen an den Versen und Zehen sprießen. Nur keinen Gedanken daran verschwenden, nur rasch vorwärts, dachte die Frau verdrossen, und so ließen sie sich nicht aufhalten. Als sei der Teufel hinter ihnen her, eilten sie voran, nicht die kleinste Verschnaufpause gönnte sich die junge Frau und dem müden, quengelten Kind.
„Müssen wir noch lange laufen? Mama, nicht so schnell… Mama, bitte“, jammerte das Kind ungeduldig. Das Mädchen atmete schnell und blieb auf einmal abrupt stehen. Sie wollte keinen einzigen Schritt mehr vor ihren Fuß setzen. Die junge Frau, die ebenso müde und erschöpft die langen, nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, zerrte wieder an der kleinen Hand des Mädchens und trieb es unentwegt an tapfer zu bleiben und weiter zu laufen.
„Bernadette, komm, sieh mal, die Schule, die wirst du nächstes Jahr besuchen, darauf kannst du dich jetzt schon freuen. “ Sie ließ kurz die Hand des Mädchens los und deutete mit dem Zeigefinger kurz nach vorne. Ein helles Gebäude tat sich vor ihnen wie ein Geisterhaus auf. Über der großen Eingangstür stand in riesigen Blockbuchstaben „VOLKSSCHULE“ geschrieben. Durch die Nebelschwaden hindurch sah es beinahe unheimlich aus. Die Mutter versuchte das Kind abzulenken, das Kind aber blickte mit ihren feuchten Augen zu Boden und schüttelte trotzig den Kopf. „Wir haben es bald geschafft, los, vorwärts“, die junge Frau kannte kein Erbarmen, und rief: „Komm, vorwärts los, es dauert nicht mehr lange.“ Mit aller Kraft schlenderte sie den langen Weg mit ihrer Mutter entlang die wieder ihren Arm packte und hart nach vorne mitzerrte.
Nun konnten sie die Abbiegung, die links abzweigte, sehen, das kleine Kino trat in ihr Blickfeld, das ruhig und verlassen am Straßenrand lag. Gleich daneben stand die Schule, hier mussten sie die Straße einbiegen, der größte Teil des Weges lag zum Glück schon hinter ihnen. Den kleinen Ort hatten sie nach der mühsamen Wanderung zu guter Letzt doch noch wohlbehalten erreicht. Sie las die Ortstafel und nickte zufrieden. Sie konnte es kaum glauben und sogen die frische Herbstluft tief in ihre Lungen ein. Beruhigt holte die Frau einen zerknüllten Zettel aus der Manteltasche und warf unter einer Straßenlaterne einen kurzen Blick darauf. Die wichtigsten Informationen hatte sie sich sorgfältig notiert, kleine Skizzen dazugemalt, damit sie auf dem richtigen Weg blieben und sich nicht verirren konnten. Rasch bogen sie in die Linkskurve ab. Wir haben Glück, dachte die Frau, der Weg ist genau richtig und wir haben uns Gott sei Dank nicht verlaufen. Das Mädchen wurde immer unruhiger, ein Gemisch aus Tränen und Regentropfen rann über ihr Gesicht.
„Es ist genug jetzt, lass dich nicht so ziehen und hör auf zu flennen!“ Verärgert riss sie erneut an der Hand des Mädchens das diesmal vor Schmerz aufschrie. Doch die Frau blieb wieder eisern und beschleunigte ihr Gehen. Der Schein der Laternen leuchtete nur noch schwach durch den immer dichter werdenden Nebel. An manchen Stellen war er so dicht, dass der Frau nichts anderes übrig blieb, als häufig nach unten auf die Strasse zu blicken um auf die Schritte zu achten. Sie liefen schnell an der Schule vorbei und steuerten den Bahnübergang zu. Vor der kleinen Kirche blieb die Frau plötzlich stehen und überlegte kurz, ob sie sich bekreuzigen sollte. Sie empfand plötzlich ein Gefühl der Dankbarkeit und Erleichterung, als sie erschöpft vor dem katholischen Gotteshaus inne hielten und es betrachteten als käme jeden Augenblick der Herrgott persönlich durch das geschlossene, hohe Eingangstor. Gott; an ihn hatte sie eigentlich noch nie geglaubt, er existierte nicht, sie hatte sich noch nie vorstellen können, dass es ihn wahrhaftig geben sollte. Nicht mal als einen alten Mann mit strohweißem Haar und langen Rauschebart, konnte sie ihn sich ausmalen so wie es viele Kinder in ihrer Vorstellung zu glauben pflegten. Jetzt als erwachsene überzeugte Konfessionslose empfand sie dies als widersprüchlich, und wahrscheinlich würde dieses Luftzeichen auch überhaupt nichts nützen. Davon war sie felsenfest überzeugt. Aber gerade in diesem Landkreis war es üblich, einer Religion anzugehören, und zwar der weit verbreitete katholische Glauben der geradezu Pflicht war und Außenseiter von denen bekannt war dass sie nie die Türschwelle einer Kirche betreten werden, eher schief angesehen und nicht die beliebtesten Bürger des jeweiligen Ortes waren. Schon als Kind wurde ihr dies von ihrer Mutter beigebracht und zwangen sie schon in der Schule zum Unterricht, den Kaplan Herald mit Strenge und Autorität führte, aufmerksam mitzumachen und gehorsam zu folgen. Es gab kein Entrinnen, jeder hatte seinen Glauben, seine Bekenntnisse mit Ausnahme ihres Vaters Eduard, der sich so weit wie möglich von den christlichen Geboten fern hielt. Widerreden wurden nicht gestattet, Mutter Freya beharrte streng darauf den Kindern die Erziehung angedeihen zu lassen die sie zu anständigen, liebevollen Ehefrauen machen sollten. Wie oft hatte sie sich das anhören müssen? Sie schien die einzige zu sein, die davon verschont geblieben war und niemals so etwas wie einen Glauben besaß, auch wenn es ihr noch so oft eingetrichtert wurde. Vielleicht gerade dann, wenn die fordernden Worte des Kaplans zu heftig auf sie niederprasselten und sie zwingen wollten, darüber nachzudenken. Das Resultat war ihre Ablehnung, gemischt mit Zorn, den sie dann nur schwer verbergen konnte. Sie war eben nicht zu bekehren und von diesem Standpunkt war sie nicht abzubringen. Nicht einmal in einem erzkonservativen Land, und schon gar nicht jetzt, wo alles so gut lief. Kirchen oder andere Anbetungsstätten waren nichts für sie, alles Humbug, Geldverschwendung und Zeitvergeudung. Worte ihres seligen Vaters, die ihr noch oft in den Ohren hämmerten. Damals, als kleines lebensfrohes Kind, freute sie sich auf die Sonntage nur deshalb, weil es Eduard nur widerwillig erlaubte, sie und ihre Schwester Dorothea in die Messe gehen zu lassen. Der sonntägliche Bettelkampf endlich in die Kirche zu dürfen hatte freilich einen anderen Grund: Nach der endlosen, langen Predigt, als endlich alle aufstanden und zum Ausgang drängten, erst dann kam der ersehnte Moment, worauf sie sich am meisten freuten: Was alle Kinder sehsüchtig begehrten zur damaligen Zeit; in Glanzpapier eingewickelte Bonbons, Schokolade, bunte Zuckerstangen und herrliche Kekse. Eine betagte Witwe, die Kinder sehr liebte, verteilte die süßen Köstlichkeiten nach der Messe vor der Kirchentür und jedes der Kinder bekam leuchtende Augen wenn sie ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt bekamen. Die freundliche Gestalt, selbst der glücklichste Mensch in diesen Augenblicken, genoss die Freude der kleinen Leute mit feuchten Augen. Für Franzine und Dorothea waren dies die einzigen süßen Leckerbissen, die sie als Kind auch außerhalb der Feiertage genießen konnten. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, konnten beide die Weihnachtsfeiertage oder das Osterfest kaum erwarten, denn nach dem Festmahl, dass meistens aus einem fetten Schweinebraten und Semmelknödeln bestand, folgte entweder die Bescherung am Weihnachtstag im Winter, oder im Frühjahr das Osternestsuchen im Freien, was ein wahres Abenteuer für beide bedeutete. Gute Tante Cecilia, von ihr kamen jedes Jahr zwei Pakete mit Büchern und Schokolade, die sie aus Amerika schickte und dies auch nie vergaß. Wie zwei Schneekönige freuten sie sich unter den karg geschmückten Weihnachtsbaum wenn dieses große, eigens für sie bestimmte Paket mit wildem Eifer öffneten und wie die hungrigen Tiere über das Naschzeug herfielen. Oder das gut gefüllte Osternest, das versteckt im frisch angebauten Gemüsegarten hinter einem Erdhügel unter einem aufblühenden Fliederstrauch auf sie wartete. Ein großes mit grünem Seidenpapier ausgelegtes Vogelnest mit Hartgekochten bunt gefärbten Eiern, Schokoladeneiern und Schokohasen, ließen sie vor Freude jubeln. All das lag nun schon lange Jahre zurück, doch manchmal erinnerte sie sich noch an diese unbeschwerten Zeiten die mit der heutigen mit nichts mehr zu vergleichen waren. Ihr Vater aber, ein überzeugter Atheist, scheute diesen Kirchenkram, wie er es verächtlich nannte, wie der Teufel das Weihwasser. Ihre Mutter musste sonntags zu Hause bleiben, denn Vater verbot ihr den Kirchgang und alles was nur in Entferntesten damit zu tun hatte. Kein Rosenkranz wurde im Haus geduldet. Freya litt manchmal an den Vorsätzen ihres Gatten, doch sie blieb stumm.
Franzine unterließ diese Geste, packte die Hand ihrer Tochter und beide marschierten schnellen Schrittes wieder vorwärts. Nach ein paar Minuten schlichen sich bei ihr Bedenken ein, sollte sie nun, oder sollte sie nicht? Gerade in ländlichem Gebiet sollte man sich bekreuzigen, vor allem dann, wenn man nur zwei Meter vor der Kirchentüre entfernt inne hielt und sie anstarrte. Wenn das nun der Gemeindepfarrer aus dem Hinterhalt wahrgenommen hat, vielleicht stand er irgendwo in der Nähe am Fenster und sah gerade zufällig auf die Straße? Soll er doch…, dachte sie, ich mag sie nun mal nicht, diese dicken, leiernden Geistlichen in den langen Gewändern. Bei diesem Wetter konnte er sie ohnedies nicht erkennen, und in die Kirche bringen sie keine zehn Pferde mehr. Er konnte ihr also nichts anhaben. Sie besann sich nun schnell wieder anders. Doch die nagenden Bedenken regten sich in ihr, die in ihre Seele durchzudringen versuchten und sich unaufhaltsam ins Gewissen einnisten wollten. Sie atmete tief ein, die kühle Luft verlieh ihr wieder etwas Frische. Die aufdringenden Zweifel hatten mit einem mal keine Chance mehr, sie schüttelte sie wie Wassertropfen von sich ab. Schluss damit, weg mit diesen quälenden Gedanken, sonst lähmen sie mich zu sehr. Die junge Frau hob den Kopf und lächelte. Sie dachte an Ignazia, die genau zur richtigen Zeit in ihr Leben trat. Sie war es, die mich da rausgeholt hat, die mir einen neuen Lebensweg zeigte. Sie war es, die mir Mut zusprach und sie ermöglichte es schließlich auch, dass wir jetzt ein Dach über den Kopf haben, unter dem wir bald in Ruhe leben werden. Und so konzentrierte sie sich nur noch auf ihr neues Heim, auf ihre Unabhängigkeit und auf Bernadette, ihrer fünfjährigen Tochter, die sie nun mit aller Kraft die sie noch aufbringen konnte, an der Hand in ein besseres Leben mitschleifte. Mühsam erreichten sie endlich den Bahnübergang. Die Schranken waren hochgezogen, der alte Bahnhof lag rechts im blassen Dämmerlicht ruhig da. Es ist fast geschafft, dachte sie, ich kann es kaum erwarten, wir gehen in unser neues, eigenes Zuhause. Allein der Gedanke daran, verlieh ihr eine ungeahnte, körperliche Kraft die sie immer weiter vorwärts trieb. Lächelnd sah sie zu ihrer kleinen Tochter hinab, die weinend und trotzig neben ihr herschritt. Beim Überqueren der Bahngleise stieg auf einmal ein beklemmendes Gefühl hoch, die Erinnerungen waren noch frisch, obwohl es erst 3 Wochen zurücklag was damals geschehen war. Doch ihr Mut war größer, diese schrecklichen Erinnerungen sollten keine Gewalt über sie bekommen. Einfach nicht mehr daran denken und weitermarschieren. Es lohnte sich nicht darüber nachzudenken. Nicht jetzt. Es würde im Augenblick nichts daran ändern. Sie wollte wie ein Felsen in der Brandung sein, eine starke, aufrechte Persönlichkeit, dass für sich und ihr Kind allein aufkommen konnte. Die ersten Schritte waren mühevoll, doch sie waren die richtigen. Sie mussten es schaffen, und sie werden es auch schaffen! Das Bahngelände lag bald hinter ihnen, die dunkelgraue Straße auf der sie vorwärts schritten begann sie fast zu lieben. Die Strasse in die Freiheit!
Als sie auf der ersten der drei Brücken standen, sahen sie über das Gelände nach unten. Tiefe Schwärze bereitete sich aus, nur ein leises, schwaches Plätschern drang nach oben. Der tief unten liegende Fluss schien schon sehr müde zu sein. Gleich danach kamen sie zur zweiten Brücke, der kleine Kanal, der gemütlich in seinem künstlich gemauerten Flussbett hinunter floss, konnten sie ebenso wenig sehen, nur die betonierten Uferränder waren an beiden Seiten gerade noch zu erkennen. Die Straßenlaternen gaben jetzt noch schwächere Beleuchtung ab, gerade so viel, dass sie den Weg, wenn sie gut aufpassten, ungehindert fortsetzen konnten. Nur ein paar Schritte weiter tauchte ein kleiner Gemischtwarenladen auf, er war kaum zu sehen in der Dämmerung und dem schlechten Wetter, aber es war genau dieser kleine Laden, den Ignazia gemeint hatte. Knapp davor erreichten sie noch die dritte und letzte Brücke. Im Gegensatz zu den beiden anderen Flüssen, schien dieser das Leben selbst zu sein. Im Grunde war es kein Fluss, sondern ein wild hinabbrausender Bach dem es fast zu eng in seinem Bett wurde. Sein lautes Rauschen beängstigte sie ein wenig, aneinander festhaltend liefen sie schnell über den Brückensteg. Wieder links führte eine kleine Pflastersteinstrasse, umgeben von Feldern und ein paar einfach errichteten Wohnhäusern in ihr neues Daheim. Kein einziges Mal kamen sie in der Dämmerung vom Weg ab, der Orientierungssinn der jungen Frau war gut ausgeprägt und somit sparten sie auch Zeit. Am Ufer des wilden Baches war eine große, stolze Trauerweide gewachsen, die riesig, wie ein Gigant, plötzlich vor ihnen in die Höhe ragte. Ihre Zweige neigten sich kraftlos zur Erde. Ihre stattliche Größe ließ den Baum wie einen überdimensionalen Wächter wirken, der jedem, der die kleine Strasse einbog, das Gefühl erweckte, gut beschützt und geborgen daheim anzukommen. Die Äste und Zweige konnte man im Nebel und der Dämmerung nur schemenhaft erkennen. Ihre Baumwipfel ragten weit und ausgedehnt empor, die nackten Zweige hingen traurig an allen Seiten nach unten. Das Mädchen sah sich den Baum staunend an, ihr Kopf folgte ihrer Höhe bis in den Abendhimmel. Gegenüber stand das kleine Geschäft mit seinen hübsch dekorierten Auslagen. Hinter den vier Scheiben waren Textilien und modische Kleider, die drei gut angezogene Schaufensterpuppen einladend präsentierten, ausgestellt. Die Frau bestaunte die Waren und überlegte gleichzeitig, dass sie morgen wieder zurückkommen und sich die Sachen genauer anschauen wolle. Ein paar Ideen konnten nicht schaden und ein bisschen Anregung holen kostete schließlich nichts. Am Vordereingang kam man in den Lebensmittelgeschäftsbereich. Alles lag in Reichweite, die Preise waren günstig und schon nach ein paar Minuten zu Fuß leicht zu erreichen. Ignazia hatte auch daran gedacht. Die junge Frau strahlte glücklich. Ignazia legte den beiden ein kleines Paradies vor die Füße. Wie sollte sie ihr das nur danken?
