Читать книгу Die Ungeliebten - Anita Florian - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеAm 3. Mai 1964 wurde Franzine von einem kerngesunden, 53 cm großen und 3,80 kg schweren Mädchen im Breicker Krankenhaus, Gynäkologische Abteilung für Geburten und Frauenheilkunde, entbunden. Die Geburt verlief ohne Komplikationen, Mutter und Tochter bestens wohlauf, bereits nach zwei Stunden konnte die Mutter vom Bett erheben und einige Runden im Krankenhausflur zurücklegen. Das kleine Mädchen entwickelte gesunden Appetit und schrie am lautesten im Babyzimmer, wo zehn muntere Säuglinge das Debüt ihrer kräftigen Stimme preisgaben. Der Vater, Ferdinand Tennenbach, außer sich vor Freude, überschüttete seine Frau mit Blumen und Bonbonaire. Stolz leuchteten seine blauen Augen in die Runde, als er sein Töchterchen präsentierte und sämtliches Krankenhauspersonal an sich riss und umarmte.
Annelie weinte vor Rührung und Glück, beschenkte Franzine mit Babysachen für Mädchen, die sie selbst in ihrer Schulzeit angefertigt und stets sorgfältig gehütet hatte. Pepp erklärte sich bereit, ein Porträt ihrer kleinen Tochter zu malen, einen passenden Rahmen auszusuchen und es ihr dann überreichen. Senta konnte kaum atmen vor Aufregung, sie hatte eine kleine Puppe, die noch verpackt, in einer mit rosa Taft ausgeschlagenen Schachtel und fröhlich herausblinzelte, mitgebracht. Lächelnd überreichte sie das Geschenk Franzine, die frohgemut die Augenbrauen hochzog und es freudig entgegennahm. Tanno versprach, ihr das schönste Spielzeug aus Holz zu schnitzen, bewegliche Figuren, wo sie sich spielerisch ohne Gefahren zuwenden konnte. Freya ließ ein nagelneues Gitterbettchen liefern, dass in diesem Augenblick zusammengeschraubt und bei den Tennenbachs aufgestellt wurde.
Franzine, die nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen wurde, strahlte ihren Mann Ferry und den freundlichen blonden Busfahrer an, der sie beglückwünschte und sanft seine Fahrt begann. Das Baby quietschte fröhlich im Körbchen das mit rosa Stoff ausgepolstert war. Sämtliche Fahrgäste beugten sich zu ihr runter und schnippten mit den Fingern und lachten, sie beglückwünschten die junge Mutter, die, wie sie meinten, noch selbst ein halbes Kind sein musste. Ferry, voller Stolz und Vaterglück, nickte lächelnd in die Runde.
Drei Wochen später wurde das Kind auf den Namen Bernadette in der örtlichen katholischen Kirche getauft. Franzine, die schweigend das Taufritual geschehen ließ, war den Tränen nahe als sie das Wasser über das Köpfchen ihrer Tochter fließen sah, den Priester völlig aus ihren Augenwinkeln ausblendete und fast in Panik geriet. Sie konnte sich kaum beherrschen als das Baby laut zu brüllen begann und weinte und schrie. Annelie, die sie am Arm hielt, lächelte, als es endlich vorüber war. Mit Freuden stimmte sie zu, als Franzine sie darum bat, Bernadettes Taufpatin zu werden, nicht ohne den Hintergedanken, ihr damit zu helfen, ihr ein bisschen die Augen zu öffnen, sie vielleicht aufmerksam machen, wie sich das Mädchen entwickeln wird, ob sie den Unterschied erkennen könnte dass Thorsten „anders“ war, ihm möglicherweise Hilfe angedeihen ließe. Das Heranwachsen Bernadettes würde ihr vielleicht die Augen öffnen. Doch die Zeit zerrann zwischen den Fingern…
Zur selben Zeit bahnte sich im Nachbarort Jungberg eine Affäre an, die in dieser Gegend als unüblich galt und schwerstes verurteilt wurde. Die kleine Bar am Straßenrand in der Ortsmitte war an den Wochenenden gut besucht und Treffpunkt für Unterhaltung und Tanz. Junge Leute, die ihren Ausweis zücken mussten fanden Einlass wenn sie das 19. Lebensjahr bereits erreicht hatten. Nicht selten hielt sich eine junge Frau gern und oft in der gemütlichen Bar auf, sich gern amüsierte und leidenschaftlich gern tanzte. Sie hatte einen Stammtänzer gefunden der sie auf ein paar Getränke einlud und sich von ihr im fast nagelneuen Mercedes nach Hause fahren ließ. Ignazia hatte sich verliebt, Roman erging es genauso obwohl er bereits in festen Händen und Vater einer Tochter war. Fast ängstlich offenbarte er ihr seine Lage an. Enttäuscht durchzuckte es Ignazia, fast sah sie ihre Felle davonschwimmen, ihre Liebe war anderweitig vergeben. Eines Abends kam es zu einem ausführlichen Gespräch zwischen den beiden und Ignazia erfuhr, dass seine Ehe eigentlich gar keine war, lediglich das Verantwortungsgefühl seiner Tochter gegenüber, ließ ihn ausharren. Stumm verfolgte Ignazia seine Erzählungen. Laute Rock’n’ Roll dröhnte aus der Musikbox in der kleinen Bar, so verzogen sie sich in ihren Wagen zurück.
„Sie hatte damals eine Wette mit ihren Freundinnen abgeschlossen, ziemlich aufgeblasene Weiber, weiß der Teufel wie das gelaufen ist, sie wollte ihnen imponieren indem sie mich an sich binden wollte. Ich war noch sehr darauf bedacht, viele Frauen aufzureißen“, er errötete schamhaft, „ich ließ mich darauf ein, als sie mich im Auto ihres Vaters mit allen Künsten der weiblichen List verführt hatte. Ich kannte sie eigentlich gar nicht, ich hab sie vielleicht zweimal im Leben gesehen. Es war nach einem Kinobesuch, wo sie zufällig auch den Film angesehen hatte. Naja, ich wollte zuerst ihre Zigarette gar nicht anzünden, aber die gab nicht auf. Schließlich landeten wir am Rücksitz im Wagen, eigentlich wars ja lustig mit ihr zu reden, sie lachte viel und wirkte herzerwärmend. Nach sechs Wochen eröffnete sie mir, dass sie schwanger sei und darauf bestehe, sie zu heiraten, da es in ihrer Familie noch niemals außereheliche Kinder seit Generationen gegeben hätte.“ Roman Edler schien verzweifelt, strich sich nervös über seine Hosenbeine und blickte Ignazia ängstlich in die Augen. Behutsam nahm sie ihn die Arme, die Augen voller Liebe und Verständnis. Erleichtert erwiderte er ihre Umarmung und musste sich beherrschen um nicht aufzuschluchzen. In diesem Augenblick wussten beide, wie durch einen Donnerschlag, dass sie für immer zusammengehören, wie füreinander bestimmt, sich lieben und ihr Leben, komme was wolle, miteinander meistern wollten. Verschmolzen lagen sie sich minutenlang in den Armen.
„Ich werde dich morgen vom Sägewerk abholen, wir müssen eine Nacht darüber schlafen, wir werden eine Lösung finden, das verspreche ich dir“, sagte sie sanft und küsste ihn.
Ignazia, die Tochter eines wohlhabenden Installateurmeisters war gerade einundzwanzig Jahre alt geworden und somit volljährig. Sie war begehrt bei den jungen Männern und viele, die sie abwies, gerieten entweder in Zorn, oder vergingen fast vor Liebeskummer. Ihre Haare trug sie blond gefärbt, schulterlang mit einer Welle nach außen die ihre zarten Schultern umschmeichelten. Meistens trug sie Kostüme, die sie sich schneidern ließ oder wenn ihr eines besonders gut gefiel, aus Katalogen bestellte. Selten trug sie Hosen oder Jeans so wie die meisten Jugendlichen, sie war eine geborene Dame, die Stil und Geschmack besaß. Roman Edler, der aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammte, war zwar kein Mann mit besonders ausgeprägtem Spürsinn für Mode, aber er bemühte sich, sauber und adrett aufzutreten. Es war ihm unangenehm über seine Eltern zu reden, oder über seinen Bruder Curt, denn im Gegensatz zu Ignazia, hatte er keinen Gutsituierten Hintergrund. Natürlich blieb es ihr nicht verborgen, dass er sich schämte oder auswich, wenn die Sprache auf seine Eltern kam. Doch sie ließ nicht locker. Ihre heimlichen Treffen wurden intensiver und ihre Liebe immer größer. Als gewöhnlicher Sägewerksarbeiter fühlte er sich oft minder, diesen Komplex, den Ignazia mit viel Einfühlungsvermögen zu dämpfen verstand, ließen ihn in ihrer Gegenwart wieder lachen.
Eines Tages erfuhr seine Frau von dem Verhältnis. Als er hungrig und müde von der Arbeit nach Hause kam, überfiel sie ihn mit Schimpftriaden, mit hysterischer ungebändigter Aggression schlug sie auf ihn ein, trat ihn und kratzte ihn wo sie ihn zu fassen bekam. Seine dreijährige Tochter Marlena, die Zeugin dieses Ausbruchs wurde, schrie aus Leibeskräften. Stephanie beruhigte sich nicht, ihre Stimme überschlug sich und Roman rannte Hals über Kopf aus der gemeinsamen Wohnung auf die Straße hinaus. Noch nie hatte er eine Frau geschlagen und das sollte sich auch in diesen Moment, eines hochexplosiven Ausnahmezustandes, trotz seines beißenden Zornes, nicht ändern. Er ergriff die Flucht, landete in Ignazias Arme, die ihn auffing und nicht wusste, wie gekränkt und verzweifelt er sich fühlte. Die Ungewissheit, dass seine kleine Tochter seiner hysterischen Frau ausgeliefert war, ließen ihn das Schlimmste vermuten. Doch Stephanie verstand es, das Mädchen zu beruhigen und ihren Vater mehr und mehr von ihr zu entfremden. Ignazia wusste nur zum Teil, wie es um seine Ehe stand, aus Taktgründen unterließ sie es ihn darauf anzusprechen. Niemals würde er sich ihr offenbaren, so vermutete sie, diese Schmach musste vor ihr verborgen bleiben, ein Mann muss auch mit den härtesten Problemen im Leben zurechtkommen, diesen Eindruck vermittelte er seit Anbeginn. Die Gefühle wuchsen zwischen diesen beiden Menschen heran, im Laufe der Zeit reifte sie zu einer intensiven Verbundenheit, die fast kein Mensch zu durchschauen vermochte. Nein, sie war keine Mätresse, sie liebte ihn und opferte sich für ihn, es war ihr egal woher stammte und was er besaß.
Albine war begeistert, niemals hätte sie gedacht, das ihr Lieblingssohn eine schöne, verantwortungsbewusste Frau, die obendrein noch gut angezogen war, mit nach Hause bringen sollte, und, wie es schien, ungeniert, sie den Eltern präsentierte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Albine war hingerissen, sie wusste, ihr jüngster Sohn, hatte eine gute Wahl getroffen. Es kümmerte sie nicht, dass Roman, trotz Ehefrau, eine Freundin mitbrachte. Sie witterte Geld, schließlich sah diese junge Frau fantastisch aus und fuhr obendrein auch noch einen eigenen Wagen. Udo hielt sich zurück, er hatte andere Sorgen, er hielt nichts von diesem dümmlichen Weiberkram, einzig allein sein Biervorrat wollte er gesichert wissen, so verzog er sich meistens ins Schlafzimmer zurück.
Ignazia lebte gut, sie hatte faktisch keine Sorgen und lebte in den Tag hinein wie eine Prinzessin, arbeitete in der Firma ihres Vaters im Büro, der sie immer früher nach Hause zu schicken beliebte als sie es selbst wollte. Seine Tochter sollte sich nicht für ihn opfern, war seine unausweichliche Meinung. Das Geburtstagsgeschenk, ein heller, metallener grüner Mercedes, ließ sie aufjubeln, den Führerschein hatte sie mit Achtzehn ohne Probleme bestanden, niemals hätte sie gedacht, dass ihre Eltern ihr einen so tollen Wagen vor die Tür stellen würden, obwohl sie schon als Kind von diesen Autos schwärmte wie andere Mädchen von Puppen.
Roman hatte den Führerschein zwar bestanden, doch war er nie im Besitz eines Autos gekommen, auch sein Vater fuhr nie einen Wagen, diese Art von Gefährt hatte nie einen Bestandteil in seinem Leben gehabt.
Ignazia wusste es, und liebte ihn umso mehr. Schon bald ging sie bei den Edlers aus und ein, traf manchmal Romans Tochter Marlena an, die sie sofort ins Herz schloss.
Im Bezirksblatt las sie einen Monat später, unter all den vielen Mädchennamen bei den Geburtsanzeigen, dass eine gewisse Bernadette Tennenbach geboren wurde. Der Name gefiel ihr, dachte sich aber nichts Außergewöhnliches dabei, aber es war dieser ungewöhnliche seltene Vorname, den sie sich einprägte und nie vergessen sollte.
Stimmen wurden laut in der gesamten Nachbarschaft und man munkelte, Ignazia sei eine Ehebrecherin, die mit allen Mitteln versuchte, Roman Edler, verheiratet, Vater einer dreijährigen Tochter, an sich zu reißen und die geschmähte Ehefrau in den Ruin zu treiben. Stephanie leistete gute Arbeit, verbreitete Intrigen und schon bald wurde Ignazia mit bösartigen Blicken bedacht, die ihr Angst einflößten. Sei es im Kino oder in den Cafes, es wurde getuschelt und vor allen die älteren weiblichen Personen drehten den Kopf zur Seite als Ignazia freundlich zu grüßen versuchte. Natürlich fiel ihr das seltsame Verhalten der Menschen auf, sie wusste sofort, dass ihre Freundschaft mit dem beinahe mittellosen Roman Edler schuld daran war. Doch es war auch ein gewisser Respekt zu spüren, eine vage Zurückhaltung die manche von ihnen zeigten und keinen Gram ihr gegenüber aufkommen ließen. Ignazia fühlte Trauer, Unbehagen und Schmerz, andererseits durfte sie sich nicht wundern, sie überlegte nicht, dass es den meisten missfallen und sogar ärgerlich machen könnte, dass sie sich abwenden werden und Stephanie Glauben schenken würden. Das sie in eine Zweisamkeit eingedrungen war, die staatlich besiegelt, vor Gott und dem Gesetz Gültigkeit besaß. Kann man dieses innere Gefühl, das sich in ihr regte, jedes Mal wenn sie ihn traf, einfach abstellen? Natürlich nicht, und so erhob sie eines Tages den Kopf, atmete tief durch die Nase ein und sagte laut zu sich selbst: Jetzt erst Recht, die Leute müssen sich daran gewöhnen und dann werden sie verstummen. Sie werden die Wahrheit herausfinden, und dann werden sie mich auch verstehen.
Ein neues Leben hat nun in die bescheidene Behausung der Tennenbachs Einzug gehalten. Beharrlich und äußerst laut schreiend, gab Bernadette zu verstehen, dass sie Hunger hatte und gestillt werden wollte, denn keine Minute vorher war sie zu beruhigen. Schreiend setzte sie ihren Willen durch und niemand durfte sich abwenden, wenn sie nicht zufrieden gespeist und ihre Einheiten an Zuneigung bekommen hatte. Liebevoll saß dann Franzine auf dem Bett und ließ das Baby an ihrer Brust die Milch saugen die Bernadette gurgelnd schluckte und fast nie satt zu kriegen war. Sie spielte nach den Bäuerchen mit ihr, denn wenn die Babyrassel über ihren Kopf zu hören war, quietschte sie vor Freude auf und griff mit ihren winzigen Fingern danach. Zu dritt schliefen sie nun in der großen Küche, Bernadette in dem liebevoll ausgestatteten Gitterbettchen das gleich neben dem Radiotisch aufgestellt wurde. Oftmals nahmen sie Bernadette zu sich ins Bett, legten sie in die Mitte, herzten und liebkosten sie, die Freude der beiden Eheleute war ihnen buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Das Glück schien perfekt, es spielte keine Rolle ob Geld vorhanden war oder nicht, irgendwie schien es immer vorwärts zu gehen. Senta versorgte die Familie mit ihrer Selbstgekochten Hausmannskost die oft üppiger ausfiel als alle angenommen hatten. Tanno arbeitete regelmäßig im Stahlwerk und brachte so manch köstliche Überraschung auf seinem Nachhausweg mit. Gefischte Forellen aus dem nahe liegenden Fluss, frisch geschlachtete Hühner, die sich dann sogleich in panierte Knusperhühner verwandeln ließen. An Hunger litten sie nicht, das Geld verflüchtigte sich zwar rascher als der Monat auch nur zur Hälfte herum war, doch das schien niemanden zu beängstigen. Ferry verlor kein Wort mehr über seine Arbeitssuche, lieber verschwand er auf seinem Motorrad. Mit rasender Geschwindigkeit fuhr er durch den Hof auf die Strasse, sagte kaum ein Wort wohin sein Ziel gehe und erschien oft zwei Tage später wieder zu Hause. Franzine, die sich keine Gedanken über Ferrys Aufenthalt machte, freute sich um so mehr ihren Gatten wieder bei sich zu haben. Männer brauchen ihre gewissen Freiheiten, irgendwann hatte sie dies schon früher gehört, so stellte sie auch keine Fragen und ließ ihn ziehen, wann immer es ihm gelüstete.
Bernadette gedieh zu einem prächtigen Wonneproppen heran, ihre Bäckchen, die eine gesunde rosige Farbe aufwiesen und an einem putzigen Goldhamster erinnerten, brachte viel Freude in das karge Dasein der Familie. Fröhlichkeit verbreitete sich nicht nur in der Wohnung, auch sämtliche Bewohner des Hauses waren entzückt, wenn Franzine mit den Kinderwagen im Hof ihre Runden spazierte, sie manchmal aus dem Wagen hob und mit ihr den Gang fortsetzte. Nicht selten traten sie auf Franzine zu und bewunderten ihr Kind, das ihnen mit fröhlichen Gesichtchen entgegenlachte. Schon lange hatten sie kein so fröhliches Kind im Hof gesehen, geschweige denn, in ihrer unmittelbaren Nähe wahrgenommen. Umso glücklicher stolzierte Franzine mit lächelndem Gesicht den Weg des Pfades auf und ab.
Ferry kam mit lautem Motorengeheul herangebraust, während Franzine ihre kleine Tochter wieder an die frische Luft führte. Das kleine Mädchen jauchzte auf, das Motorengeräusch schien ihr zu gefallen. Er stellte das Motorrad sachte an den Sprossen des Schuppengatters ab, zog zaghaft seine Handschuhe von seinen Händen und kam langsam auf Franzine zu. Sein Ausdruck verhieß nichts Gutes, wie aus Stein gemeißelten starren Gesichtsausdruck kam er näher. Zu spät erkannte Franzine, dass er aufgebracht und wütend mit zitternden Lippen und lauter Stimme zu reden begann.
„Was machst du hier unten, du gehst mir zu oft aus dem Haus, untersteh dich auf die Strasse hinaus zu gehen mit meiner Tochter, ihr habt nichts verloren da draußen, dein Platz ist oben und ich erlaube nicht, dass du mit ihr auch nur einen Schritt auf die Straße wagst, hast du mich verstanden?“ Geschockt blickte sie ihn an, unfähig auch nur einen Satz zu formulieren um ihm zu erklären, dass dies ein harmloser Spaziergang im Hof sei wo keine Gefahren auf sie warteten. Nein, sie verstand nicht, was wäre schon dabei ihre kleine Tochter auch mal in den Ort zu schieben und einen ganz normalen Einkauf zu tätigen? Sie hatte nie danach gefragt. Erst jetzt kam ihr ins Bewusstsein, das sie noch niemals zum Einkaufen geschickt wurde und keine Minute für sich alleine hatte. Das ihr noch niemals Wirtschaftsgeld ausgehändigt wurde, alle anfallenden Kosten von Tanno oder Senta getätigt wurden. Das Übrige fraß Ferrys Motorrad, das nicht selten eine Reparatur brauchte und auch dies von Tanno bezahlt wurde. Ferry bezog nur Taschengeld das er von seinen Eltern mehrmals im Monat zugesteckt bekam. Blitzartig durchfuhr es Franzine, erst in dieser Sekunde fiel ihr auf, dass dies ein Zustand bedeutete, den sie bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Ein Zustand, der sich so schnell nicht ändern sollte.
„Ich hatte nicht vor auf die Straße zu gehen, warum bist du so böse, ich habe nichts verbrochen, was ist eigentlich mit dir los?“ sagte sie plötzlich von Angst gepackt. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, spürte sie sogleich einen brennenden Schmerz auf ihrer Wange, Ferry, mit ungebändigtem Zorn, schlug ihr ins Gesicht, riss ihr Bernadette aus dem Arm und rannte überstürzt nach oben.
„ Stell den Wagen ins Treppenhaus, dann komm sofort herauf“, rief er ihr zu und war auch schon verschwunden. Völlig verdutzt rieb sie sich die Wange und unterdrückte ein Schluchzen. Langsam schritt sie nach oben, was erwartete sie nun?
Tanno saß bei Tisch und schnitzte Stäbe für einen neuen Vogelkäfig. Er schien bedrückt und verlegen, hielt den Kopf gebeugt und sah kaum auf, als sich Franzine langsam an den Tisch setzte. Bernadette lag in ihrem Bettchen und war eingeschlafen. Die Wange brannte und wurde heiß. Senta kam zur Tür herein, Ferry folgte ihr mit nacktem Oberkörper. Sie sprach kein Wort während sie die alte mechanische Kaffeemühle aus dem Schrank holte, zögernd die Bohnen hineinschüttete und langsam die Kurbel andrehte. Ferry setzte sich auf das liebevoll zubereitete Bett und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Noch immer starrte Franzine zu Tanno’s Fingern, die hurtig handwerkten und die Späne auf den Tisch fallen ließen.
„Das wird ein neues Zuhause für eine Blaumeise“, erzählte er ihr, richtete den Blick kurz auf sie und nagelte die fertigen Stäbe mit kleinen Nägeln sorgfältig zu einem Käfig zusammen. Er maß den Freiraum für das Türchen aus, dass schon fertig neben ihm lag.
„Oh, das wird wunderschön“, sagte sie zögernd, „du bist der beste Vogelkäfigarchitekt.“ Und tatsächlich, die Sprieße und das Badehäuschen für den neuen gefiederten Freund, waren perfekt an ihrem Platz gebaut worden. Langsam stand Ferry auf, stellte sich hinter seinem Vater und blickte ihm über die Schulter. Franzine wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, so blieb sie sitzen und sah unbeweglich auf Tanno’s Arbeit.
„Wenn du eine fängst“, unterbrach er die Stille, „ die sind doch schwer zu fangen, was legst du in den Köderkäfig hinein? Glaubst die kommt einfach angeflogen und will von dir gefangen werden?“ Seine Aggression war noch nicht ganz abgekühlt, doch langsam regte sich in ihm das Gewissen. Senta kurbelte weiter an der Kaffeemühle und wagte noch kein Wort zu sagen.
„Gut, dass die Kleine schläft“, meinte er dann, „sie war müde und du hast das nicht einmal bemerkt“, wandte er sich nun an Franzine die ihm jetzt direkt in die Augen blickte und keine Angst mehr verspürte.
„Deshalb war ich mit ihr im Hof, ich wusste das sie dann einschlafen wird, du solltest wissen, das ihr das gut tut, das es gesund ist und ich nur das Beste für sie will, das ist doch ganz normal, ich verstehe dich nicht.“
„Du gehst ein bisschen zu oft raus, das muss nicht sein“, warf Senta ein und zog einen Kaffeefilter aus der Packung.
„Wie bitte?“ sie glaubte nicht recht gehört zu haben, „welchem Kind schadet schon frische Luft, es ist warm draußen, sie bekommt Appetit, sie fühlt sich wohl wenn ich sie spazieren führe.“
„Wir können das Fenster öffnen, dann hat sie ihre Luft, die sie braucht.“ Senta brühte den Kaffee auf. „Bitte stell die Tassen auf den Tisch, Franzine.“ Tanno räumte den Tisch ab und stellte den fertig gezimmerten Käfig in die Speisekammer. Gehorsam stand sie auf und deckte den Kaffeetisch. Fröhliches Gezwitscher drang wieder durch die offene Speiskammertür, Tanno hielt seine Vögel gut und pflegte sie sorgfältig.
Die Nacht nahte und es wurde Zeit ins Bett zu gehen. Die Großeltern hatten sich wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen, Ferry und Franzine waren allein in der Küche.
Franzine, die ganz in Gedanken das Bett abdeckte, schöpfte neue Hoffnung. Bernadette schlief friedlich im Bettchen und gab leise Atemzüge von sich, ein Bild, das sich jede glückliche Familie nur wünschen konnte. Noch immer gab Ferry nicht zu verstehen, dass es ihm Leid tue, das, was er in den Nachmittagsstunden Franzine, Unbegründetherweise, angetan hatte, ihm reute und um Entschuldigung flehen würde. Er schwieg, still und müde begab er sich zu Bett. Franzine legte sich neben ihn, sie fühlte sich deprimiert, fühlte sich schuldig, schuldig, für eine ganz normale Sache. Es war wie sonst, Ferry streichelte sie zärtlich, tat, als ob nichts geschehen wäre. Franzine gab sich hin, sie war überzeugt, dass er dies schnell vergessen und sich alles ins Gute auflösen würde. Er meinte es nicht ernst, er hatte vielleicht einen Anflug von Sorgen die doch Jedermann verstehen und nachfühlen konnte.
Die Nacht verlief voller Liebe und Zuneigung. Kein Wort mehr von den bösen Zwischenfall, es konnte doch nur ein Irrtum gewesen sein.