Der Regen wurde stärker. Rasch bogen sie in die kleine Strasse ein. Das kleine Mädchen hatte nasse Haare die unter der Mütze hervorlugten und ein nasses, triefendes Gesicht, atmete schwer und schnell. Ihre Mutter, die ebenso erschöpft und nass immer wieder ihre langen Haare aus der Stirn strich, seufzte und schüttelte den Kopf. Laufend musste sie das Kind beruhigen. Aber schon bald erreichten sie die kleine Siedlung. Edengasse 59, ihr neues Zuhause, die endlich erlangte Freiheit. Sie waren früher als gedacht angekommen. Müde, aber zufrieden blieben sie vor einen Zaun stehen. Die schwere Tasche stellte die Frau unsanft auf den nassen Boden ab, schüttelte ihre klamme Hand und rieb sich danach die Hände. Ein großes Aufatmen…. endlich angekommen! Sie verschnauften eine kleine Weile und am liebsten hätte die Frau vor Freude laut aufgeschrieen. Wir sind da, ein eigenes Dach über den Kopf, da ist es nun, wir brauchen nur noch hineinzugehen und anfangen zu wohnen! Alleine leben, alleine entscheiden, tun und lassen was man gerade begehrt und niemand ist hier, der etwas auszusetzen hat. Ein fremdes Gefühl, ein wohliges Gefühl, ein völlig ungewohntes Gefühl, dass sie beinahe vergessen hatte. Sie beugte sich zu ihrem Kind hinunter und küsste es auf die Wange. Mit feuchten, glücklichen Gesichtern betrachteten sie das Haus. Der Nebel verflüchtigte sich nun etwas und stellenweise löste er sich schon auf. Das ist ein gutes Zeichen, war sie stolz überzeugt.
Vier Familien hatten in dem Haus Platz. Dies verrieten vier Schwachbeleuchtete, verschlissene Namensschilder die neben dem Zaun in einem kleinen Zementpfahl eingemauert waren. Nur eines war unbeschriftet, ihres, aber schon bald würde auch ihr Name darin stehen. Franzine Tennenbach; sie lächelte, denn es verlieh ihr ein Gefühl von Selbstständigkeit und Stolz. Sie zog ein Taschentuch aus der Manteltasche, wischte ihrer Tochter und sich selbst das Gesicht ab. Es wird wunderbar hier zu leben sein, war sie sich sicher; nicht so hektisch wie in der Stadt, wo alle in riesigen Betonkästen hausten und sich gegenseitig das Leben schwer machten. Besser konnten wir es gar nicht erwarten. Eine alte, hölzerne Umzäunung umgab das mit Holzschindeln betäfelte Haus, das kleine Gartentürchen mit altmodischem Riegel war geschlossen. Ein paar Augenblicke lang erkundeten sie die Umgebung. Die Außenlampe, die über der Eingangstür angebracht war, ließ mit ihren matten Strahl in das Innere des Zaunes blicken. Dahinter befand ein kleiner Vorgarten der liebevoll angelegt war. Links gab es einen kleinen Rasen mit zwei blattlosen Bäumen darin, geduldig wartend auf den nächsten Frühling. Sorgfältig zurück gestutzte Rosensträucher taten es nach, umkreisten die kleine Fläche mit ihren stumpfen Zweigen. Rund ums Haus führte ein angelegter Weg, dicht mit weißen Kieselsteinen ausgestreut. Zwei kleine Gärtchen, das eine mit einem ebenfalls kahlen Baum, das andere mit einer winzigen Wiesenfläche gehörten zur rechten Seite. Kein einziges Laubblatt war auf dem Boden zu finden, der kleine Kieselweg war sorgfältig glattgerecht.
„Das sieht doch hübsch aus, im Frühjahr wird es hier wunderbar blühen, “ sagte die Frau, „gefällt es dir? Na komm, gehen wir rein“. Schnell nahm sie ihr Kind und zog der Kleinen lachend die Mütze über die Augen und stupste ihr auf die Nase. Sie öffnete das kleine Tor und beide schritten langsam den Eingang zu. Ein paar Steinstufen führten zur Haustüre, ihre Schritte hallten laut in der Stille.
Die Wohnung lag im ersten Stock, die Weißgestrichene Eingangstüre befand sich links der Treppe, der dazu passende Schlüssel lag unter der Fußmatte genau in die Mitte geschoben, so wie es Ignazia bestens organisiert und Franzine genauestens erklärt hatte.
Ein kleiner, dunkler Vorraum tat sich auf, die Toilette war rechts zu finden, Küche und Zimmer befanden sich geradeaus durch die alte Holztüre die sie langsam öffneten. Es gab kein Badezimmer, nicht mal eine Blechbadewanne war vorhanden. Die Wohnung war sehr einfach und dürftig eingerichtet bot aber trotzdem ein behagliches Bild ab: Links in der Küche stand ein alter Tischherd mit Holz oder Kohle zu beheizen, eine Gelbgestrichene Anrichte stand mit viel Stauraum daneben, dann die Spüle, rechts stand eine alte Bettbank, davor ein abgenutzter Tisch mit zwei uralten Stühlen. Das Schlafzimmer bestand aus einem Doppelbett und einem großen Schrank, eine Psyche mit Spiegel stand verlassen an der leeren linken Wand, der alte Holzfußboden gab bei jedem Schritt ein knarrendes Geräusch von sich. Die Wände waren kalkweiß gestrichen, kein einziges Bild war an ihnen zu finden. Der einzige Farbtupfer war der billige Bodenbelag in der Küche, der gelb mit roten und grünen Kästchen gemustert war.
Ein Karton stand auf dem Küchenboden. Während sich die Mutter hinkniete und sich um den Inhalt kümmerte, stand die Kleine stumm daneben und beobachtete sie neugierig. Sie packte ein Paket Suppennudeln aus, ein paar Suppenwürfel, ein paar Löffel Zucker abgepackt in einem Nylonsäckchen, Teebeutel die lose darin lagen, ein Paket Reis, sechs Stück Eier die sogar ganz geblieben sind, Kartoffeln, eine Dose konservierte Linsen und weißes Mehl, abgefüllt in einer Keksdose, ein Säckchen Salz, ein achtel Kilogramm Butter und einen halben Laib Brot, sie nahm die Lebensmittel und räumte alles in den Schrank. Keine Bonbons, keine Schokolade. Kein Kuchen. Fürs erste waren sie wenigstens versorgt, der Vorrat würde für ein paar Tage ausreichen. Ein Geschenk des Himmels.
Das kleine Mädchen zitterte vor Kälte, bittend sah sie zu ihrer Mutter hoch. Sie schüttelte traurig den Kopf, zuckte mit den Schultern und suchte in ihrer Tasche nach einem Handtuch.
„Komm, nimm die Mütze ab, ich trockne dir die Haare“. Mit dem Handtuch rieb die Frau ihr den Kopf, danach kämmte sie ihre halblangen Haare die von der Nässe ziemlich verfilzt waren. Das Mädchen versuchte tapfer zu bleiben, obwohl es wehtat, wenn ihre Mutter vergaß, das Haarbüschel zurückzuhalten. Doch auch das ging vorüber. Es war eiskalt in der Wohnung und die Frau meinte, dass es für heute besser wäre, früh ins Bett zu gehen. „Es wird bestimmt wärmer unter der Decke sein, nicht wahr“, die Frau nieste, „wir müssen uns dringend aufwärmen.“ Das Mädchen nickte. Die Suche nach einer Wärmeflasche blieb erfolglos, doch die durchgefrorenen Füße mussten sie irgendwie warm bekommen. Mir wird schon was einfallen, dachte die Frau, die Kleine muss sich unbedingt aufwärmen, ich will nicht, dass sie womöglich noch krank wird.
Jemand klopfte heftig an die Außentüre. Die beiden sahen sich erschrocken in die nassen Gesichter. Wer konnte denn schon Bescheid wissen dass sie gerade in dieser Minute angekommen sind? Ein unsicheres Gefühl beschlich sie kurz, nein, unmöglich, keine Menschenseele kannte sie hier in der neuen Gegend, niemand ist ihnen auf den Weg begegnet und es gab auch keinen der sie verfolgt hätte. Ganz ruhig bleiben, durchatmen. Sollte sie hingehen und öffnen? Langsam schritt die Frau zur Eingangstüre und öffnete sie zögernd, ohne vorher zu fragen, wer sich draußen befände. Eine schlampige ältere Frau stand auf der Matte, die sich krampfhaft um ein freundliches Lächeln bemühte. Dieses unfeine Wesen blickte ihr starr in die Augen, aus ihrem Mund schimmerten nikotinverfärbte Zähne hervor. Verwundert bemerkte die Mutter dass sie hinter ihrem schmutzigen Hauskleid etwas verbarg. Die Fremde schielte ihr grinsend entgegen und stellte sich als Frau Edler vor. Sie musterte Franzine mit einigen neugierigen Blicken und grinste ihr unverschämt ins Gesicht.
Das muss wohl die Nachbarin sein, dachte die Mutter, die gegenüberliegende Tür stand einen Spalt breit offen. Langsam holte die Schielende einen Umschlag hervor und tastete daran herum als wolle sie unbedingt den Inhalt erraten. Es kümmerte sie nicht im Geringsten, dass der Brief für ihre neue Nachbarin bestimmt war, sie drückte noch an den Brief herum bevor sie ihn der neuen Nachbarin übergab. Neugierde war eines ihrer Schwächen, das war offensichtlich. Die junge Frau sah geduldig diesem seltsamen Verhalten zu, doch sie wagte nicht, etwas zu sagen.
„Guten Tag“, sagte die Schielende schroff, „sind Sie Frau Tennenbach, Franzine Tennenbach? Das hat gestern jemand für Sie abgegeben, aber fragen Sie mich nicht, wer es war.“
„Ja, ich bin gerade angekommen“, antwortete die junge Frau, überrascht dass sie kaum eingezogen, und schon Post für sie da war.
Zitternd hielt ihr die Schielende den dicken Umschlag unter das Kinn. „Da, nehmen Sie ruhig, was da wohl drin sein mag?“ Sie grinste hämisch. Neugierig betrachtete sie Franzine und das Kind, auffällig musterte sie sie von oben bis unten. Zögernd nahm die Mutter den Umschlag entgegen. Ihr Herz begann zu klopfen.
„Ihre Tochter, die Kleine?“ Bernadette versteckte sich hinter den Mantel ihrer Mutter und lugte scheu hervor. „Ja, das ist Bernadette, “ erwiderte sie höflich, „ komm und sag Frau Edler Guten Tag.“ Zögernd kam Bernadette hervor, reichte der Schielenden die Hand und grüßte sie mit leiser Stimme.
Alkoholgeruch verbreitete sich, die neue Nachbarin hatte wohl einiges getrunken und stand etwas wackelig auf den Beinen. Sie hielt sich am Türstock fest und ihr breites Grinsen konnte sie immer noch nicht abstellen.
„Danke, das ist sehr nett von Ihnen.“ Franzine drehte sich etwas zur Seite, der eklige Geruch der aus ihrem Mund kam, widerte sie an. Der Schielenden schien das nichts auszumachen.
Ein lautes Rülpsen durchbrach das Gespräch. Eine grölende Männerstimme tönte von gegenüber heraus: „Albine, hol mir noch drei Flaschen Bier ausm Keller.“ „Ja, ja komm ja schon, Udo“, rief sie laut zurück, seelenruhig drehte sich die Schielende um und verschwand wieder in ihrer Wohnung.
Alkoholiker, durchfuhr es Franzine, ich hoffe bloß, dass sie friedlich bleiben werden. Nun, die Nachbarn konnte man sich in dieser Situation nicht aussuchen. Sie beschloss so freundlich wie möglich zu bleiben und nicht anzuecken, denn solche Menschen könnten vielleicht sehr unangenehm werden.
Es wird sich alles zum Guten wenden, war sie überzeugt. Die Freude über ihr neues Heim übertraf all ihre Erwartungen. Auch mit den neuen Nachbarn wird sie ihr Auskommen finden, einfach die Freundlichkeit bewahren, dann gibt es auch keinen Ärger, lenkte sie ihre Gedanken ins Positive. Schließlich sind nicht alle Menschen Alkoholiker, oder Fanatiker, oder Verfolger, hier beginnt das Leben von vorne. Mit Bernadette und mit viel Hoffnung auf eine unbeschwerte Zukunft ließ sie sich nicht beirren. Nichts konnte sie davon abhalten. Mit dieser Überzeugung kam sie wieder zurück in die Küche und beäugte den Umschlag. In der Hoffnung dass es keine Verwechslung war, riss sie den Umschlag hastig auf. Ihr Gesicht begann zu leuchten.
„Hör dir das an Bernadette, das ist von Ignazia “ strahlte sie „ lass den Mantel an, setz dich hin, ich lese dir vor.“ Die Kleine setzte sich auf einen Stuhl und hörte gespannt zu. Ihr Gesicht strahlte ebenso, denn das konnte nur etwas Erfreuliches bedeuten.
„Meine lieben Zwei“, begann Franzine zu lesen, „ ich hoffe ihr seid gut angekommen, ich konnte leider nichts besseres für euch auftreiben, aber fürs erste reicht es wohl. Der Vormieter hat noch etwas Brennstoff im Keller gelassen, macht es euch schön warm. Die Miete ist nicht all zu hoch, du wirst mit Bernadette hier glücklicher sein, du wirst sie in Frieden aufwachsen sehn. Hier schicke ich euch ein bisschen Geld, ich weiß, du hättest es ja niemals angenommen wenn ich es dir in die Hand gedrückt hätte, aber auf diesem Weg musst du es annehmen, ich bestehe darauf.
Es wird euch den Start erleichtern, Kopf hoch, du wirst es schaffen! Dein neues Leben kann beginnen, schau nicht zurück, blicke nach vorne, wo sich die Welt vor dir auftun wird. In zwei Tagen ist es soweit, dann geht es ab nach Kanada, Roman und ich sind mitten in den Vorbereitungen, die Reise wird sicher anstrengend werden, aber wir hoffen, dass es sich lohnen wird.
Ich werde mich in regelmäßigen Abständen bei dir melden und dir berichten. Gib der Kleinen einen dicken Kuss von mir, kauf ihr ein paar Süßigkeiten, die isst sie ja so gerne.
Die Kinderbücher bekommt sie auch, an Weihnachten, Ostern und Geburtstagen wird ein Paket bei dir ankommen, eine Bekannte daheim wird sie abschicken, sie liest ja jetzt schon sehr gut, sie werden ihr bestimmt Freude machen.
Ich wünsche Euch beiden viel Glück, ich drücke Dir die Daumen für dein Vorstellungsgespräch morgen im Krankenhaus. Grüß Bernadette ganz lieb von mir.
Ignazia
„Ist das nicht wunderbar Bernadette, “ die junge Frau wedelte mit zwei Geldscheinen in der Luft, „wir werden das alles schon meistern, nicht wahr?“ Die Kleine nickte lächelnd.
Im Umschlag befanden sich noch zweihundert Schilling, die Ignazia in Zeitungspapier eingewickelt und in den Brief gesteckt hatte. Es ist schon lange her, das sie zwei Geldscheine in der Hand gehalten hatte, sie konnte sich kaum noch daran erinnern. Das Mädchen blinzelte ihre Mutter an die auf sie zukam und sie heftig an sich drückte. Beide in dicken Mänteln eingepackt, erschöpft und durchgefroren, sahen nach langer Zeit wieder glücklich aus. Vom Treppenhaus hörten sie Schritte, die Nachbarin holte für ihren Mann das Bier aus dem Keller.