Er hatte die Hosen kaum rauf gezogen, so fand er seine Sprache wieder. Der Morgen war lau und der Kaffeeduft von den frisch gemahlenen Bohnen aus der Packung, die Senta malte, in der alten Kaffeemühle die sie zwischen den Knien hielt und neugierig auf das glückliche Ehepaar blickte, wartete sie auf die Worte, die ihr Sohn an seine Frau richtete.
Franzine, die wieder das Bett richtete, spürte, dass sie sogleich etwas vernehmen würde, etwas, das ihr nicht behagen sollte.
„Zweimal pro Woche, zweimal, das müsste genügen…“ er wandte sein Gesicht zu Boden und scharrte einen Holzspan von Tannos Vogelkäfigarbeiten am Boden herum.
Er richtete sich auf, langsam und unsicher suchte er nach Franzines Blicken. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, was er damit meinte. Doch schon bald sollte es böser kommen, schlimmer als ein kalter Hagelschauer.
„Samstag und Sonntag… 20 Minuten im Hof deine Runden mit ihr zu drehen reichen vollkommen aus. Auf die Straße gehst du nicht, es ist zu gefährlich, ich will meine Tochter nicht auf der Straße sehen, das hast du jetzt hoffentlich verstanden.“ Ferry war es bitterernst.
„Nein, “ warf Franzine ein, „ich werde täglich für ein paar Minuten mit ihr ins Freie gehen, es wird ihr gut tun, das weißt du doch.“
„Ich will es nicht, du hast zu respektieren was ich dir gerade gesagt habe“, er zog sich das Hemd über dem Oberkörper und Franzine erkannte, das er nicht mit sich sprechen ließ.
„Wir lüften täglich, du kannst sie auf den Arm nehmen und dich ans Fenster stellen, dann kriegt sie auch ihre frische Luft“, sagte Senta und stellte sich auf die Seite ihres Sohnes.
Franzine begriff nichts, es war ihr unerklärlich dass Ferry solch Anweisungen aufstellte. Zweimal am Wochenende durfte sie also mit Bernadette die Wohnung verlassen, es klang unwirklich, fast glaubte sie, dass sie dies alles nur träumte. Weitere Einwände verliefen ins Nichts. Sie bemerkte wieder seinen aufsteigenden Zorn, er ließ nicht davon ab. Seine Mutter hielt zu ihm, bis ins letzte Wörtchen stand sie ihm zur Seite und gab ihm in allen Punkten Recht. Franzine fühlte sich hilflos, versuchte zu verstehen was sich in Ferry bewegte, seinen Standpunkt nachzuvollziehen. Es gelang ihr nicht, sie musste gegen ihren Willen nachgeben, ihr Einverständnis wohl oder Übel abgeben und seinen Willen diesbezüglich befolgen.
„Nach draußen und ins Dorf gehst du nur mit meiner Begleitung, ich mag es nicht, wenn du alleine weggehst, also überlege dir gut, wie du dich verhalten sollst, auch ohne Bernadette hast du nichts auf der Straße verloren.“ Seine Stimme klang unwirsch und sehr ernst, er ließ nicht mit sich reden und Franzine versuchte nicht, ihn umzustimmen.
Sie nahm es hin, hoffte, dass sich diese schwierige Situation eines Tages auflösen würde, seine Forderungen in Vergessenheit geraten werden und sie ungehindert die Straße rauf und runter laufen könnte, ganz so, wie es ihr beliebte.
Tanno kam zur Tür herein und setzte sich zu Tisch. Wie immer war er gut gelaunt und brachte einen Mordshunger zu Tage, die Nacht war schließlich lang und bevor er zur Arbeit musste, aß er sich tüchtig voll. Die Familie nahm Platz und Franzine goss den Kaffee in die großen, angeschlagenen Kaffeebecher, Tanno schnitt das Brot und Ferry wickelte die Butter aus. Es schien so wie immer, Senta lächelte und war auffallend still bei Tisch, Tanno biss unentwegt in sein Butterbrot, Ferry hatte sich wieder beruhigt, auch er aß mit großem Appetit, Franzine saß nachdenklich bei Tisch und versuchte ein paar Brocken hinunterzuschlucken. Sie hob Bernadette aus dem Gitterbett und fütterte sie mit dem Fläschen. Bernadette trank hungrig die Milch, das Szenario vermittelte das Bild einer glücklichen Familie, alle unter einem Dach, vereint und mit allem zufrieden.
1969
Es war wieder frostig kalt an diesem Vormittag, Franzine erhob sich vom Bett um in der Küche Feuer zu machen. Bernadette schlief noch fest, Dorothea war verschwunden. Die Bettseite wies noch eine warme Delle auf, sie konnte also noch nicht lange weg sein. In der Küche fand sie einen Zettel: Bin Brötchen besorgen, bin bald zurück. Dorothea
Sie atmete auf, zog ihren Morgenmantel enger um sich und heizte den Ofen ein. Im Flur hatte Dorothea ihre hohen Stöckelschuhe abgestellt und Franzine konnte nicht herum sie aufzuheben um sie staunend zu betrachten. Hier in der Gegend sind diese Prachtstücke nicht zu bekommen, auch fiel ihr noch keine Frau auf, die so etwas getragen hätte. Elegant und weiblich, die Wadenmuskeln mussten bei Öfteren Tragen ganz schön geformt werden. Langsam stellte sie die Schuhe, die fast wie bald abhebende Raketen aussahen, wieder an ihren Platz zurück.
Sie deckte den Frühstückstisch und schon bald stürmte Dorothea zur Tür herein und schwenkte eine große Tüte voll Gebäck.
„Guten Morgen, Guten Morgen“, rief sie gut gelaunt, schnappte sich einen großen Teller aus der Anrichte und türmte die frisch gebackenen Köstlichkeiten in die Mitte. Franzine lachte, „du hast ja die örtliche Bäckerei leer gekauft, es duftet herrlich….mmmmh“, sie nahm ein mit Sesam bestreutes, knuspriges Weckerl und biss herzhaft hinein. Mohnweckerl, Semmeln, Salzstangen und Kürbiskernweckerln verbreiteten einen appetitanregenden Duft. Das Wasser rann Franzine buchstäblich im Munde zusammen, und das überraschte sie. Eine seltene Gabe, außer Brot an den Wochentagen und sonntags ab und zu Semmeln zum Frühstück, gab es bei den meisten Menschen kaum eine andere Variation an Kleingebäck. Orangensaft wurde in einem Glaskrug auf den Tisch gestellt und Dorothea packte auch noch frische Butter aus. Himbeermarmelade und Nusscreme, die Franzine noch nicht kannte, das Glas inspizierte und sie sofort probieren musste. Bei der Kostprobe verdrehte sie die Augen, es schmeckte ihr unwahrscheinlich gut.
„Wo um Himmels Willen hast du diese Leckerbissen her?“ fragte sie lachend und nahm sich noch einen Löffel süßer Nusscreme.
„Du wirst es nicht glauben, das habe ich nur wenige Meter von hier entfernt gekauft, du kennst doch das Geschäft gleich oben an der Kreuzung, da habe ich so mancherlei gefunden wo ich dachte, es würde dir schmecken und dir ein bisschen Fleisch auf die Rippen zaubern lassen.“
„Ja natürlich“, Franzine aß noch einen Löffel Creme, „ ich hab ja als wir hier hergekommen sind die Auslagen bestaunt, ich hab noch gar nicht alles auskundschaften können, dass es hier so köstliches Zeug gibt, das wusste ich noch nicht.“ Sie lachte herzerfrischend aus voller Kehle. Und Dorothea stimmte ein.
„Schläft die Kleine noch?“ wollte Dorothea wissen, Franzine nickte, „dann dürfen wir nicht so laut sein, wenn sie kommt, wird sie sicher großen Hunger haben.“ Sie schaltete das Radio ein, „mit Musik geht alles besser“, sagte sie vergnügt und setzte sich zu Tisch.
„Außerdem, Schwesterchen, vor lauter Reden habe ich vollkommen vergessen, das ich dir aus Italien etwas mitgebracht habe, später, es ist noch im Auto verstaut, später gehen wir runter und ich gebe es dir, ich glaube schon, das es dir Freude bereiten wird.“ Sie zwinkerte ihr zu und Franzine fühlte sich glücklich.
„Wir müssen es ihr heute mitteilen“, sagte Dorothea mit etwas Schwermut, „aber lassen wir sie tüchtig essen, erst danach wäre der günstigste Zeitpunkt, wir wollen ihr nicht gleich nach dem Aufwachen den Appetit verderben.“
„Bringen wir es hinter uns, wappnen wir uns mit tröstenden Worten, sie soll das Gefühl haben, dass wir beide sie lieben, der Abschied darf nicht in einem schmerzvollen Auseinandergehen enden.“ Tapfer richtete Franzine sich auf, sie wusste, Bernadette kommt in die besten Hände, war überzeugt, dass die Monate im Fluge vergehen und sie ihre Tochter wohlbehalten wieder in die Arme schließen kann.
„ Vielleicht erleben wir eine Überraschung und sie wird sich vor Freude kaum halten können, so, und nun fangen wir mal zu frühstücken an, lass sie nur schlafen.“ Dorothea hatte Recht, und das wusste Franzine ganz genau.
Bald darauf öffnete sich leise die Schlafzimmertür und Bernadette kam langsam und schlaftrunken auf die beiden Frauen zu.
„Da bist du ja, unser Engel kann noch gar nicht aus den Augen sehen“, lachte Dorothea, Mutter und Schwester küssten sie und hoben sie auf den Sessel. Sie rieb an ihren Augen und gähnte ausgiebig, ein Bild, das helllautes Gelächter hervorrief. Ihre Augen wurden größer, als sie die vielen Köstlichkeiten vor sich ausgebreitet sah und dabei ihre kleine Teeschale umstieß. Dorothea schnitt ein Mohnweckerl auf und bestrich es mit der köstlichen Nusscreme.
„ Hallo, hallo, nicht so schnell Kleines“, rief Dorothea, Bernadette aß mit einem schnellen Tempo, dass beide Frauen erschrocken auf das Mädchen starrten.
„Es schmeckt so…es schmeckt so gut…“ würgte sie hervor und kaute laut.
„Langsam, niemand nimmt dir was weg“, sagte Franzine und war glücklich, das ihre Tochter großen Appetit verspürte. Der nächtliche Zwischenfall schien vergessen.
„Oh, meine Vergesslichkeit wird mich noch einiges kosten“, sagte Dorothea und zog aus ihrer Handtasche einen Reklamezettel und zwei Briefe hervor, „ich hab dir deine Post mitgebracht, ein Luftpostumschlag ist dabei, wie interessant“, lächelte sie, zog die Augenbrauen schelmisch hoch und zwinkerte.
„ Das ist von Ignazia, sie hat aus Kanada geschrieben, das ging ja sehr schnell“, neugierig nahm Franzine die Umschläge entgegen, während Dorothea mit Bernadette das Frühstück weiter einnahm. Ein Erlagschein für die nächste Miete war in den zweiten Brief, den Franzine hurtig weglegte.
„Das muss noch warten, ich habe noch nichts verdient, der Vermieter bekommt sein Geld schon“, sagte sie gedehnt, „erstmal bin ich gespannt wie es meiner missenden Freundin geht.“
„Du musst mir noch mehr von ihr erzählen, ich bin schon sehr gespannt darauf. Es war bestürzend was du mir gestern noch erzählt hast, so hat es also angefangen. Du durftest keinen Schritt aus dem Haus gehen, du hast niemals Geld erhalten, wie eine Gefangene hast du gelebt…..es tut mir so Leid.“ Dorothea war plötzlich mit Mitleid erfüllt.
„Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht, das sich alles verschlimmern sollte, die Schlinge immer enger wurde, und dies von allen Seiten, außer von Tanno, er war der Einzige, der stets zu mir gehalten hat.“ Traurig ließ Franzine die Briefe sinken und starrte leer vor sich hin.
„Und er konnte dir nicht helfen?“ frage Dorothea.
„Nein“, Franzine schüttelte den Kopf, „ manchmal wollte er mir 20 Schilling heimlich in die Hand drücken, ich habe abgelehnt, wie hätte ich es ausgeben können? Hätte Ferry bemerkt dass ich etwas Geld besitze, wäre er auf alle möglichen Gedanken gekommen. Alles was ich benötigen sollte, würde ich von ihm, beziehungsweise von Senta bekommen, hätte ich etwas dagegen erwidert, hätte ich seinen Zorn noch mehr gereizt.“
„Was ist mit Annelie und Pepp, haben sie irgendwie mitbekommen wie schlecht du behandelt wirst?“
„Ja, das haben sie allerdings, aber das schildere ich dir später, auch dies ging verheerend aus. Bernadette, bist du nun fertig?“ Franzine wischte ihrer Tochter den Mund ab.