Die junge Frau säuberte den Herd von der alten Asche und füllte den kleinen Schacht, der an der rechten Seite im Ofen eingelassen war, mit kaltem Wasser, danach suchte sie alles was sie dazu brauchte, um Feuer zu machen. Sie fand noch Holz in der Kiste, die gleich neben dem Herd stand und in einer Lade befanden sich auch Streichhölzer, altes Papier zum Anheizen gab es in Fülle und bald war es in der Wohnung wohlig warm. Das Wasser im Schacht erwärmte sich schnell, die junge Frau schöpfte es mit einer Kelle in eine alte Waschschüssel, die sie noch unter dem Spülschrank fand. Beide setzten sich eng auf einem Sessel, die Mäntel legten sie über ihre Schultern. Sie zogen die Schuhe und ihre Strümpfe aus und ließen ihre kalten Füße in das angenehme warme Wasser gleiten. Die wohltuende Wärme, die sich langsam von ihren Beinen in ihren Körpern ausbreitete, ließ sie sanft ermüden.
***
Am nächsten Tag wachten sie ausgeruht, aber ziemlich durchgefroren auf. Obwohl sie ihre Mäntel über die dünnen Bettdecken gelegt hatten um mehr Wärme abzubekommen, sahen sie sich am Morgen zähneklappernd in die Augen. Das Feuer war schon längst erloschen, die Wohnung kühlte in der Nacht erbarmungslos ab.
„Wie hast du denn geschlafen?“ die Mutter zog die Decke des Mädchens hoch und sah ihr besorgt in das Gesicht. Bernadette sagte: „Ganz gut“, und nickte, obwohl sie vor Kälte zitterte. Die Mäntel auf den Decken gaben kaum Wärme ab.
„Bleib schön liegen, ich mache Feuer, hoffentlich finde ich noch Kleinholz zum Anheizen.“
Zitternd stand die Mutter auf, rieb sich beide Arme, pustete in die Handhöhlen und ging in die Küche. Bernadette lag fröstelnd im Bett und holte sich noch den Mantel der Mutter und legte ihn auch noch auf ihre Bettdecke dazu. Ganz ruhig wartete sie auf das Knistern des Feuers. Sie wusste nicht warum sie hier waren, warum sie so schnell laufen mussten, warum sie niemanden was erzählen durften.
Der Hunger meldete sich. Sie nahm ein unangenehmes Knurren im Bauch wahr, ein bekannter Zustand, den sie schon öfters in letzter Zeit ertragen mußte. Sie war daran gewöhnt.
Mama würde bald etwas zu Essen bringen, sie wird zuerst Feuer machen und den Teekessel aufstellen. Bernadette kroch noch weiter unter die Decke mit den Mänteln und zog sie bis zur Nasenspitze hoch.
„Mein Gott“, hörte Bernadette ihre Mutter plötzlich durch die Tür rufen, „dieser Qualm, oh nein, was ist hier los?“ Franzine geriet in Aufregung, fing an zu husten und bekam fast keine Luft mehr. „Meine Güte, das Rohr ist verstopft!“ rief sie ärgerlich, aus dem Kamin, in dem das Ofenrohr angebracht war, kam beißender Rauch der sich rasch in der Küche ausbreitete. „Nein, auch das noch, gestern hat das Ding noch funktioniert.“ In ihrer Aufregung wusste sie nicht, was sie tun sollte und rannte hustend in der Küche auf und ab. Fast geriet sie in Panik, doch sie behielt die Fassung und blieb einigermaßen ruhig. Scharfer Gasgeruch stieg ihr in die Nase, immer mehr dunkelgrauer Rauch strömte aus dem Kamin und sammelte sich in der Küche an. Die Tür zum Schlafzimmer ließ sie geschlossen, Bernadette sollte nichts davon mitkriegen. Sie rannte zum Küchenfenster und riss es hastig auf. Mit einem Tuch wollte sie den Qualm loswerden und versuchte ihn ins Freie zu wacheln. Schließlich gelang es ihr, eine große Rauchwolke trat aus dem Fenster vom ersten Stock hinaus die langsam gen Himmel emporstieg. Zum Glück sah niemand von den Anwohnern die Bescherung, womöglich hätte noch jemand die Feuerwehr gerufen. Sie hantierte noch eine Weile am alten Tischherd herum, packte das Rohr und versuchte es zu rütteln. Ein Knall ertönte, und mit einem Mal zog es den Rauch in das Innere des Schornsteines, dort, wo er auch hingehörte. „Brav, brav“, lobte sie den Ofen, als wäre er ein artiges Kind, der es sich nun doch anders überlegt hatte und in seinem Bauch das Feuer entfachen ließ. Rußflocken schwirrten noch vor ihrem Gesicht herum und sie hatte Mühe, alles wieder zu säubern. Endlich züngelten die Flämmchen in seinem Inneren. Das Feuer flackerte auf und bald knisterte es behaglich. Frische Luft erfüllte den Raum und Franzine beruhigte sich allmählich wieder und schloss das Fenster wieder zu. Am Spülenrand fand sie noch einen alten Seifenrest und wusch sich mit eiskaltem Leitungswasser das Gesicht ab. Der alte Teekessel gab bald seinen Pfeifton von sich, sie kochte noch zwei Eier für Bernadette die sie in einem Teller aufschlug und mit etwas Salz würzte. Eine Scheibe Brot gab es dazu und fertig war das Frühstück für Bernadette. Sie selbst musste wieder mit leerem Bauch über den Vormittag kommen. Bernadette indessen lag noch im Doppelbett und bewegte sich nicht. Sie wartete. Sie war hungrig und hatte Angst. Sie hatte nicht viel geschlafen, aber das sollte ihre Mutter lieber nicht erfahren.
Der Morgen war trübe, der Nebel stieg höher und die Kälte hielt sich hartnäckig.
Raureif lag auf den Wiesen, das alte Haus barst vor Kälte.
***
Fröstelnd und zitternd wartete Franzine schon am frühen Morgen am verlassenen Bahnsteig auf den Regionalzug, der laut Fahrplan in ein paar Minuten einlaufen würde. Nun war es soweit, sie hatte ein Vorstellungsgespräch mit dem Verwalter des Krankenhauses im Nachbarort den Ignazia für sie vereinbart hatte. Die Freude auf das Ungewisse, auf eine wirkliche Arbeit, die sogar bezahlt wurde war größer als die innere Unruhe, die sie schon vor geraumer Zeit überfallen hatte. Trotz größter Bemühung konnte sie sich kaum beruhigen, doch die Freude überragte alles. Es war ein großer Tag für Franzine, die Aussicht auf eine gut bezahlte Arbeit ließ sie trotz allem glücklich lächeln. Aufgeregt und voller Hoffnung stieg sie in den Zug und setzte sich an einem Fensterplatz wo sie die vorbei fliegende, zur Winterruhe verabschiedende Landschaft, beobachten konnte. Sie musste an ihre kleine Tochter denken, die sie gleich am ersten Tag alleine zu Hause zurückgelassen hatte und nun für ein paar Stunden auf sich allein gestellt war. Sie war sich ungewiss, wie lange sie wegbleiben würde, wann sie den nächsten Anschluss wieder nach Hause bekäme, ob sie die Zusage für die neue Arbeit erhalten werde und welche beschwerlichen Aufgaben auf sie zukommen könnten. Viele Gedanken schweiften ihr durch den Kopf, vor allem die schwierige Anfangszeit musste mit Zähneknirschen überstanden werden. Dass es kein leichter Einstieg, vor allem für eine ungelernte Kraft nicht arglos zu bewältigen sei, war ihr ohnedies klar. Sie blinzelte heftig mit den Augenlidern als die Sonne endlich erschien, die sie stark durch das Fenster zu blenden begann, während sie gedankenverloren in ihrem Abteil saß und sich im Stillen auf ihren Auftritt bei ihren zukünftigen Chef vorbereitete.
Im neuen Zuhause lehnte Bernadette unterhalb des Fensters an der Mauer und streckte sich mit angespannten Zehenspitzen empor. Mit aller Anstrengung versuchte sie krampfhaft einen Blick nach draußen zu erhaschen. Sie reichte kaum über das hervorstehende Fensterbrett, nur die Baumspitzen des nahe liegenden Waldes konnte sie kurz erspähen. Der kleine Fußschemel mit der abgesplitterten weißen Lackierung stand genau vor ihren kleinen kalten, bloßen Zehen, den sie in ihrer Neugier zuerst gar nicht bemerkt hatte. Zurechtgerückt und ans Fensterbrett geklammert stieg sie auf das kalte Möbelstück. Erst am späteren Vormittag wurde es heller, der Nebel begann sich langsam aufzulösen. Es versprach ein freundlicherer Tag zu werden. Bernadette starrte durch die Fensterscheibe. Friedliche Natur umhüllte die stille Gegend, kein menschlicher Laut war zu hören. Der nahe liegende Wald, der sich hinter den kleinen Hof emporhob, war noch im Nebel eingehüllt. Nur das Rauschen der Bäume war leise zu hören. Sollte sie es wagen und nach draußen gehen? Hatte ihre Mutter die Tür verschlossen? Sie sprang vom Schemel und rannte zur Außentür, packte die Türklinke und zog sie nach unten. Sie war offen, Franzine hatte die Türe unverschlossen gelassen. Sie zögerte, zitterte vor Kälte besann sich dann aber anders und ging wieder in die Küche zurück.
Stille umhüllte sie, eine beinahe unheimliche Stille die fast schon zu laut war. Das alte Radio, das auf der Anrichte platziert war, starrte sie schweigend an. Hatte dieser alte Kasten schon ausgedient? Bernadette schaute auf die Knöpfe, die in der Mitte schon ziemlich abgenutzt waren und überlegte, ob sie eine dieser Tasten, oder sogar alle auf einmal einfach drücken sollte. Sie mochte Musik, sie konnte dabei träumen und sich nach den Melodien rhythmisch bewegen. Natürlich nur dann, wenn niemand in der Nähe war und sie niemand beobachten konnte, wenn sie sich allein fühlte oder traurig war. Ihre Mutter würde das nicht verstehen, sie würde wahrscheinlich sogar lachen wenn sie sie tanzen sähe, denn sie mochte Musik nicht besonders gerne. Musik zerre an ihren Nerven, meinte sie oft. Gibt es tatsächlich Menschen die Musik nicht leiden können? Bernadette konnte das nicht verstehen, sie mochte moderne, auch klassische Musik, auch wenn sie nicht wusste, von wem sie stammte oder woher sie kam. So zog sie es vor, auf ihre Mutter zu warten und unterließ es, auf den Knöpfen zu drücken, obwohl es eine zu große Verlockung wäre, aber sie wollte auf keinen Fall etwas kaputt machen.
Sie fühlte sich einsam. In der neuen Wohnung gleich nach der ersten Nacht alleine gelassen, bereitete ihr Unbehagen. Ein mulmiges Gefühl kroch in ihr hoch, doch sie kämpfte tapfer dagegen an.
Nein, Angst wollte sie nicht haben…das haben nur Feiglinge. Nur die Einsamkeit spürte sie in diesen Momenten noch heftiger, ein Gefühl, dass sie auch schon sehr früh erfahren musste. War es denn nicht schon immer so gewesen?
Sie stieg auf dem Schemel und drückte die Nase an die Fensterscheibe. Niemand war zu sehen, es schien fast so, als wäre sie der einzige Mensch auf der Erdoberfläche. Nur die Natur bewegte sich, sie betrachtete die Nebelschwaden die langsam vorbeizogen, die stumpfen Baumzweige und Wipfel die sich bewegten, der unsichtbare Wind und die welken Grashalme die sich träge wippten.
Die offene Tür fiel ihr wieder ein. Ihre Mutter hatte ihr verboten, dass sie allein nach draußen ginge, sie solle warten bis sie wieder zu Hause sei. Sie hatte einen Hund im Parterre bellen gehört und das klang in ihren Ohren sehr gefährlich. Sie hatte panische Angst vor diesen Tieren, der Bogen um sie herum konnte nicht weit genug sein. Hatte einer von den Nachbarn einen scharfen Hund im Haus? Nur deshalb durfte sie nicht vor die Türe? Sollte sie es doch wagen? Schließlich würde es ihre Mutter ohnehin nicht merken, sie würde nicht so bald nach Hause kommen. Ihre Neugierde wurde stärker, vermutlich hatte sie gar nicht die Wahrheit gesagt. Sie lauschte. Stille. Kein Bellen war zu vernehmen. Vor Hunden empfand Bernadette keine Angst, im Gegenteil, die liebte diese Tiere über alles. Rasch schlüpfte sie in ihre alten Stiefel.
Vorsichtig öffnete sie die Eingangstüre…. Die Luft war rein, kein Mensch war zu sehen. Sie lief die knarrende Holztreppe hinunter, öffnete die Haustüre, rannte die Steinstufen hinab und stand mitten im Garten. Nur mit einem dünnen Pullover und einer Stoffhose bekleidet sah sie sich um. Am Himmel zeichnete sich die gelbe Scheibe der Sonne durch den Nebel ab, es wird nicht mehr lange dauern und sie wird ihre Strahlen in voller Pracht zur Erde senden. Langsam schritt Bernadette vorwärts, den hellem großem Haus entgegen, dass ihr schon gestern aufgefallen war. Noch immer begegnete ihr keine Menschenseele, in der Ferne erschallte das Tuten der Eisenbahn. Sie fror, aber das drang ihr nicht ins Bewusstsein.
***
Udo Edler kam aus dem Zimmer, setzte sich zum Tisch und schlug mit der flachen Hand auf die Platte.
„Du bist noch immer nicht angezogen“, schimpfte seine Frau Albine die gerade den Kaffee aufgoss. Mit langärmligem Unterhemd, einer alten grauen Hose mit herunterhängenden Hosenträgern, war er nicht gerade das Abbild eines gepflegten Mannes. Trotzdem ging er einer regelmäßigen Arbeit nach. Schichtarbeiter in einem der führenden Stahlwerke zu sein, war zwar nicht gerade ein erstrebenswerter Beruf, aber das Einkommen langte für die Miete, das Nötigste zu Essen und Alkohol. Vor allem der Alkohol hatte bei den Edlers schon Einzug gehalten, als die beiden Söhne, Roman und Curt, noch zur Schule gingen. Lautstarke Auseinandersetzungen, vor allen an den Wochenenden, ließen sich nicht vermeiden, denn wenn Udo blau war, stritt er sich ständig mit seiner Frau. Albine, die erst viel später zum Alkohol griff, war dies schon längst gewöhnt. Meistens versuchte sie ihren Mann aus dem Weg zu gehen, doch das war schwierig in der kleinen Zwei-Zimmer Wohnung. Stundenlang auf der Toilette zu hocken und warten bis er sich von selbst beruhigte, hatte sie schon längst aufgegeben. Es sei denn, das er es wieder einmal all zu arg trieb, dann zog er mit zornigen Augen den Ledergürtel aus seiner Hose. Meistens schlug er damit nur auf die Tischplatte. Doch auch Albine hatte es schon erwischt, unabsichtlich, wie er dann später beteuerte. Aggressionsabbau einmal anders. Dann begann sie manchmal eine Flasche Bier aus einer der Kisten zu stibitzen, die im Keller sorgfältig aufgeschlichtet waren. Das war natürlich das Eigentum ihres Ehemannes, der so gut wie nie den Keller betrat, stets seine Frau losschickte, um die Flaschen für ihn zu holen. Langsam begann auch sie zu trinken. Anfangs nahm sie nur eine Flasche, kostete einen Schluck und bald wurden aus den winzigen Schlucken wahre Bäche, die sie sich gierig in ihren Bauch goss. Schon nach kurzer Zeit fand sie Gefallen an dem Geschmack und den Glückszustand, den sie schon bald nicht mehr missen wollte. Rasch wurde es zur Gewohnheit und so stieg der Alkoholkonsum ständig an. Udo hatte also eine Verbündete im Haus, seine eigene Ehefrau. Trotzdem vermied sie es, vor den Kindern oder vor Udo Alkohol zu trinken. Sie schämte sich. Udo machte sich keinen Hehl daraus, gleich nach dem Aufstehen, noch vor dem Frühstück, köpfte er die erste Flasche, setzte sie an seinem Mund und im Nu war der Inhalt in seine Blutbahn geflossen. Dieses Bild bot sich täglich, aber Albine blieb stumm.