Der große Augenblick war nun gekommen, sie sollte es nun erfahren, jetzt, in dieser Minute. Sie wussten nicht, wie sie beginnen sollten. Bernadette schaute sie fragend an, sie spürte, dass etwas Unangenehmes auf sie zukommen würde. Dorothea nahm sie auf den Schoß und suchte nach passenden Worten.
„Hör mir bitte zu Bernadette, was würdest du sagen, wenn du mit mir kommen könntest, in ein wunderschönes Land….“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen zeigte sich Bernadette neugierig, sie blickte auf und verzog keine Miene.
„Zu den hohen Schuhen?“ fragte sie und schaute sich nach ihrer Mutter um.
„Ja, aber nicht für immer, nur für ein paar Monate, du weißt ja das ich im Krankenhaus arbeiten muss um Geld zu verdienen, da muss ich auch über Nacht bleiben, ich kann dich nicht alleine zu Hause lassen, wenn du dann in die Schule kommst, bist du wieder bei mir.“ Sanft strich Franzine über ihre Haare und war sich bewusst, wie lange ein paar Monate für ein Kind dauern können.
„Ich hab euch gehört in der Nacht“, sagte sie, „ich soll mitfahren mit Tante Dorothea, ich sehe dich dann nicht mehr, dann habe ich geweint, aber dann habe ich an die hohen Schuhe gedacht, vielleicht bin ich dann schon so groß, dass ich mir auch solche kaufen kann.“ Ihre Worte ließen beide Frauen schmunzeln.
„Bis dahin wahrscheinlich noch nicht, aber ich verspreche dir, wenn du größer bist, gibt es noch schönere und noch höhere Schuhe für dich“, meinte Dorothea während sie Bernadette sanft auf den Knien schaukelte.
„Fein“, rief sie, „ ich warte so lange. Und was ist mit Pucki und Tanja, die dürfen doch nicht mitkommen, oder?“
„Pucki, Tanja und deine anderen Freunde sind noch da wenn du zurückkommst, Tante Dorothea hat nur Platz für dich, sie werden dann alle staunen, wie groß du geworden bist wenn du wieder hier bist.“ Franzine war erleichtert, es entwickelte sich besser als gedacht.
„Jetzt ziehst du dein bestes Kleid an und gehst dich bei deinen Freunden und Nachbarn verabschieden, spiel noch mit Pucki wenn es Frau Ardos erlaubt, lass dir ruhig Zeit Kleines, vergiss auch Frau Edler, ihren Mann und ihren Sohn nicht, sie sollen alle sehen, das du ein gut erzogenes kleines Mädchen bist“, sagte Dorothea und schickte Bernadette zum Zähneputzen. Sie nahm den Schemel, stellte sich vor die Spüle und begann mit der Zahnreinigung.
Als sie fertig war rief sie: „Wann fahren wir, kommt dann Mama auch?“
„Wir werden sehen ob es sich ausgeht mein Kleines, ich kann es dir wirklich nicht versprechen.“ Auf diese Frage war Franzine vorbereitet gewesen, „wenn ich nicht kommen kann, darfst du bitte nicht traurig sein.“
„Ich werde ganz brav sein, ich werde den ganzen Tag Schuhe anschauen.“
„Die haben es ihr wohl angetan“, lachte Dorothea, „na, ich werde einen ausgedehnten Schaufensterbummel mit ihr unternehmen, ich glaube, das wird ihr bestimmt gefallen, ich werde ihr die schönsten Schuhgeschäfte zeigen.“
„ Da kriegst du sie nicht mehr weg, deine Geduld wird auf eine harte Probe gestellt“, sagte Franzine lachend und begab sich mit Bernadette ins Schlafzimmer und suchte ihr schönstes Winterkleid heraus.
„Keine Sorge“, rief ihr Dorothea nach, „mich bringst du aus einem Schuhgeschäft auch nicht so schnell hinaus.“
Bernadette, in einem wunderschönen himmelblauen Wollkleid mit bestickten Blumen mit weißer Strumpfhose erschien graziös vor ihrer Tante und drehte sich im Kreis. Dorothea hob sie hoch und wirbelte mit ihr herum.
„Jetzt ziehst du noch deinen Mantel und die Stiefel an, dann besuchst du deine Freunde und Pucki, warte, hier hab ich noch ein mit Nusscreme dick bestrichenes Mohnweckerl, das ist für Tanja, sie wird sich bestimmt freuen.“
„Das gebe ich ihr gleich bevor es hart wird, das wird bald in ihrem Bauch landen“, sagte Bernadette fröhlich und schlüpfte in ihren Mantel.
„Lass dir ruhig Zeit Kindchen, deine Mutter und ich haben noch viel zu bereden.“
Bernadette nickte, öffnete die Tür und ging hinaus.
Während Franzine den Brief von Ignazia las, spülte Dorothea das Frühstücksgeschirr ab. Sie merkte, das Franzine den Brief nur langsam las, manchmal den Mund zu einem zufriedenen Lächeln verzog und sich dann wieder dem Vollbeschriebenen Blatt hingab. Es konnte also nichts Schlimmes darin stehen, Franzines Gesichtsausdruck verriet nichts dergleichen.
„Sie haben es gut getroffen“, sagte sie gedankenvoll, „Roman hat eine wirklich gute Stellung ergattert, er zweifelte vor der Abreise sehr daran, das sagte mir Ignazia noch voller Nervosität, er hatte schon immer Angst vor dem Unbekannten, vor alles Neue.“ Nun schien sich das Blatt nur zum Guten gewendet zu haben, zumindest bei Iganzia und Roman. Dorothea wollte sogleich mehr von der Freundin wissen, von der Frau, die ihrer Schwester geholfen, und ihr sogar das Leben gerettet hatte.
Romas Ehe war nur noch eine Ruine bevor sich der Plan festigte auszuwandern und er selbst wusste, dass er in Ignazia die Frau seines Lebens gefunden hatte. Stephanie entwickelte sich immer mehr zur Furie, vermutete in Roman nicht nur den Ehebrecher aller Zeiten, sondern auch noch als Taugenichts und Vernachlässiger ihrer Familie und vor allem ihrer gemeinsamen Tochter. Das sie selbst die Hauptschuld trug, das konnte sie weder einsehen noch verstehen und, wenn ihr Herz sich doch noch eines Tages erweichen sollte, niemals zugeben würde. Oftmals rastete sie so aus, dass sie, wenn sie die Möglichkeit hatte, Romans Geldbörse aus seiner Hosentasche fischte, das darin befindende Papiergeld, sei es nur ein Zwanzigschillingschein oder sogar ein Hunderter, mit großer Wut herauszog, sich eine Schere schnappte und den Geldschein in lauter Schnipseln klein zusammenschnitt und am Fußboden mit höhnenden Lachen zerstreute. Es kümmerte sie nicht im Geringsten, dass dies strafbar und geahndet wurde, sie wusste schon immer insgeheim, ihr Ehemann würde sie niemals verraten. Nicht bei der Gendarmerie, nicht bei der Polizei, denn er würde sofort sein Gesicht verlieren, sein ohnehin karges Ansehen würde noch tiefer sinken und sämtliche Freunde und Bekannte kämen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Das durfte nie passieren, deshalb schwieg er beharrlich um die Familienverhältnisse so gut es ging zu bewahren und sich nicht zum Gespött der Bevölkerung zu machen. Ignazia wusste viel, aber doch nicht alles. Wahrscheinlich war es ganz gut so, nicht auszudenken wie sie reagieren würde wenn sie die gesamte Wahrheit wüsste. Schmach und Scham würden Roman in den Selbstmord treiben, nie würde er dies verkraften können.
„Geht es ihr gut?“ wollte Dorothea wissen und trocknete den letzten Teller ab.
„Es kann gar nicht besser sein“, strahlte Franzine und dachte keine Sekunde an ihre eigne Lage, die zu diesem Zeitpunkt auch nicht die Beste war.
„Roman hat mit ihr eine echte Berghütte in den kanadischen Bergen bezogen, nur vorübergehend, seine Stellung ist ihm garantiert, er hatte sich schon am ersten Tag bestens bewährt, sein Vorgesetzter ist voll des Lobes über ihn, so schreibt jedenfalls Ignazia,“ Franzine konnte es kaum glauben, aber doch, der Brief war voller Glücksseligkeit ihrer ausgewanderten Freundin.
„Sie schreibt auch, das in den nächsten Tagen ein Paket für Bernadette ankommen würde….sicher Bücher von ihrem Bruder Arnold, der leider vor zwei Jahren in den steirischen Bergen ums Leben gekommen ist. Er ist abgerutscht auf einer Felsklippe, er war erst fünfzehn Jahre alt, sie spricht nicht gerne darüber, ich fragte auch nie mehr danach.“
„Gut so“, meine Dorothea, „behalte die Bücher auf, ich bin mir sicher, Bernadette wird sie verschlingen wenn sie endlich lesen kann.“ Da war sich Franzine sicher, wenn sie nach ihr geriete, so würde ihre Tochter eine echte Leseratte werden. Guter Gedanke, Mädchen die gerne lesen, können nur gescheite Frauen und gute Ehepartnerinnen werden. Den Vorsatz hatte sie sich schon lange eingeprägt, das musste in ihrer Schulzeit sogar noch in der Anfangszeit gewesen sein, denn sie wusste, dieser Satz war schon so lange in ihrem Bewusstsein eingenistet, länger als sie sich erinnern konnte, dies zum Ersten Mal gehört zu haben.
„Ich hätte Lust auf ein Bad“, sagte Franzine nachdem sie den Brief weggelegt hatte, „ich werde die Nachbarin fragen ob sie mir den Schlüssel borgt, im Keller soll es ja so etwas wie ein Badezimmer geben.“
„Gute Idee, ich könnte auch ein ausgiebiges Bad vertragen“, Dorothea setzte sich wieder an den Tisch, sie war noch ungeschminkt und ihr Gesicht wirkte dadurch natürlicher und mädchenhafter.
„Ich werde mal nachsehen gehen, es muss bestimmt erst eingeheizt werden, ruhe dich aus, ich hole den Schlüssel, muss erst auskundschaften wo das so genannte Badezimmer wohl zu finden ist.“
„Nein, ich werde dir helfen“, warf Dorothea ein, „es kann nicht schaden, wenn ich mich auch etwas bewege.“ Die Schwestern lachten.
Albine Edler gab ihnen ohne Umschweife den Schlüssel, erklärte noch genau wo es läge und schon waren sie unterwegs in den kalten Keller. Nur ein paar Schritte neben der Treppe fiel ihnen sofort die grau gestrichene Tür auf, dies musste das Bad sein. Und richtig, ein Raum der unfreundlicher nicht sein konnte. Alles in grau, graue Wände, grauer Steinboden mit einer freistehenden Badewanne, ein großer Boiler ragte genau über den Abfluss in die Höhe der mit Holz zu beheizen war und dann sicher jede Menge heißes Wasser lieferte. Vor der Wanne lag eine alte Holzpritsche um nicht auf den kalten Steinboden zu treten. Es roch stickig und nach Moder. Das kleine Fenster lag hoch und troff vor Schmutz.
„Fantastisch“, rief Franzine und öffnete die Aschelade des Boilers, „sogar ausgekehrt und saubergemacht, ich werde sofort Holz holen, während sich das Wasser erwärmt, scheuere ich die Wanne aus.“
„Nein, das mache ich“, sagte Dorothea und blickte sich nach allen Seiten um, „aber vorerst werde ich ein gut riechendes Schaumbad aus dem Auto holen, ich bin gleich wieder zurück.“ Sie lief eilig die Treppe hinauf und Franzine schaffte aus ihrem Kellerabteil das Holz herbei. Eine dicke schwarze Spinne hatte sich in die Wanne verirrt, Franzine schauderte, zog ihren Hausschuh vom Fuß und zerdrückte das Tier ohne groß darüber nachzudenken. Die Freude war groß, denn das heiße Wasser reichte sicher für drei oder vier Bäder aus und wenn Bernadette zurückkommt wird auch sie sofort in die Wanne gesteckt.
Dorothea kam mit einer großen Tüte zurück, stellte sie ab und zog eine schön verzierte Flasche heraus die mit duftendem Badezusatz gefüllt war.
„Hier, das versprochene Geschenk“, Dorothea überreichte Franzine ein in Geschenkpapier eingewickeltes Paket, „mach es gleich auf, du wirst es hier bestimmt brauchen können“, lachte sie, nahm aus der Ecke das Scheuerpulver und säuberte die Badewanne während das wohlige Prasseln des Feuers aus der Ofenlade des Boilers drang, der Raum sich erwärmte und Franzine einen Freudenschrei ausstieß. Flakons der besten Parfüme die man sich vorstellen konnte kamen zum Vorschein, Badeöl und Körperlotionen von denen sie noch niemals gehört und schon gar nicht geträumt hatte. Eine hellrosafarbene originale Chaneljacke genau in ihrer Größe war unter den Geschenken und Franzine jubelte, umarmte die Schwester und es störte sie nicht, dass die Umgebung nicht ganz in dieses Bild passte.
„Komm, gehen wir in die Wohnung zurück, das wird sicher noch eine Stunde brauchen bis sich alles richtig erwärmt hat, warte, ich lege noch Scheite hinein, ich freue mich schon riesig auf das Bad“, sagte Franzine mit strahlenden Augen, „ich kann es nicht glauben, ich habe eine Glückssträhne, ist das zu fassen?“
„Sie wird nicht abreißen, das hab ich fest im Gefühl“, Dorothea legte ihren Arm um Franzines Schulter, „komm, gehen wir nach oben.“
Sie kümmerten sich um einander, sie beredeten jedes kleinste Detail eines Themas das gerade zur Sprache kam. Manchmal lagen sie sich in den Armen und schluchzten. Sie dachten an Franzines Tochter, an die vorübergehende Trennung die wohl schwer zu verschmerzen sei. An Ferry, der noch immer verschwunden blieb. Die Erlebnisse der letzten Jahre die Franzine mit viel Kraft durchstehen musste, die Todesfälle, Thorsten, der ihr noch immer sehr Leid tat. Annelie, Pepp, die nach der Katastrophe keinen neuen Anfang fanden. Der kleine Mann, den Ferry eines Tages mitbrachte, Senta… Tanno….
„Um das Mittagessen brauchst du dich nicht zu kümmern“, meinte Dorothea und probierte mit Franzine die Duftnoten der Parfüms durch die sie sich am Küchentisch aufgestellt hatten. „Wir gehen ins Dorf rüber und essen im Gasthaus Fuchsia, es gibt dort das beste Gulasch dass ich je gegessen hab.“
„Ich kann das nicht alles annehmen Dorothea“, Franzine war es peinlich dass ihre Schwester alles bezahlte und erneut darauf bestand auswärts essen zu gehen. Natürlich war ihr aufgefallen das sie keine arme Frau sein konnte, aber nun wurde ihr doch bewusst, dass sie weit unten stand, materiell nichts besaß und ihr der Gedanke einschlich, dass sie von Dorothea ausgehalten werde.
„Ich weiß was du denkst“, sagte sie plötzlich, „ ich unterstütze dich nur, ich halte dich nicht aus.“ Und somit hatte sie wieder ihre Gedanken erraten, Franzine wurde rot. Auch das bemerkte Dorothea und schickte sie nun zum Baden in den Keller.
„Mach du den Anfang, hier, nimm die Nr.5 Seife von Chanel, es wird deiner Haut schmeicheln und du wirst duften wie ein Blumengarten am Morgen.“
„Danke, meine Schwester, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll…“ Tränen füllten Franzines Augen.
„Nun geh schon, unsere Bernadette wird sich bestimmt auch freuen, wenn sie sich in die Wanne setzen kann“, sagte Dorothea und versuchte Franzine von diesen Gedanken wegzubringen, was ihr schließlich in diesem muffigen Raum auch gelang. Franzine nahm freudig die in Papier eingewickelte Seife mit dem blumigen, teuren Duft entgegen und ging in Richtung Keller um das erste Bad in der neuen Wohnung ausgedehnt zu genießen.
1965 – 1966
Schon früh konnte sich Franzine selbstständig entwickeln und sich manch Dinge, die ihrem Alter noch nicht entsprechend waren, aneignen. Sie lernte auf sich aufzupassen, nicht nur im Straßenverkehr, der ein wahres Horrorszenario für altere Menschen darstellte, sondern sie konnte die meisten Anforderungen, die an sie gestellt wurden, mit Leichtigkeit erfüllen. Sie fasste viele Dinge schneller auf als ihre Schulfreundinnen oft je vermochten, dann ratlos in die Gegend blickten und hilfesuchend nach Beistand Ausschau hielten. Franzine, falls sie in ihrer Nähe weilte, versuchte eine geeignete Lösung zu finden. Dankbarkeit war zwar nicht immer zu erwarten, doch sie kümmerte sich nicht darum. Wichtig war nur ihre Erkenntnis und Erfahrenheit, die sie gern einsetzte und nicht selten von den Ratsuchenden lobend beglückwünscht wurde.
Hier schienen sich die Dinge anders zu gestalten, ihre Meinungen wurden entweder überhört, oder mit einer ausladenden Handbewegung abgetan. Junge Frauen, die sogar schon Kinder hatten, kamen bei Senta meistens schlecht weg. Sei es die zu hoch toupierte Frisur, oder den zu kurzen Rock, über alles schien sich Senta aufzuregen, das Wort Toleranz oder Modernität, kamen in ihrem Wortschatz nie vor. Obwohl viele dieser jungen Frauen eine gute Ehe führten, oder sich im Beruf etablierten, fielen ihr vorrangig die zu gewagten Erscheinungen auf, die der Zeit entsprechend auftraten und durchaus nicht zu verübeln war. Sie wetterte oft stundenlang über diese langhaarigen Ziegen, die so gar nichts vom harten Leben verstehen und es ihnen nur zu wünschen wäre, auch mal die härteren Zeiten mitzuerleben. Sie sollen endlich begreifen, dass dies der Untergang aller Anständigkeit und aller Regeln sei, die ja schon seit Menschenbestehen Gültigkeit hat und die neue, moderne Zeit, das Übel aller rechtschaffenen Menschen einleiten würde. Mutige junge Männer, die sich die Haare bis über den Nacken wachsen ließen, waren verpönt und wurden aufs tiefste verachtet, zumindest bei den Menschen, die schon ein fortgeschrittenes Alter erreicht hatten. Franzine war also wieder in eine der Haar-Fallen gelandet. Die Zöpfe sind zwar gewichen, der große Knoten am Hinterkopf den sie oftmals trug, beherrschte sie nach einigem Üben perfekt. Doch auf die Frage, ob sie die Haare etwas kürzen könne, verbot es ihr Ferry ohne Angaben von Gründen. Die langen Haare müssen so bleiben, wie sie sind. Kleider oder Röcke, die über dem Knie endeten, kamen sowieso nicht in Frage. Nicht, das es Franzine viel ausgemacht hätte, sie fand ihre Beine zu dünn, Waden und Schenkeln waren praktisch nicht vorhanden, aber ausprobiert hätte sie doch mal gerne dieses oder andere Modestück, die sie meist nur in Versandkatalogen bestaunen durfte. Senta bekam sie jedes Jahr im Frühjahr und Herbst zugeschickt, Franzine konnte es dann kaum erwarten die Modeseiten durchzustudieren. Ihre alten Sachen trugen sich ab, was Neues kam kaum dazu. Freya schenkte ihr manchmal eine Jacke oder Bluse, auch umgenähte Stoffhosen und Kleider. Entsprachen sie Ferrys Geschmack, durfte sie die Sachen behalten, ansonsten musste Freya die Stücke wieder zurücknehmen. Niemand fragte Franzine nach ihren Wünschen wenn es um Kleider ging, hier regierte Ferry über sie, was ihm gefiele, gefiele schließlich auch seiner Frau. Natürlich hätte Franzine sämtliche Sachen lieber behalten die ihr ausgesprochen gut passten und ihren Typ unterstrichen. Schweren Herzens trennte sie sich wieder nach einigen kurzen Augenblicken von den verlockenden Anziehsachen, Ferry ließ keine Gnade walten. Anfangs wunderte sich Freya über Ferry, der ihre Tochter nie aus den Augen zu lassen schien. Aber dann kam der Ärger, nach und nach. Sie vertraute auf Franzine und hoffte, dass sie sich bald zur Wehr setze und die Lage sich bessern oder ändern würde. Geld war kein Thema zwischen den beiden Eheleuten, alles was sie brauche, würde sie ja schließlich auch bekommen.
Bernadette war der einzige Lichtblick in der Familie. Sie war auch die einzige, die die neuesten Kleidchen trug und alle paar Wochen von Tanno beschenkt wurde. Er kannte sich aus mit Babysachen, er konnte an keiner Kindermodenauslage vorbei gehen ohne etwas mitzunehmen. Rosa Rüschenkleidchen für sie brachte er genauso wie kleine Püppchen und Teddybären mit nach Hause um es ihr freudestrahlend ins Gitterbett zu legen. Ein großes Aufatmen von Franzine, die dankbar ihre kleine Tochter versorgt wusste. Die Sehnsucht nagte in ihr, auch sie wollte einmal ein nagelneues Kleid anziehen, Freya bekam sie ja nur billiger und getragen von ihrem Bekannten der ständig in Europa herumreiste und in Sachen Mode ein ausgesprochen gutes Händchen hatte. Die Ausnahme war der Brautkleidstoff, den er ihr frisch aus der Stofffabrik für Franzine aus Paris schickte und trotzdem einen angemessenen Preis verlangte. Das einzige modische Prunkstück, das nun in einmaliger Ausfertigung im Schlafzimmer der Schwiegereltern im Kasten hing und bereitwillig, ohne die Chance sich zu wehren, den alten Modergeruch in sich aufsaugen konnte. Freya machte sich Sorgen, Sorgen um ihre Tochter und um ihre Enkeltochter, die sie so selten zu Gesicht bekam, als sie sich das je gedacht hatte. Franzine dachte nicht darüber nach, es hatte keinen Zweck, die Liebe war noch frisch und was machte schon ein Brautkleid aus, dass sie ohnehin nie wieder tragen wird.
Franzine hielt die unfreiwillige Vereinbarung ein, des Friedens Willen, denn was würde es ihr bringen, wenn sie sich mit ihrem Mann um diese Kleinigkeit des Ausführens um ihre Tochter diesbezüglich, auseinandersetzte, sie musste nachgeben, er zeigte keine Spur von Verständnis. Er brachte es nicht auf, ihr dieses kleine Vergnügen, Bernadette und sie selbst, mal ins Freie zu bewegen und auch die andere Straßenseite zu sehen, einmal sich weiter vom Haus zu entfernen, sich die Ortschaft und die Umgebung mit ihr anzusehen. Es war unmöglich, er hielt es für unsinnig, sie solle das all Schlechte nicht wahrnehmen, dass sich vielleicht mehrere Meter vom Zuhause auftun würden. Eine Vorstellung, die sie weder annähernd verstehen konnte, noch, dass sich in dieser friedlichen Gegend was Schreckliches ereignen würde. Alles war still, nicht einmal ein Verkehrsunfall war zu vermelden. Nichts, nur die Vögel in den Bäumen vorm Haus zwitscherten am Morgen, Fahrradklingeln die manch Fahrer nur ausprobieren wollten waren zu hören, oder Ferrys Motor, den er vehement ankurbelte, um seinem Gefährt noch mehr Kraft einzuflössen versuchte. Auspuffwolken erfüllten dann den kleinen Hof, Benzingeruch drang allen in die Nasen. Ein paar Kinder spielten im Sandkasten am Nachmittag, wenn die Eltern ihre Ruhe haben wollten.
Als Franzine wieder ihre Regel bekam, suchte sie verzweifelt nach den Binden, die sie immer kaufte und die ihr auch den nötigen Schutz gaben. Es war keine mehr zu finden, Senta stand wieder am Herd und rührte eine dicke Erbsensuppe an. Sie raffte sich auf, obwohl sie dieses Thema nie anschnitt und dies eher zu verstecken versuchte, musste sie nun Senta um Ersatz fragen. Das Blut saugte ihre Unterhose auf, die Oberschenkel waren voll Blut und bald würden diese Stellen offene Wunden aufweisen. Sie hatte Unterbauchschmerzen und hielt sich des Öfteren krumm und versuchte das alles zu ignorieren. Sie wollte es nicht zur Schau stellen, dieses normale wiederkehrende monatliche Frauenproblem, das müsste doch Senta mehr als gut nachvollziehen können.
„Hast du einen Monatsschutz da?“ begann sie zu fragen, kam langsam auf sie zu und sah sie fragend an.
„Was meinst du mit Monatsschutz?“ fragte Senta mit finsterer Miene und bröckelte einen Suppenwürfel in den Topf.
„ Ich habe meine Menstruation bekommen“, sagte Franzine und wusste nicht, dass sie gerade ein Fremdwort benutzt hatte.
„Was soll das sein“, fragte sie unwissend, „was ist das, bist du wieder schwanger?“
Franzine erkannte sofort, dass Senta damit nichts anfangen konnte.
„Nein, im Gegenteil, ich habe…..die Regel, weißt du, ich finde keine Binden mehr.“
Senta nickte hämisch, sie wusste nun, was Franzine gemeint hatte.
„Was glaubst du, glaubst du, in meiner jungen Zeit hat es so was wie Binden oder Monatsschutz gegeben? Wir mussten alte Fetzen auskochen, wir hatten sie dann zwischen die Beine gelegt, damit man nicht sieht, dass sie Frau ihre unreinen Tage hatte, wir haben es alle überlebt, für so etwas geben wir kein Geld aus, ich hab noch welche im Kasten, sie sind schon lange nicht mehr benutzt worden, als Thorsten geboren wurde, hatte ich meine letzte Regel, das weiß ich noch genau“, Senta rührte im Topf und wies auf die Schlafzimmertür.