„ Hast du die Frau drüben schon gesehen?“ begann sie zu sprechen während ihr Mann am Tisch lümmelte.
„Wo soll ich die denn gesehen haben, sind doch erst seit gestern hier.“ Albine stellte zwei große Becher Kaffee auf den Tisch.
„Milch!“ fuhr Udo sie an und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Bin schon dabei“, dieser Ton war bei Udo schon längst zur Gewohnheit geworden, also wozu sich gleich in der Früh aufregen, also tat Albine das was ihr geheißen. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch, rührte ihren Kaffee um, obwohl sie keinen Zucker nahm. Udo schlürfte laut an seinem heißen Getränk und zündete sich gierig eine Zigarette an.
„Die Frau hat Angst, große Angst“, sagte Albine zu ihrem Mann gewandt, der sich mit der linken Hand über seine Bartstoppeln fuhr.
„Vor was denn, das bildest du dir ein“, er zeigte keinerlei Interesse.
„Nein, sie war ziemlich erschrocken als sie mir gestern öffnete, als würde sie gerade einen Geist ins Antlitz blicken.“ Albine goss sich noch Kaffee nach.
„Kein Wunder, bei deinem Anblick“, spöttelte Udo, auch daran war Albine schon längst gewöhnt. Sie überhörte seine Anspielungen, wich geschickt aus, wenn Udo wieder einen seiner angriffslustigen Tage hatte.
„Das Kind ist recht niedlich, ein scheues Wesen, hat sich sofort hinter dem Mantel der Mutter versteckt, blinzelte unentwegt hervor, ich musste fast lachen, war irgendwie lustig anzusehen.“ Sie steckte sich ebenfalls eine Zigarette an.
„Hast du ihr den Brief gegeben?“ wollte Udo sofort wissen.
„Natürlich, ich habe ihn nicht aufgemacht, keine Sorge.“ Sie grinste.
„Ich kenne doch deine Neugierde“, warf Udo ein, „sag mir jetzt die Wahrheit!“ Er klang etwas aufgebracht, neugierige Frauen konnte er nicht ausstehen, und auch bei Albine gab es keine Ausnahme.
„Ich habe den Umschlag nur an das Fensterlicht gehalten, ich habe ihn hin und her gedreht, ein paar Zeilen mit der Schreibmaschine getippt ist drin, nichts mit der Hand geschrieben, hab’s aber auch nicht entziffern können, die Buchstaben schimmerten zu unklar durch. Ich hab’s ja Ignazia versprechen müssen ihn rüberzubringen, du weißt schon, sie kam vor ein paar Tagen angerannt und bekniete mich förmlich, dass ich ihr den Gefallen tue.“ Sie zog kräftig an ihrer Zigarette und blies den Rauch in Udos Richtung. Udo aber hörte schon längst nicht mehr zu. Ihn interessierte das alles nicht. Er kannte seine Frau nur zu gut. Er räusperte sich und wollte mit dem Kram seiner Gattin nichts zu tun haben.
„Bring mir das Rasierzeug und vergiss den Spiegel nicht!“ befahl er ihr. Albine stand auf und holte aus dem Schlafzimmer Rasierpinsel, Seife, Rasiermesser und aus der Küche eine Schale mit Wasser. Gerade als Udo wieder aufbrausen wollte, brachte Albine den kleinen Spiegel und knallte ihn auf den Tisch. Udo pflegte sich immer am Küchentisch zu rasieren, dabei konnte er bequem auf seinem Sessel sitzen bleiben. Obwohl dies Albine gar nicht gerne sah, und es ihr lieber wäre, dass er aufstünde und seine morgendliche Rasur an der Spüle verrichten solle, zog sie es vor, ihn lieber nicht darauf aufmerksam zu machen. Er hatte noch bis zu Mittag Zeit bis er zur Arbeit musste. Albine fürchtete, dass er dann schlecht gelaunt und streitlüstern abends wieder auftauchen würde. Im nüchternen Zustand war er noch unausstehlicher, seinen angestauten Ärger ließ er an der armen Ehefrau ab und Albine blieb nichts anderes übrig als wieder die Toilettentür hinter sich abzuschließen und darauf warten, bis sich ihr Mann wieder beruhigte. In der folgenden Woche begann Udos Schicht um 14 Uhr und endete um 22 Uhr abends. Diese Nachmittage wo sie meistens alleine zu Hause war, liebte sie geradezu, ein paar Flaschen Bier hatte sie sich schon bei Seite geschafft. In meiner Kellerecke werde ich mir ein paar Schlucke genehmigen, dachte sie, wohl wissend, dass mehrere Flaschen daran glauben mussten.
„Wer bist du denn?“ Bernadette drehte sich erschrocken um. Vor ihr stand ein molliges, kleines Mädchen, dass gerade aus einem der beiden Hauseingängen gelaufen kam. Bernadette blickte in ein Paar blitzblaue Augen, die Kleine schien in ihrem Alter zu sein und war etwas kleiner als sie. In der Hand hielt sie einen riesigen roten, klebrigen Zuckerlutscher an dem sie dauernd leckte. Die handgestrickte graue Weste war ihr viel zu eng, die graue Strickhose war zu kurz und spannte eng über ihre kräftigen Waden. Am Kopf trug sie eine Mütze aus demselben Material, sicher von ihrer Mutter angefertigt. Die blonden Haare guckten wie kurze Strohstoppeln hervor.
„Ich heiße Bernadette“, sagte sie leise, „und wie heißt du?“
„Tanja heiß ich, magst du mal ablecken?“ und hielt ihr den tiefroten Lutscher unter die Nase. Bernadette schüttelte den Kopf. Vormittags zu naschen wurde ihr noch niemals erlaubt, obwohl sie die Verlockung reizte, doch sie wollte lieber nichts riskieren. Den süßen Geschmack würde sie nur zu gerne genießen, aber sie wusste, Süßes verleitet doch zu noch viel mehr von diesen Zeug. Irgendwo hatte sie gehört, dass Süßes am Morgen den Magen verderben könnte, Bauchschmerzen verursachen und sogar ins Krankenhaus könnte sie kommen. Das wollte sie nicht herausfordern und verzichtete auf die verlockende Köstlichkeit. Die rote Zuckerscheibe am dünnen Stiel, den Tanja fest umklammert hielt, leuchtete tiefrot in der Sonne. Auch Tanjas Zunge hatte die rote Farbe schon angenommen.
Tanja musterte nun das neue Mädchen mit neugierigen Blicken. Bernadette starrte sie ernst an und wartete bis sie wieder zu sprechen begann. Sie selbst hatte nicht den Mut, den Anfang zu machen.
„Ist dir nicht kalt, meine Mutter würde mich nicht so….“, sie zeigte mit ihren kleinen, dicken Zeigefinger auf sie, „ ins Freie lassen.“ Tanja fiel Bernadettes leichte Kleidung auf und machte ein lautes „brr“. Erst jetzt bemerkte Bernadette, dass sie ihren Mantel nicht angezogen hatte, er lag noch auf dem Bett. Ihre Mutter dürfte sie nicht so leicht bekleidet sehen, das wäre ein Anlass, sie fürchterlich auszuschimpfen und schlimmstenfalls käme auch die Strafe eines Hausarrests auf sie zu.
Sie fror nicht mehr, die Sonne schien mittlerweile und gab ein wenig Wärme ab. Die Temperatur stieg ein wenig an.
„ Hab ich vergessen, meine Mutter ist nicht da“, antwortete Bernadette schüchtern und starrte auf Tanjas Lutscher.
„Ach so, meine schon, die ist drinnen, wir wohnen gleich da…..“ Tanja zeigte mit ihren dicken Finger an ein Fenster im Parterre, dass gleich darauf aufgerissen wurde und eine resolute Frauenstimme rief: „ Tanja, komm sofort herein, Essen ist fertig!“
„Servus, “ rief sie, „ du hast ja gehört, es gibt Essen.“ Und weg war sie und lief wie ein Blitz in den Hauseingang zurück.
Jetzt hörte Bernadette auch die Kirchenglocken vom Dorfplatz herüber läuten, das bedeutete, dass es Mittag ist, Punkt 12 Uhr. Schnell rannte sie wieder zurück. Das kleine Gartentor wurde aufgerissen und Udo Edler trat mit wackeligen Schritten aus dem Vorgarten, beugte sich zur Seite und spuckte einen riesigen Batzen gelber Spucke auf den Boden. Bernadette erschrak und blickte diesen böse dreinblickenden Mann mitten in das rote, aufgedunsene Gesicht. Er nahm keine Notiz von ihr und entfernte sich rasch in Richtung Landstraße. Er hustete laut, während er seine Zigarette hastig zum Mund führte und immerzu gierig daran zog. Langsam schritt Bernadette wieder in das Haus zurück und bemerkte die offene Kellertür, die neben der Treppe angelehnt war und schwach an das Schloss schlug. Ein kalter Lufthauch erfasste sie kurz, fröstelnd zuckte sie zusammen. Neugierde überfiel sie plötzlich wieder, langsam öffnete sie die Tür und erspähte eine helle, gewundene Steintreppe, die tief in den Keller hinab führte. Ängstlich tapste sie nach unten, die kalten Finger legte sie an die eisige Mauer und suchte nach Halt. Tapfer arbeitete sie sich Stufe um Stufe immer weiter in die Tiefe. Modergeruch stach ihr in die Nase, als sie in den dunklen Keller anlangte. Vorsichtig blickte sie sich um, Lichtfetzen traten durch die zwei eng gelegenen, gewölbten Fenster, die hoch oben unter der Decke etwas Sonnenlicht durchließen. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, die Umrisse wurden bald klarer. Nun konnte sie gut erkennen, wo die Lattentüren zu den einzelnen Abteilen führten und was dahinter gelagert war. Riesige, weiße Bottiche aus Plastik standen herum, die mit einem großen, roten Deckel zugeschraubt waren. Hastig packte sie einen der Deckel und drehte ihn rasch auf, was ihr auf Anhieb mühelos gelang. Voller Neugierde stellte sie sich auf die Zehenspitzen und guckte aufgeregt in das weiße Fass. Übler, saurer Geruch erfasste sie auf einmal so heftig, dass ihr für ein paar Sekunden die Luft wegblieb. Schnell warf sie den Deckel wieder auf den Bottich, der Hustenanfall der danach folge, ließ ihr die Tränen in die Augen steigen, ihre Luftröhre zog sich zusammen, einen Augenblick lang glaubte sie zu ersticken. Irgendjemand hatte Essig angesetzt, die braune Flüssigkeit war scharf wie Salzsäure. Langsam atmete sie wieder ein.
Ein klirrendes Geräusch ließ sie herumfahren. Erschrocken legte Bernadette die Hand vor dem Mund. Zum Weglaufen war sie zu neugierig geworden, die aufkeimende Furcht versuchte sie zu verdrängen. Tapfer lenkte sie ihre Schritte an das andere Ende des Kellers. Bernadette lauschte. Und wirklich, nun konnte sie es deutlich hören: Am Ende des Ganges, im letzten Kellerabteil, war ein Mensch, der mit Glas oder Flaschen hantierte. Durch die Latten beobachtete sie eine Gestalt, die mit ruckartigen Bewegungen braune und grüne Glasflaschen zu einem Stapel aufschichtete. Schnell merkte Bernadette, dass die Flaschen leer waren. Anscheinend hielt die Person nach einer gefüllten Flasche Ausschau und suchte fieberhaft danach. Ein mürrisches Raunen war die Folge, der Lärm wurde immer lauter, dann wurde eine Flasche wutentbrannt an die Wand geworfen. Ein Aufschrei folgte sogleich und Bernadette erkannte, dass es eine Frau war, die hier alleine und aufgewühlt nach Etwas suchte. Sie wurde immer unruhiger und grub in den am Boden liegenden Flaschen herum, rutschte auf einmal aus und fiel nach hinten auf den Rücken. Bernadette blieb in ihrem Versteck und überlegte: Muss ich jetzt um Hilfe rufen, hat sie sich was getan? Sie getraute sich nicht zu bewegen, keiner konnte wissen, was dieser Frau vielleicht einfallen könnte, womöglich würde sie ihr in ihrem brennenden Zorn eine Flasche nach ihr werfen. So beobachtete sie die Frau aus ihrem Versteck und fühlte sich in der dunklen Ecke ziemlich sicher. Langsam raffte sich die Gestalt wieder auf, fluchte noch ein paar unflätige Worte vor sich hin und setzte ihre Arbeit fort. Zum Glück war ihr nichts geschehen, wischte sich die Hände an ihrem schmutzigen Kittel ab und hustete stark. Dann packte sie einen Zipfel ihres Kittels, riss ihn an ihr Gesicht und schneutzte sich laut in den Stoff. Bernadette wagte sich nicht zu bewegen, ihr Atem ging leise, ihre Hände hatte sie in die Hosentaschen gesteckt. Die Kälte drang ihr bis in die Knochen, das Zähneklappern konnte sie nur schwach im Zaum halten. Fest hielt sie sich den Mund zu, um das Geräusch abzuschwächen, sie hatte Angst, dass es die Frau wahrnehmen könnte.
„Komm nur raus, du da, ich hab dich schon längst gesehen“, ertönte eine forsche Stimme auf einmal und Bernadette erschrak heftig. Sie überlegte kurz, wagte sich dann langsam aus ihrem Versteck und ging auf das Kellerabteil zu. Es war die schielende Frau von gestern, die ihr höhnisch lächelnd entgegen blickte.
„ Was treibst du hier unten?“ wollte sie wissen und hustete. Stumm blickte sie der offensichtlich berauschten Frau ins Gesicht. „Nichts, ich wollte nur mal schauen…“ brachte Bernadette leise hervor und zitterte vor Angst. „Aha, hast wohl nichts anderes zu tun als hier herumschnüffeln, komm nur näher, ich tu dir nichts. Ich räume hier auf, wie du siehst.“ Bernadette nickte und trat ein paar Schritte näher. Albine Edler lachte laut auf, „na du bist mir eine, sieh mal, die leeren Flaschen hier haben alle ich und mein Mann leergemacht, tolle Leistung, nicht wahr? Aber glaub ja nicht, dass das so schnell gegangen ist, hat Jahre gebraucht.“ Sie bückte sich und hob eine leere Flasche auf um sie am Stapel an der Wand aufzuschlichten.
„Irgendwann müssen wir sie wegbringen, aber dann reden die Leute wieder über uns, die haben ja nichts anderes zu tun als am Fenster zu hängen und alles zu beobachten, die sehen alles. Werden wir wohl in der Nacht tun müssen, wir brauchen auch einen großen Anhänger, der Leiterwagen kommt nicht in Frage, ist außerdem zu klein. Aber was soll’s, ist noch genug Platz hier, “sie wischte sich die Nase am Handrücken ab und schlichtete weiter.
„Ich werde niemanden etwas sagen“, meinte Bernadette und sah ihr bei der Tätigkeit zu.