Was blieb Franzine übrig? Sie hatte verstanden, für diese Sache konnte sie sich wieder nicht durchsetzen. Die erste Schranktür gab einen raunzenden Laut von sich, als Franzine sie langsam öffnete. Besser als gar nichts, sagte sie sich, einen Schutz brauche ich unbedingt.
Da lagen sie auch schon, fein säuberlich aufgeschlichtet in der ersten Reihe. Raue Leinenlappen lagen auf alten Taschentüchern, sicher von Tanno, alte Geschirrtücher die ausgefranst sorgfältig zusammengefaltet wurden. Alte Stoffreste, die sogar eingesäumt und gebügelt zwischen den anderen Lappen lagen. Sentas Monatsschutz, in ihren jungen Tagen, die sie sogar überleben ließen, die nichts anderes kannte. Langsam hob Franzine einen Stoffrest nach dem anderen hoch. Welche ist nun am weichsten, was saugte besser das Blut auf, so, dass man nichts durch Hose oder Rock erkennen kann? Sie überlegte, manche Stoffe waren so dünn, das die gar nicht in Frage kamen. Die Leinenlappen waren zwar dicker, aber umso rauer und kratziger. Die alten Taschentücher von Tanno kämen da schon eher in Frage. Zwei auf einmal in der Unterhose, würde niemand sehen und die saugen bestimmt besser, als all das andere Stoffzeugs, die sicher die Konturen an der Kleidung abzeichnen würden.
Franzine überlegte, die alten Taschentücher sind am weichsten, das wäre sicher das Beste für diese paar blutenden Tage. Sie entschied sich für zwei karierte Schnäuztücher, die sicher schon viel von Tannos Rotz in sich aufgesogen haben. Sollte sie es mal ausprobieren und schnell die zwei Tücher in ihre Unterhose zurechtlegen? Gedacht, getan….schnell riss sie ihren Rock hoch und faltete die Tücher zurecht und legte sie auf die schon Angeblutete Unterhose. Rasch wieder hinaufgezogen, trat sie auf einem Bein auf das Andere. Spürte die etwas Unangenehmes? Ist ihr das etwas im Wege? Es fühlte sich gar nicht so schlecht an, es war auszuhalten. Ob es das Blut aufsaugte und keine verdächtigen Spuren hinterlassen würden, das wird sich schon zeigen. Es fühlte sich ziemlich gut an, das Vaterland schien gerettet. Sie blieb noch im Schlafzimmer und blickte sich um. Die Vorhänge waren zurückgezogen, die Sonne schien durch das offene Fenster in den Raum. Franzine wagte einen Blick aus dem Fenster, ein wenig gebeugt legte sie den Kopf in ihre Hände, stützte sich auf das Fensterbrett und sah ins Freie hinaus. Sie atmete die frische Luft tief in ihre Lungen, fast erleichtert genoss sie den sanften Windhauch, der ihr Gesicht berührte. Sie spürte keinen Schmerz mehr, vergaß für einige Minuten die trübliche Situation in der sie sich so gut sie konnte, zurechtfinden musste. Küchendüfte aus den umliegenden Wohnungen drangen ihr in die Nase, es wurde mit viel Zwiebel und Knoblauch gearbeitet, verschiedene Speisen die bald auf den Mittagstisch stehen werden wurden gerade zubereitet. Sie spürte, dass sich ihr Magen zusammenzog, der Weg der Speiseröhre bis in ihre Körpermitte schien sich zu schließen, als würde er von unsichtbaren Händen zugemauert. Kein Gedanke mehr an Essen, der Durchgang war abgesperrt. Bernadette schlief friedlich in ihrem Bettchen neben dem Radio, ihre Mahlzeit nahm sie wie immer mit großem Appetit ein. Ein Lichtblick. Sie war verschont von diesen einengenden Gefühlen, die Franzine wieder heimgesucht hatten. Sie schöpfte die frische, laue Luft in sich auf und mit dem Sauerstoff schöpfte sie auch neuen Mut ein.
Aus der Ferne drang Pferdehufgetrappel, das letzte Fuhrwerk des Ortes näherte sich langsam die Straße entlang. Der alte Kilian, ein krummer Mann mit einem großen Höcker am Rücken fuhr mit seiner Holzfuhre in die nächste Tischlerei. Franzine sah ihm noch lange nach, als er unten mit seinem alten Gaul vorbeifuhr und kraftlos die Pferdepeitsche herabhängen ließ. Ein paar Autos überholten ihn schnell, er nahm keine Notiz davon. Sie betrachtete ihren dünnen Arm, an ihrem Ringfinger glänzte der goldene Ehering, den ihr Ferry bei der Trauung langsam überstreifte und beide sich gelobten, für immer und ewig treu zu sein, sich in guten, wie in schlechten Zeiten zu lieben und zu ehren. Sie beugte sich weiter aus dem Fenster und winkte einem kleinen Mädchen zu, das gerade eine junge Frau im Kinderwagen vor sich her schob. Fröhlich und mit lautem Gequietsche, streckte sie ihre Ärmchen in Richtung Fenster, die Mutter grüßte freundlich zu ihr hoch. Bald waren die Beiden verschwunden. Ein großer Lastkraftwagen donnerte vorbei, der mit ratterndem Getöse die Fensterscheiben erklirren ließ.
Sie schloss das Fenster, richtete die Vorhänge zurecht und ging wieder in die Küche zurück. Senta stand noch immer am Herd, formte Semmelknödel zu runden Kugeln und legte sie auf ein großes Brett auf der Anrichte. Ferry war schon seit Stunden mit dem Motorrad unterwegs, Tanno war im Werk zur Arbeit. Die brutale Enge in Franzines Körper wollte nicht weichen. Fast nahm sie ihr die Luft zum Atmen. Der Küchengeruch verstärkte ihr Unbehagen, sie fühlte, dass es in ihrem Inneren rebellierte. Sie riss sich zusammen, auch dann noch, als Senta ein großes Stück Rindfleisch zum sieden in den großen Topf warf. Der Geruch der sich ausbreitete schnürte ihr krampfartig den Magen zusammen. Eine unsichtbare Klaue packte ihren Hals und schien zuzudrücken, Speichel sammelte sich in ihren Mund, sie schaffte es gerade noch in die Toilette zu rennen und den ohnehin wenigen Mageninhalt zu erbrechen. Sie fühlte eine kleine Erleichterung die ihren Körper wieder aufrichten ließ.
„Also doch wieder schwanger“, hörte sie Senta noch nachrufen, doch das Gegenteil war der Fall, die Blutung rann aus ihr heraus, bald würde sie wieder neue Tücher benötigen. Langsam kam sie wieder herein, das Gesicht kalkweiß und schmerzverzerrt. An Essen war gar nicht zu denken, der Gedanke daran bescherte ihr wieder eine Verkrampfung.
„Nein, ich bin nicht schwanger, ich habe meine Tage“, sagte sie leise, betrachtete ihre schlafende Tochter und legte sich, die Hände an ihrem Bauch haltend, ins Bett. Senta kochte das Essen zu Ende, gefühlskalt, nur mit einigen Blicken an ihre Schwiegertochter gerichtet, schien sie völlig unberührt das Leiden Franzines nicht zu interessieren.
„Das geht vorbei“, meinte sie kalt, „wir haben das alle durchmachen müssen, morgen bist du wieder gesund, ich werde dir einen Tee richten, Kamillentee löst die Verkrampfung, vielleicht kannst du dann ein paar Bissen essen, wenn du ganz von Kräften kommst, ist uns allen nicht geholfen.“
„Ich werde es versuchen, nur jetzt geht es nicht, lass mir nur etwas Zeit“, Franzine schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Senta brühte den Tee, schüttelte den Kopf und ließ sie in Ruhe schlafen.
Ferry kam an diesen Tag nicht nach Hause, auch am darauf folgenden Tag ließ er sich nicht blicken. Langsam erholte sich Franzine wieder, aß sogar ein paar Bissen Fleisch und schaffte sogar eine Scheibe Brot in sich hineinzubringen. Sie trank Tee und Wasser, den grünen Salat mit Tomatenstücken schaffte sie sogar ganz aufzuessen. Der saure Geschmack schien ihr gut zu tun. Tanno begutachtete sie besorgt, hilfsbereit fütterte er Bernadette die von all dem nichts ahnte, ging mit ihr in die Speisekammer zu den Vogelkäfigen wo seine gefangenen Lieblinge kräftig zwitschernd ihren Gesang zum Besten gaben. Sie kreischte fröhlich mit, bewegte ihre Ärmchen unaufhaltsam, fast sah es so aus, als ob sie ihre gefiederten Freunde dirigierte. Franzine lächelte, die Vorstellung der beiden gefiel ihr. Der große Kaktus am Fenstersims öffnete seine purpurnen Blüten, es waren genau 32, die Senta stolz zählte und ihr Freude bereitete. Doch die Enge in der Behausung blieb, Franzines Freiraum wurde immer kleiner, nie war sie auch nur einen Moment unbeobachtet.
Nach Tagen kam Ferry endlich nach Hause, schmutzig, aber mit bester Laune. Er bezwang den Großglockner mit dem Motorrad, oben angekommen, schnitten ihm die Besucher, als er hungrig in die Hüttengaststube trat, sofort die Krawatte ab die er sich paradoxerweise umgebunden hatte. Auf einem Berg erscheint man nicht mit Krawatte, ein alter Brauch, der sehr gepflogen wurde. Eine große Holzwand zierte von oben bis unten die abgetrennten Schlips, die die ahnungslosen Männer opfern mussten.
Seine Heimkehr wurde wieder freudig begrüßt, Tanno hatte ein kleines Fass Bier besorgt, das sofort angestochen wurde. Ferry umarmte Franzine heftig, überschüttete sie mit Küssen, Bernadette wurde aus ihrem Bett gehoben und ebenfalls gedrückt und geküsst. Endlich war er wieder da, gesund, munter und gut gelaunt. Glücklich erwiderte Franzine seine Zärtlichkeiten, es ist ja doch alles gut, gute Stimmung verbreitete sich, das Essen schmeckte wieder.
Samstagabend war Badetag für alle, das heiße Wasser dampfte im großen Topf am Herd, die alte Blechbadewanne wurde in der Küche aufgestellt. Eine alte Kernseife sorgte für die Körperreinigung, das schmutzige Wasser wurde in den Ausguss geschüttet, neues heißes Wasser wurde wieder hineingegossen nachdem sich einer gebadet hatte.
Gütigerweise ließen sie Franzine den Vortritt, sie war die erste, die sich ausgiebig baden durfte. Sie hasste die übel riechende Kernseife und ärgerte sich, dass sie von zu Hause keinen Badeschaum mitgenommen hatte. Freya besaß ein paar Flaschen gut riechendes Fichtennadelschaumbad, doch was soll’s, besser als gar nichts. Das warme Wasser ließ sie beleben, die Familie hatte sich diskret wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen. Ein feines Gefühl, Franzine genoss ihr Bad, wusch sich sorgfältig ab, blieb dann noch einige Zeit in der Wanne sitzen. Ferry kam danach, dann Senta und zum Schluss Tanno, der ganze fünf Minuten brauchte um sich sauber zu kriegen. Er mochte es nicht, baden ist etwas für Frauen, sagte er oft, lieber verkroch er sich in seinem Waldstück, wo er sich aus vielen Moospolstern ein bequemes Lager gebaut hatte. Ob glücklich oder traurig, er suchte seinen Lieblingsplatz immer wieder auf um sich fallen zu lassen. Besser und bequemer kann man nicht liegen als auf diesem Moosbett, das weicher ist als jedes Federbett. Dass ihm Ameisen, Käfer oder Spinnen über den Körper krochen, bemerkte er nie. Ein guter Platz zum Ausruhen, Träumen und Denken, zum Weinen und Lachen. Niemand störte ihn dabei, allein mit Natur, Himmel und würzige Waldluft. In den warmen Jahreszeiten der beste Platz der Welt, das Radio waren seine fliegenden Freunde, die ihm ein Lied nach dem anderen vorsangen. Keiner in der Familie kannte den Platz, sie wussten nur, wenn er wieder seinen Weg in Richtung Wald einschlug, dass er seine Ruhe brauchte, seinen Frieden und den Einklang der Natur, den er so unaufhaltsam liebte.
Natürlich ist das Ritual der täglichen Reinigung auch bei den Tennenbachs zu Hause. Kurz vor dem Schlafengehen wurde die alte, aus echtem Porzellan, mit vielen blauen Blümchenmuster verzierte Waschschüssel hervorgeholt, jeder konnte dann seinen Schmutz und Schweiß loswerden der sich im Laufe des Tages angehaftet hatte. Niemand stand im Wege, die Waschung erfolgte in Abgeschiedenheit der jeweils Anderen.
Es war um vieles wärmer im Bett wenn Ferry mit Franzine darin lag, im Winter eine wahre Erholung, im Sommer zu heiß für Beide, die dünne Baumwolldecke, die Franzine bei ihrer Hochzeit als Geschenk bekam, tat hier genau den richtigen Dienst. Und jetzt war Ferry wieder da, er lag wahrhaftig neben ihr, zu ihr gedreht und betrachtete sie sanft.
„Ich glaube, mein Motorrad gibt bald seinen Dienst auf“, meinte er beiläufig, „ das alte Ding ist dann nicht mehr zu reparieren. Weite Strecken sind jetzt nicht mehr drin, ich muss mir etwas Neues einfallen lassen um an die Plätze zu kommen, die ich gerne noch anschauen möchte.“ Franzine gab keine Antwort darauf, sie hörte es nicht gerne, wenn Ferry von seinen Reisen sprach, ihn niemand davon abbringen konnte, und sich auch nichts dreinreden ließ. Lieber wäre es ihr natürlich, er bliebe zu Hause, kümmerte sich zwischendurch auch um Bernadette und fragte sie um ihre Wünsche und Bedürfnisse. Doch er schien weit davon entfernt, es scheint kein Gedanke diesbezüglich bei ihm zu keimen, allein seine Wünsche standen im Vordergrund.
„Könntest du einmal darüber nachdenken hier bei mir und Bernadette zu bleiben, nur für eine Weile, das Motorrad braucht auch mal eine Verschnaufpause“, versuchte Franzine Ferry auf die richtige Fährte zu bringen. Nachdenklich näherte er sich an Franzines Wange, küsste sie sachte und meinte: „Ich glaube, da könntest du Recht haben, ich habe mich wirklich nicht viel um euch gekümmert, ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen, ich liebe euch beide, das weißt du, aber ich liebe auch die weite Welt, das hast du doch schon begriffen, stimmt’s?“ Natürlich hatte sie das, er liebte die Welt wohl mehr als seine Familie.
„Meine Mutter ist ja für euch da, auch mein Vater ist zur Stelle wenn es euch an etwas fehlen sollte, du kannst dich auf beide immer verlassen, ich habe es ihnen aufgetragen, sie dürfen dir nichts abschlagen“, Ferry meinte es bitterernst. Er glaubte felsenfest dass seine Frau in den besten Händen bei Senta wäre und fühlte sich sicher, dass Tanno auf die Familie aufpasste und dafür sorgte, dass sonntags der knusprige Braten auf den Tisch stand. Er ahnte nicht, dass seine Mutter eine Kälte an den Tag legte, die Franzine seelisch zusetzte und sie kein Wort darüber verlieren wagte. Die Konversationen, die Franzine mit Senta führte, berührten nicht einmal die Oberfläche, ihre Schmerzen oder Freuden musste sie mit sich allein ausmachen. Senta hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Franzine so gut es nur möglich war, zu übersehen und ihrer Tochter die Liebe entgegenzubringen, die sie für angemessen hielt. Nicht zu viel, nicht zu wenig, und das auch nur, wenn sie gut gelaunt war. Das Kind ging freudig auf die Nähe ein, Senta versuchte ihre Freude zu verbergen, doch Bernadette wusste gut Bescheid, Kinder konnte man nicht hinters Licht führen. Sie mochte ihre Oma sehr, Bernadette kannte keine Unterschiede zwischen Liebe und Hass, sie war noch klein und liebte alle Menschen.
Franzine empfand es als ein Glücksgefühl, wenn sie neben Ferry ausgeruht aufwachen konnte, seine männliche Nähe spüren und ihn atmen hörte, seinen nicht unangenehmen Geruch aus dem Mund wahrzunehmen und zu wissen, er lebt, er ist trotzdem ein guter Familienvater, ein Mann, ein abenteuerlustiger Vagabund, der immer wieder nach Hause zurückkehrt und weiß, das Frau und Tochter, sehnsüchtigst und liebevoll auf ihn warten und ihn in die Arme schließen würden.
Franzine sog seinen Atem ein…genussvoll und voller Liebe, die sie unendlich für Ferry empfand. Er lag still, atmete geräuschlos und wusste nicht einmal, das Franzine neben ihn lag, ihn liebevoll anstarrte, als sei er gerade frisch aus Lehm, von den lieben Gott selbst geformt worden, die schlanken Beine lagen frei, sein Oberkörper war nur halb bedeckt, sein Brustkorb hob sich langsam, sein Gesicht war friedlich und warm, keine Anzeichen von Ärger oder Aggression. Er roch nach Luft, nach Leben und Abenteuer.
Franzine fühlte sich geborgen, ihre langen Haare lagen frei um den Kopfpolster, Ferry wühlte sich im Schlaf in den weichen, warmen Frauenfell und konnte sich nicht wohler fühlen, neben Franzine, die Bernadette wieder in das eheliche Bett geholt hatte und sie liebkoste und in diesem Moment, nicht glücklicher sein konnte.
Vergessen waren ihre Verkrampfungen und das unwohlige Gefühl, dass sie immer wieder heimgesucht hatte. Was ist schon ein Magen, eine dehnbare Blase, die ja nur Nahrung aufnimmt, und, sowieso wieder abgibt, auf einem Weg, der niemanden gefällt, ja sogar manchmal schreckliche Probleme bereiten würde. Aber es ist notwendig, der Körper braucht nun mal Kraft, und das kann man nur mit Essen herbeiführen. Franzine dachte an ihre damalige schlechte Phase, alles nur Einbildung? Freya war anderer Meinung. Wie kam es, dass sie unentwegt erbrechen musste und ihr Gefühl ihr diese heimtückischen Streiche spielte und ihr die Nahrung verwehrte. Ist der Körper stärker als all die Gefühle, Gedanken und Sehnsüchte, die ohnehin keiner verstehen konnte? Muss man sich mit Allem allein zu Recht kommen? Antworten gaben es nie, also wäre es doch das Beste, Kraft zu tanken und Gutes daraus zu schöpfen.
Sie dachte, sie wäre dünn, nein, nicht schlank, sie ist, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, spindeldürr.
Ferry mochte ihre Gestalt, er war geradezu verrückt nach Franzines schlanken, graziösen Körper. Und sie wusste es, sie spürte es. Sie war sich nicht bewusst, das dieses Frauenideal, sich zu einem Symbol entwickeln sollte, die sie schöner, attraktiver und populärer erscheinen ließe, als all die anderen Frauen, die gerade in ihrem Alter die jahrelange Haushaltungsschule besuchten und nicht wussten, das dies vielleicht vergeblich und keinerlei Bestand in ihrem Leben erhalten würden. Nicht Figur und Mode ihr bevorzugtes Thema war, sondern nur den Drang der Eltern nachgingen, um später eine Hausfrau abgeben sollten, die sie niemals in Erwägung zogen und aus diesen Klischee sie auch kaum ausbrechen konnten. Franzine machte sich darüber niemals Gedanken, sie wusste schon immer, was sie wollte.
Und jetzt war sie geradezu gezwungen Senta zur Hand zu gehen, ihr im Haushalt behilflich zu sein und ihr sämtliche Arbeiten abzunehmen. Kein wirkliches Problem für sie, doch so manch Küchendüfte bescherten ihr das altbekannte Unwohlsein.
Ferry schien guter Dinge, verlor kein Wort über seine nächste Reise und schlug einen Spaziergang mit Bernadette und Franzine vor. Gleich nach dem Frühstück sollte es losgehen. Franzines blühte auf, endlich hatte sie Gelegenheit die Ortschaft genauer anzusehen die ihr bis jetzt verborgen geblieben war.
„Den Kinderwagen lassen wir hier, ich werde Bernadette tragen, das gefällt ihr bestimmt besser“, sagte er frohgelaunt und wartete bis Franzine sie gefüttert hatte. Sie nickte strahlend und holte ihr bestes Kleid hervor. Bernadette schien jedes Wort zu verstehen, sie lachte und ihre Wangen hatten eine gesunde rote Farbe. Die Sonne schien, die Luft war frisch und lau. Tanno schnitzte im alten Schuppen an Spielzeugfiguren die Bernadette bald erhalten sollte und damit spielen konnte. Die kleine Familie warf einen Blick in den dunklen Raum wo Tanno emsig schnitzte, drechselte und schliff. Zwei Figuren, die halb fertig auf dem Regal lagen, warteten nur noch darauf Gesichter gemalt zu bekommen und lackiert zu werden.
„Das sind ja wahre Kunststücke“, rief Franzine freudig aus, „ich wusste nicht, dass du auch ein Meister in Figuren herstellen bist.“
„Geppetto’s Pinocchio war nicht halb so schön“, gab Ferry stolz zu, Tanno sah zu ihnen auf. „Danke meine Lieben, das Kompliment kann nicht größer sein“, er kam kurz auf sie zu und gab Bernadette einen liebevollen Klaps.
„Wo geht ihr hin, du wirst doch nicht deine Familie ausführen“, lachte er, strich sich über seine schütteren Haare und nickte Franzine zustimmend an.
„Es wird Zeit, schließlich muss auch Bernadette die Gegend kennen lernen, man kann nicht früh genug damit anfangen, sie soll wissen, wo sie zu Hause ist, ihre Heimat erkunden, das ist ein wichtiger Aspekt.“ Alle nickten, Ferry hatte damit wohl Recht. Bernadette beherrschte schon ihre ersten Schritte, mit Hilfe von Franzine oder Ferry, geklammert an den schützenden Händen, lief sie schon ein beachtliches Stück des Weges. Bald wird sie freihändig und alleine ihre tapsigen Schritte laufen können. Auf diesen Augenblick waren schon alle gespannt, ein einmaliger, wichtiger Moment, der jede Familie in helle Freude versetzte.
„Viel Spaß euch, ich mache hier mal weiter, hab noch einige Ideen, die ich verwirklichen will“, sagte Tanno und widmete sich wieder seiner Arbeit. Sie grüßten und begaben sich auf den Weg zur Straße hinaus, diese besagte Straße, die Franzine alleine nicht betreten durfte.
Weit tat sich die Straße auf, sie verlief mit einigen Windungen durch die spärlich besiedelte Ortschaft. Nördlich durchzogen dicht bewaldete Hügeln das Tal, auch südlich erhob sich eine Bergkette, die das gesamte Tal fast schützend sich stolz hoch empor präsentierte. Franzine kannte die Wälder, noch vor der Heirat mit Ferry, zeigte er ihr die verborgenen Wege, die wie verlassen, wie von Menschenfuß nie betreten, so sah es jedenfalls aus, mutterseelenallein entlanggingen. Die kleinen Häufchen am weichen Waldboden, die von Herhabgefallenen, wie verrostet aussehenden Tannennadeln in der Dunkelheit manchmal zu finden waren, übersah er so gut wie nie. Kleine Zwergenberge aus braunen Tannennadeln die eine Spezialität darunter verbargen, die sie nie vermutet hätte. Obwohl die Sonne heiß vom Himmel schien, drang sie kaum durch die dichten Bäume, doch diese Delikatesse gedieh besonders gut nach regenreichen warmen Sommertagen. Sieh mal, sagte er dann, ich nehme meine Finger, streiche an der Oberfläche die zusammengeklebten Tannennadeln etwas zurück, und siehe: was kommt hervor? Ein Pilz, eine Kappe von einem Pilz, warte, ich werde ihn vorsichtig herausziehen. Er bohrte mit den Fingern etwas tiefer…ganz sanft, der Pilz soll nicht verletzt werden. Und tatsächlich, es kam ein schöner, fast unschuldiger Pilz zum Vorschein den Ferry mit viel Fingerwertigkeitsgefühl zu Tage brachte. Es war wie ein Wunder, der genussvolle Speisepilz, ein junger Steinpilz, der noch in den Kinderschuhen steckte, zeigte eine vollkommene, ausgewachsene Gestalt. Es war selten, dass unter den Tannennadeln Pilze vermutet wurden, doch Ferry wusste Bescheid. Auch ausgewachsene Pilze, die wie mit Regenschirme im Moos, an einem der verborgenen Plätze heranwuchsen, pflückte er, schmackhaft waren sie immer, und sie kosteten rein gar nichts, Sucherglück, wenn man fleißig genug dafür war. Der Wurm kam trotzdem mal in den einen oder anderen Pilz rein, einfach nur schade, das Nächste Mal, geht es besser. Und wirklich, mit Würmern befallene Pilze, gab’s nur selten.
Und nun war sie auf der Straße, zusammen mit ihrem Mann und Töchterchen, fast hätte sie das nie geglaubt. Der Weg führte in die Ortsmitte, da war Leben, da war etwas los. Sie kamen an die Kneipe vorbei, die einzige im Ort. Tanno war Stammgast dort, das wusste sie. Er wusste es auch, aber nie verlor er auch nur ein Wort davon.