„Nicht so schlimm, Kleine, mir ist diese selbsternannte „Caritas – Polizei“ schon so egal, so nenne ich diese neugierigen Stümper die nur schlecht über einem reden. Weißt du überhaupt was das ist?“
„Nein“
„Na, das sind so gewisse Leute, die hier in der Gegend wohnen, die alles über jeden wissen, die auf der Lauer liegen, die am Fensterbrett ihre zweite Liegestätte haben, die beobachten jeden Schritt den man macht und dann legen sie los. Wenn man mal was falsch gemacht hat, oder was man so geredet hat, das schnappen die auf und dann wird losgewettert. Die machen das ganz umsonst, weißt du, die kriegen nichts dafür, fühlen sich berechtigt Moralpredigten zu halten, auch wenn es ihnen nicht zusteht. Rein privat machen die das, so als Zeitvertreib, diese Nichtstuer. Nichts als wehren kann man sich immer, diese Brut soll mal den eigenen Dreck vor ihrer Türe wegkehren. Die Caritas ist ja normalerweise eine katholische Institution, die bedürftigen Leuten hilft, aber die suchen sich ihre Mitarbeiter schon selber aus, obwohl sie dort nichts verdienen. “ Albine war ziemlich aufgebracht, anscheinend hatte sie kein gutes Verhältnis zu den Nachbarn. Zumindest bei einigen schien sie richtig im Clinch zu liegen. Der Flaschenberg wurde immer höher, Albine Edler holte sich einen alten Hocker aus der Ecke, um auf dem mittlerweile zu hoch angewachsenen Stapel zu gelangen.
„Soll ich Ihnen helfen?“ fragte Bernadette zögernd, doch Albine winkte ab:
„Nein Kleine, das schaff ich schon alleine, ist aber wirklich lieb von dir, sag mal, ist deine Mutter nicht daheim?“ Bernadette schüttelte den Kopf, sie hatte ganz vergessen, dass ihre Mutter bald nach Hause kommen würde.
„ Du frierst ja“, bemerkte sie auf einmal, „geh lieber nach oben, ist dann nicht meine Schuld, wenn du dir eine saftige Erkältung einfängst. Ich will nicht mit deiner Mutter auch noch anecken. Oh, sieh mal, hab noch eine volle Flasche gefunden, “ sie hielt ihr wachelnd eine Bierflasche entgegen, „die werd ich gleich vernichten, mein Alter braucht das nicht zu wissen.“ Freudig schnappe sie sich einen Flaschenöffner, der auf dem schmutzigen Regal lag, köpfte die Kapsel ab, setzte sie sofort an den Mund und trank mit lautem Schlucken in einem Satz die halbe Flasche leer. Sie stieß ein lautes ‚Ahhh’ aus, als sie die Flasche absetzte.
„Ein wirklich gutes Mittel, um so halbwegs gut über den Tag zu kommen“, meinte sie grinsend und setzte sich auf den alten Holzhocker.
„Willst du mal kosten? Einen kleinen Schluck genehmige ich dir, aber nur zum aufwärmen“, zitternd reichte sie ihr die Flasche hin. Bernadette überlegte nicht lange, nahm die Flasche und trank einen großen Schluck von dem kalten Bier. Albine lachte laut und nickte ihr entgegen.
„Das hat mir gut geschmeckt, hab ich noch nie getrunken“, meinte Bernadette und wischte sich den Mund ab.
„Lass die Finger davon, hast du verstanden? Das ist nichts für dich, wie alt bist du denn überhaupt? In die Schule gehst du bestimmt noch nicht.“
„Nächstes Jahr im Herbst komme ich in die Schule, ich freue mich aber gar nicht, eine Schultasche habe ich auch noch nicht. Vielleicht kriege ich gar keine, die brauche ich aber dann, alle Kinder haben eine Schultasche, nur ich nicht“, vertraute sie Albine traurig an.
„Na, na, na, du hast ja noch viel Zeit bis dahin, zuerst kommt mal das Christkind, vielleicht ist da eine unter deinen Geschenken dabei, und dann hast du noch immer viel Zeit, schließlich drängt sich der Sommer nach dem Frühling noch vor dem Herbst rein, der dauert auch ein paar Monate, glaub mir, du hast noch genug Zeit zum Spielen und Toben bevor es ernst wird. Ohne Schultasche gehst du nicht hin, kannst mir ruhig glauben, da wärst du schon das einzige Kind, du musst eben Geduld haben, deine Tasche bekommst du schon“. Albine trank wieder ein paar große Schlucke Bier.
„Wo ist dein Vater?“ fragte sie plötzlich. Bernadette zuckte mit den Schultern und gab keine Antwort. „Aha“, meinte Albine und schien zu verstehen. „Aber nun lauf los, ich muß hier weitermachen, du erstarrst noch zu einem Eiszapfen, bist ein nettes Mädel, aber jetzt geh schnell hinauf“, sie zwinkerte ihr mit dem schielenden Auge zu. Bernadette machte kehrt und lief wieder in die Wohnung zurück.
Wenig später kam ihre Mutter zurück. Sie hatte eingekauft, der Inhalt ihres Einkaufsnetzes quoll aus allen Ecken. Lauter Lebensmittel, viele gute Sachen, einmal so richtig den Bauch voll schlagen mit köstlichem Essen, das wollte sie sich und ihrer Tochter gleich am ersten Tag nach der Ankunft, gönnen. Sie verspürte richtigen Hunger, ihre Freude konnte sie kaum verbergen und fröhlich lächelnd schlenderte sie, das volle Netz schwenkend, die Treppe nach oben.
Nach dem üblichen Feuermachen begann sie mit dem Kochen. Sie bemerkte, dass ihre kleine Tochter fror und befahl ihr, sich inzwischen den Mantel anzuziehen, es würde schon eine Weile dauern, bis sich die Küche temperierte, es brauchte eben seine Zeit. Bernadette gehorchte.
In die Suppe, die sie aus den Würfeln kochte, kam als Einlage dünne Nudeln, eine Lieblingsspeise Bernadettes. Einen Teller Suppe würde sie jetzt gut vertragen, ihr Magen verlangte nach Nahrung. Als Einstand und zum Aufwärmen, gerade richtig, meinte Franzine und Bernadette freute sich riesig auf das Essen. Ein paar Kartoffeln wurden aufgestellt, die dann zu einem köstlichen Salat zubereitet wurden. Als Hauptgericht, und das machte Bernadette noch fröhlicher, gab es Fischstäbchen. Fischstäbchen! Sie hüpfte vor Freude, als Franzine das Paket hervorholte, richtig geträumt hatte sie schon von dieser knusprigen, toll schmeckenden Köstlichkeit. Bei Tante Annelie gab es einmal Fischstäbchen, damals, als sie zu Besuch bei ihr war und verwundert staunte, als ihr Cousin Torsten mindestes zwölf Stück auf einmal, wie nichts verputzte. Und heute war es wieder soweit, ein wahrer Festtagsschmaus. Als Überraschung hatte Franzine noch eine Tafel Schokolade gekauft, die sie unter den Lebensmitteln versteckt hielt. Die wird Bernadette nach dem Essen bekommen, endlich kann ich ihr eine Freude machen, dachte sie glücklich.
Zum ersten Mal versuchte sich Bernadette im Kartoffelschälen. Es ging zwar sehr langsam von statten, aber Franzine war der Meinung, das es schon Zeit wäre, ihre Tochter mit leichteren Hausarbeiten einzuteilen. Bernadette, die nicht gerade begeistert von dieser Arbeit war, machte die Sache aber recht gut. Aus dem alten Knopfradio ertönte erfrischende Musik, in der Küche bereitete sich Fischgeruch aus, die kleinen vorpanierten Stäbchen, die langsam vor sich, in Öl frittierten, entwickelten sich zur knuspriger Delikatesse. Franzine hackte Zwiebeln für den Kartoffelsalat und beide vergossen Tränen, aber sie lachten sich dabei an. Ein Tischtuch war nicht vorhanden, aber das störte sie nicht, ein nett gedeckter Tisch reichte für den Anfang vollends aus. Liebevoll wurden die Teller platziert und das Besteck in richtiger Reihenfolge daneben gelegt. Bernadette merkte es sich genau, denn das Tischdecken sollte zu ihrer Lieblingsaufgabe werden. Sie erinnerte sich noch an ein paar Glasmurmeln, die sie noch in der Manteltasche versteckt hatte. Spontan holte sie die farbigen Kugeln hervor und legte sie wellenartig oberhalb der Teller dekorativ hin. Franzine war voll des Lobes und danach begannen sie hungrig, aber glücklich zu essen. Danach überreichte sie ihrer strahlenden Tochter die Tafel Schokolade die sie freudig entgegennahm.
Im Schlafzimmer stand Franzine vor der wunderschönen, altmodischen Psyche auf den Zehenspitzen. Im Spiegel bewundernd, der riesig, weit über ihre Körpergröße hinaus empor ragte und ihre ganze Gestalt voll zur Geltung brachte, stützte sie ihre Hände in die schmalen Hüften, zog den ohnehin schon flachen Bauch ein und begutachtete ihre regelmäßig gewachsenen Zähne auf die sie besonders stolz war. Noch nie hatte sie so einen großen Spiegel jemals zu Gesicht bekommen, sie drehte sich im Halbkreis davor, musterte sich und war zufrieden mit dem, was ihr entgegen blickte. Die beiden kleineren Spiegel, die links und rechts angebracht waren, hatte sie zuvor zögernd aufgeklappt. Nun sah sie sich dreimal, von vorne und von jeder Seite, links und rechts. Sie war begeistert, niemals zuvor hatte sie sich so gesehen, das Profil von allen Seiten! Sie fand, dass sie ein bisschen zu dünn, aber ganz gut aussah. Irgendwo in einer Lade fand sie noch eine alte Schere, nahm sie in die Hand und begann langsam ihre Stirnfransen, die ihr lästig in die Augen hingen, zu kürzen.
Sorgfältig schnitt sie über ihren Augenbrauen entlang. Ein perfekter runder Bogen entstand über den braunen Augen, an der Schläfe ließ sie die Haare etwas länger, befeuchtete die Spitzen mit Speichel, bog die Haarsträhne wie einen eisernen Piratenhacken zu einer fast gefährlich aussehenden, dünnen Sichel und formte sie in ihre Wangen. Ihr langes Haar hatte sie zu einer „Bienenkorb“ Frisur hochgesteckt, ein schwarzes Samtband umgab den straff sitzenden Haarknoten und verlieh ihr eine geheimnisvolle Eleganz. Ihre Weiblichkeit trat nun mehr in den Vordergrund, ihre Proportionen waren nicht zu übersehen. In diesem Augenblick wurde sie neu geschaffen, ein neuer Mensch war gerade im Entstehen. Sie näherte sich ihrem Spiegelbild, zog die Unterlippe nach vorne, holte tief Atem und blies nach oben, so dass der neue Pony flatternd in die Luft wehte. Sie war mehr als zufrieden mit ihrem Ergebnis, nahm den Kamm und kämmte voller Stolz den Pony wieder glatt.
Sie musste wieder an Ignazia denken. Sie war nun fort, und niemand wusste, ob sie je wieder zurückkommen würde. Ihre erste, aufrichtige Freundin ging mit ihren Freund ins Ausland, ein Mann, der mit einer anderen Frau verheiratet war, ein Kind mit ihr zeugte, diese Frau aber nie geliebt hatte. Einzig das Kind war der Grund für diese Ehe, die aber nur schlecht funktionierte. Er war sehr gutaussehend, und das wurde ihm oft zum Verhängnis. Obwohl er Ignazia schon lange kannte, konnte er so mancher Frau nicht widerstehen, sie liefen ihm in Scharen nach, ein Kostverächter war er nie gewesen, er genoss die Gesellschaft von jungen Frauen in vollen Zügen die ihn anschmachteten und anhimmelten. Ignazia, die eine Seele aus Gold besitzen musste, liebte ihn aufrichtig, doch sein Verantwortungsgefühl seinem Kind gegenüber war stärker.
Noch längst ist nicht alles ausgeräumt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, seine Entscheidung mit Ignazia nach Kanada zu gehen, sah er als einzig vernünftige Lösung an. Die lästerlichen Stimmen werden mit der Zeit verstummen, seine Frau Stephanie wird jeden Monat einen Scheck erhalten, er würde für beide sorgen, so gut es ihm nur möglich war. Doch die Sehnsucht nach seiner Tochter Marlena plagte ihn, die große Entfernung verstärkte nur seine Qual. Also ließ er sich so oft als möglich Fotos von ihr schicken, er wollte ihre Entwicklung Schritt für Schritt mitverfolgen. Seine Frau war damit sogar einverstanden, obwohl sie vor seiner Abreise schwor, dass er sein Kind nie wieder sehen würde. Ignazias Freund war Roman Edler, der Sohn der neuen Nachbarin.
Ignazia. Sie, der gute Geist, half wo es nur ging. Die einzige Freundin wo sich Franzine aussprechen konnte, die sie auffing, die für sie und ihr Kind immer da war. Sie war es, die Bernadette rettete, niemals aufgab, auch wenn alle anfingen über sie zu lachen. Die Mutige, die vor nichts zurückschreckte, die kämpfte und schließlich auch gewann.
In der Schublade fand Franzine einen nagelneuen Augenbrauenstift und die dazupassende Wimperntusche. Ignazia sorgte für Überraschungen. Freudig nahm Franzine den Stift und strichelte ihre Brauen nach. Fast überall in der Wohnung hinterließ Ignazia Dinge, die sie gut gebrauchen konnten. Im Schrank fand sie zusammengefaltete Wollpullover, Handtücher, Unterwäsche, eine Steghose für Franzine die ihr etwas zu weit war, was aber die Freude nicht trübte, die Zeiten konnten sich schließlich ändern. Herrliche Kleider hingen auf den Bügeln und gut duftende Seifenwürfel lagen überall im Schrank zwischen manch Kleidungsstücken die den Duft aufnahmen. Auch für Bernadette lagen wunderschöne Sachen dabei, für jedes Alter die richtige Größe, Selbstangefertigte Pullis mit komplizierten Mustern, Kleidchen in allen möglichen Farben, für Sommer und Winter, die Ignazia selbst in ihrer Kindheit getragen hatte. Dass sie aus der Mode waren, störte niemanden. Einen alten Bajazzo versteckte Ignazia unter Bernadettes Sachen mit dem sie gerne und oft spielte und ihn zu sich ins Bett nahm. Oft versuchte sie die schwarze Träne abzukratzen, die der traurige Clown an seiner Wange kleben hatte. Unter den Handtüchern waren eine ganze Tüte Bonbons versteckt, die Franzine erst nach ein paar Tagen entdeckte.
Sie hatte ein geschicktes Händchen, was Änderungen an den Kleidungsstücken betraf. Dabei entwickelte sie enorme Kreativität die sie gut anwenden konnte. Kein Mensch käme dann auf die Idee, das dies gebrauchte Textilien waren die sie stolz zur Schau stellten. Gestickte Blumen am Kragen, Tiermotive am Rücken oder Ärmeln, eine Applikation an der Vorderseite, Borten am Saum, aufgenähte Spitzen auf Bernadettes Kleidern brachten die alten Stücke wieder in Schwung.
Seit fast zwei Wochen sind Ignazia und Roman nun abgereist. Der Abschied war schmerzlich, doch herzlich zugleich. Franzine wünschte der Freundin alles Glück der Erde, denn sie wusste, hier hätte sie, als ehebrecherisches Flittchen, keine ruhige Minute mit ihrem Freund verleben können, an dem ihr Herz für immer hängen bleiben sollte. Und Roman, der es bitter bereute, dass er einst seinen Drang freien Lauf ließ, hatte schon längst erkannt, dass er in Ignazia die Frau seines Lebens gefunden hatte. Doch die Fehler ließen sich nicht ausradieren, besser späte Erkenntnis, als gar kein Einsehen. Er verheimlichte nichts vor ihr, sein Ruf war ihm zwar schon vorausgeeilt, doch Ignazia sagte nur: Schwamm drüber, beginnen wir ein neues Leben. Zusammen! Er war mehr als begeistert und dann begannen sie miteinander Pläne zu schmieden. Er nahm die Chance wahr, in Kanada in ein riesiges Holzunternehmen, das ein ausgewandeter Freund vor Jahren aufgebaut hatte, die Leitung zu übernehmen. Schließlich verstand er viel von diesem Geschäft, er hatte in zwei Jahren alles gelernt was dazu nötig war. Er knüpfte Kontakte, sparte sich eisern einen beachtlichen Betrag zusammen, eignete sich alles über Import und Export an und informierte sich über eventuelle neuen Abnehmer. Das neue Leben konnte beginnen, auch wenn es weit weg von der Heimat war. Mit Ignazia an seiner Seite konnte nichts mehr schief gehen.
Franzine vermisste die Freundin so sehr, dass es fast schmerzte. Obwohl sie sich endlich frei glaubte, war sie einsam, auf sich gestellt, alleine mit Bernadette, ihrer kleinen Tochter. Ohne die Eltern oder jeglichen Verwandten alleine durchkommen zu müssen wurde ihr nun auf grausame Weise bewusst. Sie eignete schon in ganz jungen Jahren eine gewisse Selbstständigkeit an die ihr nun zugute kam, die Angst vor der Zukunft aber nicht schmälerte. Die Härte des Lebens traf sie nun mit voller Wucht. Die nötige Kraft schöpfte sie immer wieder aufs Neue wenn sie ihre fröhliche kleine Tochter betrachtete die ungezwungen von all dem nichts ahnte. Sie gab ihr das nötige Durchhaltevermögen und den Willen, nicht aufzugeben. Das karge Dasein würde sich bald ändern. Mittlerweile hatte Bernadette eine Freundin gefunden, Tanja, mit der sie am liebsten im riesigen Hof spielte. Schenkte ihr die neue Freundin nur für kurze Zeit keine Aufmerksamkeit, lief Bernadette schluchzend und außer sich, die Treppen zu ihrer Mutter hinauf und beichtete ihr mit Tränen in den Augen ihren Kummer. Doch schon nach kurzer Zeit war alles vergessen, packten ihre Rodeln aus dem Keller, sausten los und fuhren mit großer Geschwindigkeit den nahe gelegenen Hang hinunter und schrieen dabei aus Leibeskräften. Auch andere Kinder frönten sich dem Vergnügen, kamen mit Skiern an und staffelten den gesamten Hang mit bewundernswerter Geduld hinauf um dann endlich mit gekonntem Slalom den Berg hinunter zu wedeln.
Dann gab es noch Pucki, ein wunderschöner, rostbrauner Boxerhund der im Parterre im Haus Frau Ardos gehörte. Esther Ardos hinkte stark beim Gehen, zog ihren rechten Fuß etwas nach, was die Folge einer Polio Erkrankung war die sie als Kind erlitten hatte. Sie musste laut knarrende Schuhe tragen, die ihr der Orthopäde schon vor langer Zeit verordnete, um das Gleichgewicht zu halten. Sie ließ Pucki fast täglich in den Vorgarten hinaus und so tollte er mit seinen eigens für ihn gekauften roten Gummiball herum. Für seinen Auslauf war bestens gesorgt. Bernadette freundete sich mit dem Tier an und spielte so oft es nur möglich war mit dem temperamentvollen Hund. Oft starrte Bernadette Esther Ardos, wenn sie hinkend an ihr vorbeischritt, zum Einkaufen ging, oder die Steinstufen mit einigen Schwierigkeiten emporstieg, mitleidig nach. Sie war mit Emmerich Ardos schon seit vielen Jahren verheiratet und lebte mit ihrem Ehemann schon seid Ewigkeiten in diesem Haus. Mit Anzug und Krawatte in dem man ihn stets zu sehen bekommt, wird er als „hohes Tier“ von den Anwohnern betitelt. Tatsächlich war er einer der führenden Ingeneuren im ortsansässigen Stahlwerk und war bei den Arbeitern nicht besonders beliebt. Franzine bezeichnete ihn einmal als „arroganten Affen“, als sie einen an ihn gerichteten Gruß aussprach und kein Wort des Dankes von ihm vernahm. Bernadette konnte sich nichts darunter vorstellen und fragte auch nicht lange nach. „Etwas Besseres“ war er also, kein Grund um den Mund nicht aufzumachen wenn man gegrüßt wird. Vielleicht war das der Grund, warum Emmerich Ardos, wenn er jemanden im Garten begegnete, manchmal ein kaum hörbares ‚Guten Tag’ flüsterte, oder nur selten ein Wort des Grußes übrig hatte.
Gegenüber von den Ardos wohnte die Familie Kleinknecht. Die ältere, stets freundliche Frau hatte immer ein nettes Wort für Bernadette übrig. Oft strich sie mit ihrer faltigen Hand über Bernadettes Haar, jubelte freudig auf und klatschte in die Hände wenn Bernadette den Ball warf und Pucki wie ein Pfeil hinterher schoss. Bernadette begrüßte sie immer winkend, auch wenn Melitta Kleinknecht noch in weiter Ferne des Weges weilte und langsam entlangkam. Sie hatte einen Sohn, Rainer, der schon über zwanzig war und noch bei den Eltern zu Hause lebte. Ihr Mann, Oktavian, war schwer herzkrank und konnte das Haus kaum verlassen. Manchmal war sein kahler Kopf am Fenster zu sehen, aber Bernadette fürchtete sich vor ihm. Zaghaft versuchte er ihr dann zuzuwinken, was sie ängstlich ignorierte und eilig davon lief.
Familie Edler waren die ersten Menschen mit denen Franzine in ihrem neuen Zuhause in Kontakt trat. Besser gesagt mit Frau Edler, Albine, die ihr den Brief Ignazias überbrachte als sie kaum angekommen waren. Roman hatte sich in den zwei Wochen kein einziges Mal blicken lassen. Curt, ihr zweiter Sohn, weilte schon ein paar Tage bei der Familie und es ist auch etwas stiller geworden in der sonst so lauten Wohnung. Fast immer wurde gestritten und Franzine konnte beinahe jedes Wort verstehen was die Eheleute sich an den Kopf warfen. Curt, ein ebenfalls Gutaussehender Mann zwei Jahre älter als Roman, schien sich bei ihren Angelegenheiten nicht einzumischen. Offiziell lebte er in einer anderen Stadt und man munkelte, dass er gerade eine Scheidung hinter sich gebracht hatte. Manchmal begegnete Franzine die schielende Frau im Treppenhaus, grüßte sie freundlich, was sie aber wenig zu schätzen wusste. Sie verhielt sich zwar nicht feindselig ihr gegenüber, aber den Gruß sprach sie leise und ohne jede Regung aus. Ihren Mann, Udo bekam sie fast nie zu Gesicht, doch Franzine erkannte gleich, als sie sich einmal im Treppenhaus begegneten, dass er früher ein stattlicher, attraktiver Mann gewesen sein musste. Er kümmerte sich nicht um sie, meistens saß er nur in der Wohnung und soff. Das hatte sich auch nicht geändert als Curt auftauchte, er ließ sich immer von Albine das Bier aus dem Keller bringen, vernichtete den Inhalt, Curt verzog sich einstweilen in das elterliche Schlafzimmer zurück, denn wenn sie beiden wieder ihre Auseinandersetzungen hatten, war Curts Stimme nie zu hören.
Franzine gefiel es hier und beschloss ein glückliches Leben anzufangen.
Die Anstellung im Krankenhaus hatte sie in der Tasche. Das bestätigte ein Brief von der Verwaltung, den sie glücklich in den Händen hielt und ihn immer wieder durchlas. Arbeitsbeginn war der 15. Dezember, also knapp vor Weihnachten und das kam ihr gerade recht. Besser konnte es gar nicht laufen, zu Neujahr würde sie das erste Gehalt kriegen, das waren immerhin zweitausendfünfhundert Schilling! Viel Geld! Das sind im Monat fünftausend, unvorstellbar dass es ihr selbstverdientes Geld sein sollte.
Der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses, wo sie sich zum Gespräch anmeldete, musterte sie streng, als sie ihm endlich gegenüber im Büro saß. Sie zeigte keine Spur von Verlegenheit und selbstbewusst blickte sie ihm in die kleinen, noch vom Schlaf gezeichneten grauen Augen. Sein blondes, schütteres Haar war nach hinten gekämmt, die Krawatte saß zu locker und sein brauner, abgetragener Anzug könnte wieder eine Reinigung vertragen.
„Lesen Sie sich den Vertrag durch“, meinte er ernst, „ Sie müssen auch mal Nachts hier bleiben, die Schwestern brauchen immer eine helfende Hand.“ Franzine nickte. Das war ihr nur recht.
Mit ihrer Unterschrift besiegelte sie ihren Einsatz im Dienste der Genesung und Gesundheit. Nun war es bestätigt. Als Hilfsschwester gebraucht zu werden machte sie zum glücklichsten Menschen der Welt.
„Sagen Sie meiner Sekretärin dass sie Ihnen die Unterkunft zeigen soll, dort können Sie Übernachten wenn es nicht anders geht. Ich wünsche Ihnen viel Spaß.“ Er stand auf und reichte Franzine die Hand. Der Handschlag war fest und tat ihr weh. Doch das spielte keine Rolle, freudestrahlend verließ sie das Büro.
Das Zimmer musste sie mit drei anderen Kolleginnen teilen. Die Betten waren wie in den Krankenzimmern links und rechts aufgereiht, die weiße Farbe blätterte von den Bettgestellen und von den Wänden ab. In den zwei großen Schränken, die in der Ecke neben der Tür platziert waren, konnten sie ihre Sachen unterbringen. Die ältliche Sekretärin trug eine legendäre „Windstoß“ Frisur, ihre Hornbrille war nach vorne zur Nasenspitze gerutscht, ihr dunkelblaues Kostüm saß perfekt an ihrem schlanken Körper. Sie blickte Franzine vom oberen Rand neugierig an und zog laut die Luft durch ihre Nase ein. Sie erklärte ihr noch das Nötigste, gab ihr die Schlüssel für Tür und Schrank und hielt ihre kalte Hand für einen frostigen Handschlag entgegen. Franzine, die ihr begeistert die Hand gab, glaubte fast eine kalte Fischflosse zu drücken. Die steife Sekretärin entfernte sich rasch, mit lauten Stöckelschuhengeklapper stolzierte sie zur Tür hinaus. Franzine sah ihr nur kurz nach und hoffte, dass sie ihr nicht häufig begegnen würde, denn ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts, was an einen fröhlichen Menschen erinnern würde Nun war es endlich geschafft. Dass sie an Weihnachten im Einsatz sein würde, störte sie nicht. Auch die vereinbarten, manchmal bis zu zwölf Stunden langen Arbeitstage, konnten ihr nicht das Geringste anhaben.
Eine Woche vor Arbeitsbeginn durchlebte sie schlaflose Nächte, konnte nur ein paar Bissen hinunterkriegen und konnte vor Aufregung keinen klaren Gedanken fassen. Geldscheine flatterten vor ihren träumenden Augen verlockend zu und riefen: Nimm es! Nimm es! Es gehört dir! „Ja, bald werde ich euch holen, “ sagte sie manchmal verträumt vor sich hin, „ihr entkommt mir nicht, ich erhasche alle von euch, wartet noch, nur noch eine kleine Weile.“
Im Glücksrausch gefangen, schmiedete sie Pläne, was sie mit dem verdienten Geld alles anstellen würde; Neue modische Kleider kaufen, neuen Hausrat anschaffen, schöne Bettdecken aussuchen in denen man sich müde rekeln konnte, echten Goldschmuck anlegen, der ihre Figur und ihr schmales Gesicht noch besser zur Geltung brachte… all das würde nun Wirklichkeit werden.
Während diesen Anfangsfreuden und Aufregungen vergaß sie dabei völlig ihre Tochter. Der Tag des Arbeitseintrittes rückte immer näher und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sich ein neues, drückendes Problem vor ihr auftat. Man konnte doch unmöglich ein fünfjähriges Kind tagelang, ohne Aufsicht, in der Wohnung allein zurücklassen! Was würde aus ihrer Erziehung werden? Wer würde sie versorgen? Wer würde sie an sich drücken, wenn sie traurig oder verletzt ihre Mutter herbeisehnen würde? Wenn sie krank und wimmernd im Bett läge und nach ihrer Mutter schreiend im Fieber geschüttelt, niemand vorfände? Sie wuchs rasch heran, war schon erstaunlich entwickelt für ihr Alter, aber gerade in dieser Phase würde sie ihre Mutter mehr denn je brauchen. Ein Problem, das unlösbar zu sein schien. Ihre Mutterrolle wurde ihr mit einem Mal schmerzlich bewusst, die unangenehmen Tatsachen, die das Leben so mit sich bringt, standen wie eine steinerne Mauer vor ihr und hinderte sie nach vorne zu blicken. Plötzlich durchkreuzte ihre eigene Tochter ihre Pläne und Träume, war mit einem Schlag ein Störfaktor der ihr im Wege stand, es schien beinahe unmöglich dieses schwere Problem das sich nun auftat, zu lösen. Bernadette hatte sie völlig verdrängt, sie vergaß vollends ihr eigenes Fleisch und Blut. Wie konnte sie nur unentwegt an sich selbst denken? Was nun? Ich darf doch mein Kind nicht vernachlässigen, dachte sie in Bitterkeit eingehüllt, es ist doch mein innigster Wunsch, dass es uns an Nichts fehlen sollte. Verzweifelt hockte sie auf den alten Sessel, den Kopf in die Hände gestützt, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet und machte sich Gedanken über ihre ausweglose Situation. Es würde nicht klappen! Alles aus! Wie soll es weitergehen? Was soll mit dem Kind geschehen? Guter Rat war teuer. Das Kind war nun mal da und Franzine begann sich allmählich ihrer Unsensibilität zu schämen. Sie schämte sich ihrer Gedanken und ihrer Gier nach selbstverdientem Geld. Doch dies, war sie überzeugt, ist das Normalste der Welt, irgendjemand musste doch für den Unterhalt aufkommen, das hatte sie sich immer erträumt, und jetzt kurz vor der Erfüllung schien alles zu zerplatzen, sich ins Nichts zu verlieren. Ihr blieb kein Ausweg, eine Lösung musste gefunden werden, und zwar rasch. Ignazia wäre hier hilfreich zur Seite gestanden, aber sie befand sich mit Roman am andern Ende der Erdkugel und war unerreichbar.
In diesen zwei Wochen, in denen sie nun hier lebten, reichte nicht aus, um die Nachbarn besser kennen zu lernen. Einige kannte sie flüchtig, andere hatte sie noch nicht einmal gesehen. Jemanden als Ersatzeltern auszusuchen kam also nicht in Frage. Bernadette fremden Menschen anzuvertrauen war kein erfreulicher Gedanke, zumal viele Menschen ringsherum mehr als in bescheidenen Verhältnissen lebten und selbst mit reichlich Kindersegen ausgestattet waren. Bernadette war es nicht gewöhnt mit mehreren Kindern zusammen zu leben, bei fremden Menschen und bei fremden Kindern hatte sie Angst.
Das große Grübeln setzte ein, sie zermarterte sich das Gehirn, kam aber zu keinem Resultat das sich verwirklichen ließe. Nach dem Grübeln kam der Ärger. Der Ärger auf sich selbst und auch auf Bernadette, die keine Ahnung hatte, was ihre Mutter gerade durchmachte. Mitleid und Zorn wechselten sich ab, sie begann zu weinen, wandte sich ab, wenn ihre Tochter auf sie zukam, sie trösten, oder ihre Arme um sie schlingen wollte. Verwundert musste sie bestürzt feststellen, dass ihre Mutter dies nicht wünschte, oft auswich, wenn sie sich ihr nähern wollte. Tränen rannen über Bernadettes Gesicht und sie glaubte, dass die alleinige Schuld auf ihr lastete, mit ansehen musste, dass ihre Mutter immer tiefer in Depressionen versank. Dann, wie ein Paukenschlag, kam ihr die rettende Idee. Warum ist sie nicht schon früher draufgekommen? Ein Lächeln huschte einen Augenblick über Franzines Gesicht.
***
Ihre Schwester Dorothea drang ihr mit einem mal ins Bewusstsein. Fast hatte sie schon aufgehört an sie zu denken. Irgendwo hatte Franzine ihre Adresse versteckt die sie heimlich von einem Briefumschlag abriss als Dorothea noch vor Jahren zahlreiche Briefe an ihre Mutter schrieb. Was anfangs als eine Teenagerspinnerei abgetan wurde, entwickelte sich immer mehr zu einem Drama das die Schwestern eisern und konsequent durchhielten. Seit nahezu acht Jahren existierte kein Kontakt mehr zwischen den Geschwistern, nur vage Lebenszeichen vernahm Franzine von ihrer Schwester als die Briefe an ihre Mutter aus Italien ankamen. Lesen durfte Franzine diese Briefe zwar nie, verspürte aber so gut wie keine Sehnsucht nach Dorothea und war deswegen nicht besonders traurig. Dorothea verließ gleich nach der Schule das Elternhaus und wollte ihr Glück in Italien versuchen. Der Abschied verlief kühl, Mutter Freya vergoss ein paar Tränen, Vater Eduard klopfte ihr sanft auf die Schultern, Franzine aber verzog keine Miene und reichte ihrer Schwester nicht einmal die Hand als Dorothea mit einem roten Koffer in der Hand über die Türschwelle trat und lächelnd zum Abschied winkte. Eduard hielt sich aus der Geschichte raus, die Beschwichtigungsversuche beider Elternteile fruchteten jedoch nicht. Dorothea schien es geschafft zu haben, eine Anstellung in einem kleinen Hotel war schnell gefunden. Bald darauf erlag Eduard einem Herzanfall, er starb noch beim Transport im Rettungswagen auf den Weg ins Krankenhaus. Das Begräbnis fand an einem kühlen, windigen Herbsttag statt, Freyas Sorge ob Dorothea der Trauerzeremonie beiwohnen wollte, ließ ihr keine Ruhe. Doch sie kam. Aus einem nagelneuen Ford P4 steigend, elegant in schwarz gekleidet, auf den Kopf einen schwarzen Hut mit breiter Krempe der ihre Augen und beinahe das halbe Gesicht bedeckte, schritt sie langsam auf ihre Mutter zu die mit Franzine weinend zwischen von einigen Verwandten gestützt stand.
Freya sank fast zu Boden als der Sarg hinuntergelassen wurde und ein Trompetenbläser eines von Eduards Lieblingsliedern die Elisabeth Serenade mit voller Hingabe blies. Danach gab es keine christliche Ansprache, kein Lied wurde gesungen und kein Gebet wurde gesprochen. Sein letzter Wunsch wurde also respektiert. Die beiden Schwestern ignorierten auch einander als sie ihre Mutter stützten, Franzine hakte sich an der einen Seite ein und Dorothea umfasste Freyas Arm an der anderen. Neugierde packte Franzine und richtete den Kopf verstohlen auf, wendete kurz den Blick zur Seite um einen kurzen Moment in Dorotheas Gesicht sehen zu können. Doch ihre Schwester stand mit gesenktem Kopf vor dem Grab, schneuzte sich leise, ihre weite Hutkrempe ließ keinen Blickkontakt auf ihre Augen zu. Was sie zu sehen bekam war neben Freyas verweinten Gesicht nur ihre Nasenspitze die sie des öfteren abtupfte. Beim Leichenschmaus, das in einem nahe gelegenen Gasthaus stattfand, war Dorothea bereits verschwunden. Franzine hatte nicht die geringste Lust sich nach ihrer Schwester zu erkundigen. Freya brach es das Herz, doch Franzine schien es nicht zu bemerken.
Kurz nach Franzines Hochzeit mit Ferry fanden ein paar Bauarbeiter die Leiche Freyas erhängt an einem der Pfosten in einem Rohbau von einem gerade entstehenden Wohnhauses. Der Schock überwältigte nicht nur die beiden Schwestern, die gesamte ortsansässigen Bewohner konnten sich kaum von den Schrecken erholen. Die Schwestern, inzwischen erwachsene, verheiratete Frauen traten sich auch diesmal nicht unter die Augen als bei der Beerdigung der Sarg langsam in die Grube gelassen wurde und der Schulchor das Lied ‚Du gabst o Herr’ nach Julius Anton von Poseck anhuben und das Schluchzen der Trauernden immer lauter zu vernehmen war. Die Menschenmenge nahm überdimensionale Maße an. Der kleine Friedhof hatte wohl noch nie so viele Besucher gezählt. Freya war eine der beliebtesten Persönlichkeiten im Ort, gab den Kindern aller Altersklassen für ein paar Stunden die Woche Gesangsunterricht in der hiesigen Schule, studierte mit der Gruppe die jeweiligen Lieder peinlich genau ein und dirigierte den Schulchor mit wedelnden Armen bei jeder Veranstaltung wenn sie aufgereiht und stramm mit glockenhellen Stimmen sangen. Sie stand allen mit Rat und Tat zur Seite, auch dann, wenn es sich nicht nur um die musikalischen Darbietungen handelte.
Den Tod ihres Mannes überwand sie nicht, der Kummer ihrer beiden Töchter nahm überhand, Freya litt zunehmend an Depressionen die sie nicht mehr bekämpfen konnte. Die Entwicklung von Franzines und Ferrys Ehe zu beobachten bescherte ihr zusätzliches Kopfzerbrechen, erste Selbstmordgedanken schlichen sich ein. Doch kein einziges Wort des Unbehagens kam je über ihre Lippen, die beiden Schwestern taten dies als schmerzliche Trauer ab, der Verlust Eduards bedeutete einen grausamen Einschnitt in ihr Leben. Auch in den zahlreichen Briefen an Dorothea war ihr gefährlicher Zustand nicht abzusehen. Geschickt vertuschte Freya ihre tödlichen Absichten.
Die Schwestern lebten Welten getrennt, verloren sich vollständig aus den Augen und so schien es auch zu bleiben. Der zerbrochene Familienrest blieb zerbrochen, Franzine und Dorothea gab es nicht mehr, es hat sie nie gegeben, oder doch?
Die fünfzehnjährige Franzine und ihre zwei Jahre ältere Schwester Dorothea waren vor acht Jahren in denselben jungen Mann vernarrt gewesen. Was Roman Edler in Jungberg war, das war ein attraktiver Halbspanier in Wartenegg, wo beide Mädchen aufwuchsen. Sein Name war Manuel, war zwanzig Jahre alt und ein Bild von einem stattlichen Mann. Seine Mutter, eine Spanierin lernte einen österreichischen Bankangestellten kennen, als er in Mallorca gerade seinen Urlaub genoss. Bei einem Ausritt auf den Rücken eines Esels, der sie den Strand entlang und nahe gelegen Berge führte, kamen sich die beiden näher. Schon nach zwei Monaten ließ er sie nach Österreich nachkommen und machte ihr in aller Form einen Heiratsantrag. Die balearische Schönheit war die große Liebe seines Lebens, und Esmeralda, Manuels Mutter, brach ihre Zelte in Spanien ab und begann mit ihren frisch angetrauten Ehemann ein zufriedenes, glückliches Leben in der kleinen Ortschaft wo sie gut aufgenommen wurde. Ihr erstgeborenes Kind, ein Junge, war schon als Baby von unerreichbarer Schönheit, zarter Lieblichkeit und war von der gesamten Bevölkerung das am meisten angestarrte Baby des Landes. Viele zückten ihren Fotoapparat um sich später an dieses entzückende Baby zu erinnern.
Mit sechzehn wurde Manuel zum ersten Mal bewusst, das seine Ausstrahlung mit keiner zu vergleichen war und das er der meistbegehrte Junge des Ortes, wenn nicht sogar des ganzen Bezirkes darstellte. Auch in der Schule war er nicht der Schlechteste und schaffte die Matura mit achtzehn mit einem guten Durchschnitt. Dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte und in der Bank einen guten Posten übernehmen würde, war beschlossenen Sache.
Ausgestattet mit tiefschwarzen gelockten Haaren, große, frech blickende braune Augen und eine Stimme, die hinter den Lippen wie weicher Samt die richtigen Worte zu formulieren verstanden, machten ihn zum Liebling der meisten weiblichen Geschöpfe. Er brachte Steine zum weinen, Eisblöcke nicht nur zum schmelzen, sondern auch zum verdampfen. Ein klassisches Bild eines Südländers. Er verstand sich auch in jeder Lage durchzusetzen, denn sein Charme brachte seine männlichen Zeitgenossen in Aufruhr, bangten sie doch neidvoll um ihre Freundinnen oder Frauen, und fürchteten um ihre Beziehungen. Gemessen an ihm, waren sie nur rüpelhafte Burschen der Arbeiterklasse, die ihm seinen Erfolg missgönnten.
Und Manuel fädelte seine Verabredungen raffiniert ein: Seine Treffen organisierte er peinlich genau mit Hilfe eines Taschenkalenders, den er ständig bei sich trug. Meist waren es Mädchen von auswärts, die er zu einem Kinobesuch überredete. Sie alle trafen mit strahlendem Gesicht und mit Herzchen in den verliebten Augen schimmernd, mit penetranter Pünktlichkeit zum vereinbarten Treffpunkt ein. Die meisten Anbeterinnen waren mit einem kleinen Geschenk ausgestattet, die sie ihm in adorabler Miene hoffnungsvoll überreichten. Nichts Großartiges, von abgeschnittenen Haarsträhnen oder Locke bis zum Teddybären, war alles dabei. Und Manuel sonnte sich in holder Weiblichkeit und Popularität.
Auch Dorothea und Franzine standen weit oben auf seiner Eroberungswunschliste, allen voran die siebzehnjährige Dorothea, auf die er schon seit langem ein Auge geworfen hatte. Ihr Name, mit dickem rotem Stift umrandet, war die Nächste, die seinem Charme erliegen sollte. Doch Dorothea war nicht so leicht zu beeindrucken wie all die anderen Mädchen davor. Er musste sich schon etwas Spezielles einfallen lassen um sie zu gewinnen. Um keine Ideen verlegen, wusste er schon genau wie er es anstellen würde um keine Absage zu kassieren. Vormittags ging sie oft für ihre Familie zum einkaufen. Er spionierte dies genauestens aus und fand, dass dies der geeignete Plan für sein Vorhaben wäre. Mit einer riesigen Papiertüte im Arm erledigte er zum Erstaunen seiner Eltern, den Einkauf an diesen besagten Tag mit einem Eifer, den er sonst nie aufkommen ließ. Dorothea war so in ihrer Arbeit vertieft, dass sie Manuel in dem kleinen Laden vollkommen übersah. Er verließ ein paar Minuten früher das Geschäft und war so beladen, dass ein großer Brotlaib den er unter seinem Arm eingeklemmt hatte, drohte, auf den Boden zu fallen. Dorothea schritt langsam des Weges und Manuel tauchte unerwartet vor ihr auf. Da fiel der Laib auch schon auf den Asphalt und rollte wie ein Rad auf sie zu. Manuel, der nur vortäuschte, das Brot einfangen zu wollen, rannte hinterher, gab ihm sogar noch ein paar Stöße, was Dorothea aber nicht bemerkte. Der schwere Laib blieb genau vor Dorotheas Zehenspitzen liegen. Sein Plan war gelungen, er baute sich vor ihr auf und lächelte sie mit verführerischer Miene an.
„Das kann auch nur mir passieren“, war sein Kommentar, „ das gute Stück ist wohl nicht mehr zu gebrauchen.“ Dorothea, sichtlich verlegen, hob den Brotlaib auf und meinte, dass es viel zu schade wäre um es wegzuwerfen, ein Frevel an die vielen hungernden Menschen in dieser Welt. Sie stotterte und wurde rot. Zum ersten Mal sah sie intensiv in seine dunklen Augen, die keck und lächelnd in ihr Gesicht blickten, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Sie schnappte sich das Brot und steckte es ihm so rasch zurück in seine Armbeuge, dass er verblüfft den Mund offen hielt. Als sie ohne ein Wort zu verlieren, an ihm vorübergehen wollte, hielt er sie zurück: „ Du bist anders“, sagte er in einem überzeugenden Ton, „ mein Versuch dich anzumachen ist gescheitert, das gefällt mir, das ist mal was Neues in meinen Leben. Aber denke trotzdem nicht schlecht von mir, wenn ich mich auf die vielen Herzen bette, die mir ständig zufliegen und die ich aus manch Frauenkörpern stehle, würde ich niemals einen trockenen Zustand erreichen, denn die Mehrzahl liegt in einem Meer von Tränen.“ Meinte er das im Ernst? Es klang ein bisschen kitschig, hatte er öfters solch poetische Anwandlungen? „ Könntest du dich entschließen mit mir einen Film anzusehen? Nur einmal…ich dränge dich nicht, du musst es von dir aus wollen.“ Er sah ihr bittend ins Gesicht. Seine Worte blieben nicht ohne Eindruck und Dorothea willigte schüchtern ein als er sie für den kommenden Samstag ins Kino einlud. Mit freudigem Gefühl machte sich Dorothea auf den Nachhauseweg.
Franzine durchfuhr es wie ein Messerstich, als ihr Dorothea mitteilte, dass sie mit dem begehrtesten Jungen hierzulande eine Verabredung ausgemacht hatte. War er doch ihr geheimer Schwarm, von ihm träumte sie seit sie zwölf Jahre alt war. Und jetzt machte ihr die eigene Schwester einen Strich durch die Rechnung!
„Warum freust du dich nicht mit mir“, rief Dorothea freudig“, bitte schau doch nicht so böse, hey, stell dir vor, ich gehe mit ihm aus.“ Sie drehte sich so schnell im Kreis, so dass ihr leichtes Sommerkleid bis zu den Hüften hinaufwirbelte.
„Jeder der sich mit ihm sehen lässt ist jemand Großes“, jubelte sie und hüpfte ein paar mal auf und ab. Und es war deutlich an ihrem Gesicht abzulesen, dass sie Feuer gefangen hatte, ausgerechnet in Manuel…..wenn das die Eltern je erfahren, dann gäbe es bestimmt Ärger.
Dorothea freute sich auf das Treffen mit ihm und konnte den Tag kaum erwarten. Franzine ließ sich kaum blicken und würdigte ihrer Schwester keines Blickes. Manuel, mit Hellbeigen Anzug in Schale geworfen, holte Dorothea pünktlich um sieben Uhr abends von zu Hause ab. Die Eltern, die nicht gerade die beste Meinung von ihm hatten, baten den jungen Mann einzutreten und boten ihm ein Glas Wein an. Dorothea, in einem gelben Baumwollkleid und aufgestecktem blonden Haar, sah hinreißend aus. Er verkniff sich einen Pfiff und schenkte ihr bewundernde Blicke die sie in Verlegenheit brachten. Nachdem sie sich verabschiedet hatten führte er sie in galanter Form zum ersten mal ins Kino aus.
Es war eine warme Sommernacht und Manuel hatte vor, mit Dorothea nach dem Film einen Spaziergang zu machen, den Cafebesuch wollte er diesmal ausfallen lassen. Meistens führte er die Mädchen noch in ein Cafe und spendierte großzügig ein Glas Wein, oder auch mehrere um sie danach zu seinem Lieblingsplatz zu führen. Der Ort lag etwas außerhalb der kleinen Gemeinde, ein idyllisches Wäldchen mit obligatorischem Bach, das am Waldrand ruhig dahin plätscherte. Am Rain befand sich eine rot gestrichene Parkbank, geradezu geschaffen für zärtliche Annäherungsversuche und ungestörte Zweisamkeit unter dem hell scheinenden Mond, in einer sternenklaren lauen Sommernacht. An diesem Platz wurden schon manche Mädchen in Frauen umgewandelt. Wer sich zu Anfangs zierte, so verstand es Manuel sie gefügig zu machen, sein unwiderstehlicher Charme und die anscheinende nie zu Ende gehende Geduld, waren ihm eine große Hilfe. Es gelang ihm das zu bekommen was er begehrte. Immer!
Nie kam es ihm in den Sinn, dass ihm jemand auf die Schliche kommen könnte, er verschwendete keine Zeit. Seine Verführungskünste waren in der weiblichen Welt berühmt geworden. Und keine von den Damen wollte von Manuel unangetastet in die Geschichte eingehen. Der Stolz, mit ihm einmal zusammen gewesen zu sein, brachte ihnen ein gewisses Ansehen ein. Dorothea ließ sich dann zu einem kleinen Spaziergang überreden, eine Gelegenheit, die sie nicht bereute. Sie erhoffte sich dann doch mehr von ihm. Nicht nur seine unwiderstehlichen Verführungskünste, die gewöhnlich nach kurzer Zeit seinen Reiz verloren, sondern sie wünschte sich eine lang andauernde Beziehung mit Manuel, ihn zu halten, was vorher noch keiner gelungen war. Was er dachte, das konnte sie nicht ahnen, was er vorhatte, war ihr bewusst. Sie verschwendete keinen Gedanken an ihre Schwester, jetzt war sie selbst am Zug und so sollte es bleiben. Was wusste eine Fünfzehnjährige schon?
Die purpurne Parkbank barg viele Geheimnisse, die eingetrockneten Blutflecke der vergangenen Mädchen, die jetzt als Frauen galten, verschwanden in der Farbe des Holzes, oder der Regen wusch sie ab, es gab keine Spuren zu verwischen. Der Wettergott meinte es gut mit den beiden, es war angenehm warm, der Mond schimmerte durch die hohen Baumwipfel, die Sterne strahlten klar am dunklem Himmel auf sie herab. Die Parkbank stand einladend am Waldesrand als warte sie nur auf die zwei Liebenden, die sogleich verschmelzend ihren Gefühlen freien Lauf ließen.
Dorothea, mit weichen Knien und mit einem Lächeln auf den Mund, ahnte, was gleich geschehen würde. Manuel legte seinen Arm um ihre Schulter und sah gen Himmel. Er deutete nach oben und versuchte ihr den „Großen Wagen“ zu zeigen, obwohl er von Astronomie möglicherweise keine Ahnung hatte. Und Dorothea folgte seiner Fingerspitze, zeigte sich beeindruckt und ließ ihn erzählen und erklären Nach der Sterndeutung schilderte er ausführlich seine Zukunftspläne. Die halbe Nacht verstrich ohne zärtliche Zudringlichkeiten. Und Dorothea hörte ihm aufmerksam zu.
Er rührte sie nicht an. Es kam nicht zu den erhofften Zärtlichkeiten. Er brachte sie bald darauf nach Hause und versprach, sich baldmöglichst bei ihr zu melden. Dorothea hoffte, dass er die Wahrheit sprach. Tags darauf, nachdem Dorothea stolz und freudig ihre Erlebnisse erzählte bemerkte sie nicht, dass Franzine einen bösen Plan ausheckte. Sie bemerkte auch nicht, als die beiden zusammen in ihrem Zimmer ihre Sachen ordneten, wie es um ihre Schwester stand.
Während Dorothea berichtete, verfinsterte sich Franzines Gesicht immer mehr, ihre Augen hatte sie zu engen Schlitzen zusammengekniffen und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Nackte Wut staute sich in ihr auf. Ihr Gesicht überzog eine Zornesröte so dass Dorothea heftig erschrak als sie sie anblickte. Mit tödlichem Schmerz in ihrem Herzen holte Franzine aus und schlug Dorothea so fest ins Gesicht das diese nach hinten stolperte und zu Boden fiel. Völlig überrumpelt fuhr sie mit ihrer Handfläche über die schmerzende Wange und starrte ihre Schwester mit angsterfüllten Augen an. Was war nur in sie gefahren? Franzines Augen blitzten teuflisch und plötzlich nahm sie einen Anlauf und trat auf ihrer am Boden liegenden Schwester in den Bauch. Dorothea schrie auf. Franzine trat wie von Sinnen auf sie ein, Dorothea krümmte sich wie ein hilfloser Wurm, die Tritte wurden so heftig, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte. Im blinden Hass verlor Franzine rundweg die Kontrolle über sich.
„Was ist hier los, um Himmels Willen“, Freya kam ins Zimmer gestürzt und fand ihre beiden Töchter heftig kämpfend am Boden liegend vor.
„ Sofort aufhören, alle beide, Schluss jetzt, was ist nur in euch gefahren, los, aufhören“, schrie ihre Mutter erbost. Noch nie hatte sie ihre zwei Kinder aufeinander losschlagen sehen, überrascht und entzürnt versuchte sie die beiden Mädchen auseinander zu bringen, die ansonsten friedlichen Geschwister waren außer Rand und Band. Vor allem Franzine war völlig außer sich, wild um sich schlagend und beißend ging sie auf ihre Schwester los. Mit heftigen Fußtritten attackierte sie Dorothea, warf mit unflätigen Schimpfworten um sich die Freya von ihrer jüngsten Tochter noch nie gehört hatte. Die beiden Mädchen bemerkten ihre Mutter zuerst nicht, die ratlos und mit offenem Mund einzuschreiten versuchte. Dann Dorotheas Aufschrei als Franzine ihr mit großer Wucht in die Vorderseite trat. Endlich erwischte Freya Franzines Arm und riss sie von ihrer verletzten Schwester los. Dorothea krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Fußboden, leise stöhnte sie auf und blieb dann wie leblos liegen. Freya, die fassungslos nach Worten suchte hob die Hand und gab Franzine eine schallende Ohrfeige. Wutentbrannt und hysterisch laut, begann Franzine zu kreischen. Die zweite Ohrfeige Freyas bewirkte nun das Gegenteil, Franzine verstummte abrupt und lief weinend aus dem Zimmer. Dorothea blieb am Boden liegen. Fest hielt sie ihre Hände an den Bauch gepresst und atmete schwer. Besorgt beugte sich Freya über ihre Tochter und versuchte sie aufzurichten. Langsam erhob sich Dorothea und versuchte aufrecht stehen zu bleiben. Stützend brachte Freya sie in ihr Zimmer. Dorothea allerdings weinte unaufhörlich und Freya schickte sie mit einer Beruhigungstablette ins Bett. Franzine schien es kaum zu rühren dass auch am darauf folgenden Tag ihre Schwester im Bett liegen blieb und sich so gut wie nicht bewegen konnte. Sie schmiedete ihren grausamen Plan zu Ende, den sie mit aller Hartnäckigkeit festigte und sie stark und überragend erscheinen ließ.
Kein einziges Wort, keine noch so leise Silbe wollte sie je wieder mit ihrer Schwester wechseln, so lange sie auf Erden weilte, nie mehr wird sie ihre Stimme an sie richten. Für alle Zeiten wird sie stumm bleiben, stumm für Dorothea. Ihre Lippen werden verschlossen bleiben, nie wieder sollte Dorothea auch nur einen Ton von ihr zu hören bekommen.
Nach drei Tagen war Dorothea wieder gesund, doch der bohrende Seelenschmerz, als sie erkannte dass Franzine sie wie Luft behandelte, nagte unaufhaltsam in ihr. Franzine, in ihrer tief gekränkten heranreifenden, weiblichen Eitelkeit konnte nicht überwinden dass ihre eigene Schwester sie hintergangen hat, ihren angehimmelten Traummann ihr einfach vor der Nase wegschnappte. Wie hatte sie doch all die Mädchen gehasst die mit Manuel ausgingen, als er sie eine nach der anderen einlud, die sich von ihm geliebt fühlten und doch nur auf ihn hereingefallen sind. Wie lachte ihr das Herz als wieder ein abserviertes Mädchen vor Kummer sich fast das Leben nahm. Welche Freude empfand sie als er ihr kurz in die Augen sah und sein freches Zwinkern nur ihr allein galt. Die aufkeimende Hoffnung, sie könnte eines Tages mit ihm gehen, mit ihm eine enge Liebesbeziehung aufbauen die sie sich um alles in der Welt wünschte, schwoll in immer größer werdenden Ausmaß an. Dorothea kam ihr dazwischen, niemals würde sie ihr das verzeihen. Vielleicht war sie es, die es fertig brachte ihn zu einen seriösen Mann und später sogar zu einem liebevollen Ehemann umzustimmen, ihn zu zähmen und zu überzeugen dass er das Leben eines Playboys ablegen und nur mit einer einzigen Frau ein wirklich glückliches Leben beginnen könnte.
Als Strafe legte Freya fest, das Franzine für zwei Monate keine Süßigkeiten essen durfte, sogar die Zuckerdose und die Packung Würfelzucker sperrte sie weg. Die Haare musste sie lang und geflochten halten.
Dorothea verließ bald darauf das Elternhaus.
Ein halbes Jahr später ging Manuel mit einem Freund ins Ausland.
Der leere weiße Briefbogen lag vor ihr auf den Tisch, suchte fieberhaft nach passenden Worten, die sie an ihre Schwester richten konnte. Nur Dorothea kam in Frage, nur ihr würde sie ihre Tochter bedenkenlos anvertrauen. Ob sie je erfahren hat, dass sie vor fünf Jahren Mutter geworden war? Hatte ihr Freya das in einem der Briefen mitgeteilt? Ihre Mutter hatte dies nie erwähnt als sie mit Bernadette auf Besuch war, auch dann nicht, als sie kurz erwähnte dass es Dorothea gut ginge und sehr glücklich in Italien lebte. Es wäre ihr begreiflicherweise wohler zumute, wenn sie Bernadette bei einer nahen Verwandten gut untergebracht wüsste, denn schließlich ist Dorothea die einzige Verwandtschaft, die sie noch hatte.
Franzine konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, immer wieder sprang sie von ihrem Sessel auf und lief in der Küche auf und ab, wischte sich die schweißgebadeten Handflächen an ihren Rock ab, schaute durch das Fenster in den beruhigenden Wald hinein. Schließlich legte sie den Bogen Papier und den Umschlag auf das Radio und versuchte sich zu beruhigen. Nervös, die Hand vorm Mund lief sie hin und her. Wie sollte sie es anstellen? Ich habe keinen Menschen, außer meiner Schwester, dachte sie, ich muss es unbedingt wagen, mir bleibt keine andere Wahl. Mit Gesprächen mit sich selbst versuchte sie sich Mut einzureden. Es verging ein voller Tag mit Nachdenken und Selbstgesprächen, doch nun wurde es Zeit das Schreiben an Dorothea zu verfassen. Nachdem sie Bernadette zu Bett gebracht hatte, bereitete sie sich noch eine Tasse Tee zu, dann begann sie spät abends, mit mulmigen Gefühl im Bauch, an ihre Schwester zu schreiben.
Liebe Dorothea,
Bevor du diesen Brief zerknüllst, bitte ich Dich als meine Schwester, das Schreiben, dass ich an Dich richte, durchzulesen. Natürlich kann ich gut verstehen, wenn Du dieses Stück Papier am liebsten verbrennen und nichts davon wissen willst. Nach langen Jahren der Funkstille wende ich mich hoffnungsvoll und vertrauensvoll an Dich. Da wir nicht ahnen, wie unser beider Leben bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen ist, möchte ich meine Hände hoffnungsvoll nach Dir ausstrecken, hoffen, das wir diese feindliche Fehde vergessen und uns versöhnlich entgegentreten können. Ich war grausam, ich war jung, dumm und überempfindlich. Ich war eifersüchtig und egoistisch dir gegenüber, begriff nicht, dass Du eine der liebenswertesten Menschen bist, die je in meinem Umfeld zu finden waren. Meine eigene Schwester derartig zu verletzen und zu quälen bescherten mir zunehmende, bittere, schlaflose Nächte in denen ich nur am Grübeln war. Ich war zu stolz, zu stur und auch verletzt ohne dass du ahntest wie es im tiefen Inneren um mich bestellt war. All das liegt nun Jahre zurück und ich weiß nicht wie ich diese Zeit des Hasses ungeschehen, und wieder gut machen soll. Der Verlust unserer Eltern reichte nicht aus um mich versöhnlich zu stimmen, dich um Verzeihung bitten und Dir zu sagen, dass mir alles unendlich Leid tut. Ich war zu verbohrt, unzugänglich für die gut gemeinten Ratschläge unserer Mutter, die ich nie zu mir dringen ließ.
Mein Herz blutete, ich zeigte nur zum Schein meine harte äußere Schale. Mein gesunder Verstand ließ mich im Stich, mein innerer Stolz verbot mir, Dir auch nur ein einziges Wort zu schenken. Ich bereue es zutiefst, lass es mich bitte wissen, was ich tun kann um alles wieder so herzustellen wie es früher zwischen uns gewesen ist.
Doch nun bin ich in eine Lage geraten aus der ich keinen Ausweg mehr finde. Vor fünf Jahren bekam ich eine kleine Tochter; Bernadette, ich hatte sofort geheiratet als ich die Bestätigung der Schwangerschaft in den Händen hielt. Mein Ehemann, sein Name ist Ferdinand, entwickelte sich zu einem Tyrannen, ließ mir so gut wie keinen Freiraum, ich wurde sehr kurz gehalten, lebten mit seinen Eltern in einer kleinen Wohnung zusammen unter einem Dach. Als er anfing mich zu misshandeln fing ich an meine Flucht zu planen, ich musste noch drei Jahre in diesem Hause durchstehen doch dann gelang mir mit Hilfe einer Freundin zu entkommen. Nun habe ich eine
Arbeitsstelle in einem Krankenhaus gefunden dass sich weit außerhalb des Bezirkes befindet. Die Arbeitszeiten verlangen auch, dass ich mehrere Male im Monat dort übernachten muss, oft tage- und nächtelang wegbleiben muss. Meine kleine Tochter wäre auf sich allein gestellt, denn es gibt hier weder einen Kindergarten noch eine sonstige Vorkehrung dieser Art in unserem Ort.
Liebe Dorothea, ich will eine Frage an Dich richten die mir in diesem Augenblick sehr schwer fällt:
Wäre es möglich mein kleines Mädchen für acht Monate zu Dir zu nehmen? Danach tritt sie in die erste Schulstufe ein und bis dahin wird sich eine Lösung gefunden haben. Nur einzig Dir allein vertraue ich Bernadette vollkommen an, ob Zusage oder nicht, ein Antwortschreiben von Dir würde mich zu einem sehr glücklichen Menschen machen. Von Dir zu hören wäre wie ein kleines Wunder.
In freudiger Erwartung von Dir zu hören möchte ich Dir die besten Wünsche übersenden.
Ich grüße Dich und umarme Dich
Deine Schwester Franzine
Sie war zufrieden mit dem Ergebnis, beschriftete den Briefumschlag und setzte ihre Anschrift fein säuberlich auf die Rückseite. Am nächsten Morgen rannte sie mit weichen Knien zum Postamt und gab den Brief per Eil – Express nach Italien auf. Jetzt hieß es warten, warten und hoffen.
Zwei Tage später, Franzine hatte gebacken und schabte die letzten Plätzchen vom Blech, pochte es heftig an der Tür. Schnell lief sie mit noch bemehlten Händen zur Tür und riss sie auf.
„Telegramm“ rief der an der Schwelle stehende Postbote. Franzine unterschrieb die Quittung, grüßte und ging zurück in die Küche. Es kam aus Italien, von Dorothea, lange starrte sie das Papierstück an bevor sie es endlich öffnete. Mit gemischten Gefühlen begann sie zu lesen.
Es wird alles gut werden, Gott, ich danke Dir, Franzine schloss die feuchten Augen, fast hatte sie vergessen dass sie gar nicht an ihn glaubte, doch in diesem Augenblick musste er irgendwo lauern und ihr beistehen.
Dorothea kündigte ihren Besuch an, noch knapp vor Weihnachten würde sie Bernadette zu sich nehmen und sie persönlich mit eigenem Auto abholen. Traurig und glücklich zugleich begann sie zu weinen. Doch dann atmete sie auf. Ich muss dieses Opfer auf mich nehmen, dachte sie, ich will nur das Beste für Bernadette. Sie faltete das Telegramm in der Mitte zusammen und legte es gedankenverloren in die Schublade.