Gegröle, Lachen, von Männern aus den Inneren der Kneipe, die für so manch Arbeitern, die pflichtgemäß ihre Schicht in der Kabelfabrik ihre Arbeit mit Fleiß verrichteten, die selten nach Hause gingen, zu ihren angetrauten Frauen, fanden hier ihre karge Abwechslung. Der einzige Ausgleich, das einzige Vergnügen. Das alltägliche Gasthaus…“Yolandas Bierparadies“, wer konnte von den hart arbeitenden Männern, die ihre Frauen und Kinder durchbringen mussten, schon widerstehen bei Yolanda einzukehren? Und den Nachwuchsvätern, die gerade erfahren hatten, dass sie in nächster Zeit Alimente zahlen mussten, traf man hier genauso an, wie einige Studenten aus der Nachbarschaft die den Mut hatten um hier ihr Bier zu trinekn. Nach der anstrengend Arbeit, das beste Paradies, mit Krone am Bierglas und eine Kellnerin und Wirtin, die alles besser zu verstehen vorgab, als alle Ehefrauen der Welt zusammen.
Yolanda lachte oft und viel. Ihre für eine Frau zu tiefe Stimme war weit zu hören. Sie rügte oft so manchen Gast, der zu wenig Geld eingesteckt hatte und die Zeche nicht bezahlen konnte. Doch sie arbeitete wie ein Tier bis tief in die Nacht. Morgens um 9 Uhr stand sie wieder hinter der Theke, servierte, kassierte und polierte. Sie war eine Exotin die die meisten Männer hierzulande als, ja, sexy bezeichnen würden. Ferry zeigte Franzine das Gasthaus aus dem gerade lautes Männerlachen zu vernehmen war, doch es kam ihm nicht in den Sinn mit seiner Frau und seiner Tochter sich einen Schluck zu genehmigen, sie gingen daran vorbei und Franzine überkam eine wahre Lust nach einem Glas Bier. Sie fragte ihn nicht, sie blieb stumm.
Franzine schritt des Weges mit Ferry, die ihre Tochter Bernadette stolz auf den Armen hielt und immer den Gruß erwiderte den ihnen entgegengebracht wurde von Menschen, die die Familie kannte, die ohnehin jeden Fremden grüßen würden der sich hier verirrte, denn dies war hier Sitte! Freundlichkeit wurde hier groß geschätzt! Kein Fehler, denn die meisten Menschen hatten freundliche Augen in ihren alten und jungen Gesichtern.
Irgendwo da oben, südlich, das wusste Franzine, hatte Tanno sein Mooslager. Niemand kannte den Platz, nicht mal seine langjährige angetraute Ehegemahlin Senta. Nein, er wollte Abstand halten, auch von Senta. Wenn er nach Hause kam, Franzine hantierend mit irgendwelchen Haushaltskram mit trauriger Miene, ja wie eingesperrt, keine Freiheit, kein Lager für sich selbst, doch dies was ihr hier geblieben ist, hatte sie mit viel Gefühl zurechtgerichtet. Schätzte es ihr Ehemann eigentlich? Ihr Gatte, der auch mein Sohn ist? Kann sie sich auch mal in die Stille begeben, sich ein irgendwann ein Lager richten, ein besseres, ein helleres, wo sie niemand stören kann? Tanno machte sich Gedanken, aber sie halfen ihm nicht einen Ausweg zu finden der für seine Schwiegertochter vielleicht am Besten wäre.
Der Spaziergang war für alle eine angenehme Überraschung. Mitten im Ort zu stehen und zu schauen, die Straßen bogen ab, kleine Wege, die bergauf führten, bergab, irgendwohin.
Aus einem inneren Impuls heraus, besah sich Franzine die langen Wege, die weitab in sämtliche Richtungen führten, die land abseits abzweigten, die friedlich, ohne einen Menschen darauf, den wie fast ausgestorbenen den Asphaltweg freigaben. Sie hatte doch keinen Grund dazu? Warum nur tat sie das? Sie hörten Musik, aus der Musikbox von Yolandas Gasthaus, es war laut, die Klänge erfüllten den halben Ort.
Bernadette auf Ferrys Arm quietschte, sie war guter Dinge und hatte keine Ahnung von den Gedanken ihrer Mutter. Noch lange hörten sie die Klänge, ganz dumpf, Fröhlichkeit, Ausgelassenheit….nach getaner Arbeit das wohlverdiente Vergnügen.
Ihr Mann war da, ihr angetrauter Mann, den sie liebte, den sie niemals verlassen würde, ihre Tochter, die Frucht ihrer Liebe, alles würde sie tun, ja alles. Doch die Straßennummern und die Seitengassen dieser Ortschaft; die würde sie sich merken. Natürlich kannte sie die Gegend, sie war mal ausgerissen, damals als sie die Schule schwänzte, und als Mutprobe mit ihrer Schulfreundin Sabrina ausgerissen ist. Da sind sie auch hier durchgeschlendert, aber aufregend war es nicht, keine aufregenden Kerle ließen sich hier blicken. Trotzdem war es schön, das Tal verlief lang, dies genauer zu erforschen, konnte nicht jeder. Nur Ausreißer, die per Anhalter den Mut hatten mitgenommen zu werden, wer konnte sich schon eine Bahnfahrkarte oder einen Omnibus leisten der noch in die Schule ging? Eigentlich gar keiner hier.
„Schöner, sehr friedlicher Ort“, bemerkte Franzine lächelnd und strich ihrer Tochter sanft über den Babykopf.
„Bis die Proleten aus dem Werk kommen, dann ist es hier nicht mehr so friedlich“, sagte Ferry mit unverkennbarer Abscheu in seiner Stimme.
„Ich kenne das Wort nicht, was bedeutet es?“ wollte Franzine wissen, grüßte eine alte Frau, die gerade des Weges kam und Bernadette mit neugierigen Blicken bedachte.
„Das sind ungebildete Arbeiter, die alles tun, ja alles was sie für richtig halten, die denken nie darüber nach, sie saufen, sie haben nichts anderes als die Kneipe hier vor sich, wo Yolanda ihnen das Geld aus der Tasche fischt, die nur betrunken sind und spätabends zu ihren Weibern Heimtorkeln.“ Ferry war noch nie betrunken, er hasste jede Art von Alkohol, er verabscheute ihn. Ein Schluck aus dem Bierglas von Tanno, ließ ihn fast erbrechen.
Yolanda war also eine Ausbeuterin, wie macht sie das bloß? Und warum sind alle Schichtarbeiter, die im Werk ihren Lebensunterhalt für sich und ihre Frauen und ihre Kinder verdienen, gleich Proleten? Können sie nicht lesen? Haben sie niemals das Einmaleins gelernt? Was ist das denn für eine Arbeit, wo man dies nicht brauchen kann? Ihr Vater Eduard hatte das Maurerhandwerk erlernt, gleich nach der Grundschule. Er war weder unzivilisiert noch schien es ihr, als sei er ein ungebildeter Mensch, im Gegenteil, sie hatte viel von ihm gelernt, er las genauso viel, oder mindestens so viel wie ein Grundschullehrer. Er brachte ihr einiges bei, ihrem Alter angemessen, sie begriff vieles ohne Mühe in nur wenigen Augenblicken. Was meinte Ferry nur mit seinen Aussagen? Eduard bewies Geduld, er wusste ohnehin, dass seine Tochter nicht viel Zeit dazu brauchte, wenn er ihr erklärte, wie ein kleiner Mensch im Körper einer Frau heranreifte, eine kleine Zelle, die, wenn sie befruchtet wurde, eine fertiges kleines Wesen hervorbrachte, genauso wie sie es wäre. Damals war sie fünf, und die Ehrlichkeit ihres Vaters beeindruckte sie, kein Blümlein und Bienchengerede, sie wusste von Anfang an Bescheid. Freya war da schon zurückhaltender, doch sie war froh, dass dies nun ausgesprochen war. Auch Dorothea lauschte gespannt, es kamen dann keine peinlichen Fragen mehr, beide Töchter schienen mit den Antworten zufrieden zu sein. Doch, so merkte sie genau, haben auch wohl die Unaufgeklärten ihren frühen Platz der Elternschaft herausgefunden, nicht viele wussten über Befruchtung und Fortpflanzung Bescheid, der natürliche Trieb, die Verliebtheit ließ sie erkennen, dass es auch andere Gefühle gab, die meistens mitten im Schritt, zueinander kommen, sich vereinten und danach bald der Zweisamkeit mit einem kleinen dritten Menschen auskommen mussten. Die Besiegelung stand dann fest, Hochzeiten gab es viele, auch wenn sie oft nie die glücklichste Ehe führten. Franzine stampfte es in ihrem Herzen fest, sie wusste, worauf sie sich einließ, sie wollte es nicht anders haben. Ferry war der Richtige, es gab keinen anderen. Was hat das mit Bildung zu tun? Können Gefühle mit ausreichendem Wissen etwas zu tun haben? Nein…das Herz bricht viele Wellen die über einen zusammenschlagen und das Gefühl der Frische und Jugend hat so manche Ketten gesprengt, sie sind schwächer als das laut pochende Herz, das für einen geliebten Menschen schlägt. Und das war Ferry, nur Ferdinand, der zurückkehrte, der ihre Tochter gezeugt und sie liebte, der sie nie im Stich lassen könnte und immer dafür sorgte, das sie ausreichend zu essen, gut leben und sich glücklich fühlen sollten.
Ferry arbeitet nicht, ist er deshalb besser und gebildeter? Franzine durchschoss ein Gedanke, der ihr gar nicht behagte. Er wollte besser als alle anderen sein, doch der Beweiß stand noch aus, sie fragte auch nicht danach, es war ihr genehm, so wie es gerade war. Sie wusste, er hatte das Tischlerhandwerk gelernt, sogar mit Auszeichnung abgeschnitten, ist er dadurch ein besonderer Mensch? Vielleicht…
Ferry konnte alles, rechnen wie ein Computer und er sprach ein gutes Deutsch. Er kümmerte sich nicht um Arbeit, er hasste dieses Wort. Arbeit bedeutete für ihn, abhängig zu sein, jemanden zu dienen, wo er nur Lohnempfänger wäre. Geld macht zum Sklaven seiner Natur, keine freien Gedanken mehr. Nur noch regelmäßig den Dienst verrichten, wen diente es wirklich?
Sie traten den Heimweg an, es wurde heißer und Bernadette zeigte keine Anzeichen von Müdigkeit. Ihr Mund war immer zu einem Kleinkindlächeln bereit, ihre Wangen waren rosa und ihr Temperament spürte Ferry an seinen Armen, immer war sie in Bewegung.
Sie kamen wieder zu Hause an, Tanno war nicht mehr in seiner Werkstatt, der Hof war leer und verlassen. Die Mittagssonne schien heiß und erbarmungslos vom Himmel und die Düfte der Haushaltsküchen im Haus drangen ins Freie. Fisch, Gebratenes, nach Süßspeisen mit Zimtduft getränkte Luft, erfüllte das Stiegenhaus, indem Ferry, Franzine und Bernadette in diesem Augenblick hinaufstiegen.
Zwei kleine, mit viel Einfühlungsvermögen zurecht geschnitzte Puppen lagen nebeneinander friedlich in Bernadettes Gitterbettchen. Eine weibliche und eine männliche Figur lagen nebeneinander auf dem kleinen Kissen. Aus dünner Schafschurwolle hatte Opa Tanno der weiblichen Gestalt Zöpfchen auf den runden Kopf geklebt. Bei der männlichen Holzpuppe hatte er aus schwarzer Farbe einen Bart auf der Oberlippe und einen dünnen Streifen am Kinn gemalt. Die Puppe wies eine typisch männlichen Haarschnitt auf, mit Seitenscheitel bis fast zum linken Auge und ausgeprägt dicht bis zum Hinterkopf. Franzine sah als Erste die gut geformten Holzfiguren im Bett liegen und stieß einen bewundernden Schrei aus. Tanno bezeichnete sie als Künstler, in keinem Spielwarengeschäft könne man so etwas sehen, geschweige denn, kaufen.
„Sogar die Ellbogen und die Knie kann man bewegen“, stieß sie freudig aus und hielt ihrer kleinen Tochter das Holzpüppchen hin. Tanno lachte, er freute sich ebenso wie alle anderen über sein gelungenes Werk.
„Mein Vater, der Künstler“, sagte auch Ferry, der überrascht in die Runde lachte, denn niemals zuvor hatte er solch Kunstwerk bei ihm gesehen.
„Mit viel Liebe erzeugt“, rief Tanno, „ für Enkelin und Sohn, der es sicher besser gemacht hätte“, er nahm Ferry bei den Schultern und nickte ihm zu.
„Es ist einfach wunderbar“, sagte Franzine und Bernadette nagte auch schon an der weiblichen Puppe herum. Auf die Lackierung verzichtete Tanno dann doch, ihm fiel ein, dass kleine Kinder immerzu an Spielzeugen zu nagen pflegten.
„Scheint ihr zu schmecken“, sagte auch Senta, die gerade mit ihrem Mittagessen fertig geworden war. Es gab heute Wiener Schnitzel, Kartoffelsalat und als Nachtisch einen köstlichen Vanillepudding. Ein Glückstag für alle. Franzine verspürte richtigen Appetit, sie deckte sogleich den Küchentisch und alle nahmen daran Platz. Bernadette saß im Gitterbettchen und begutachtete ihr neues Spielzeug. Ein kleines Tellerchen wurde ihr gereicht, klein geschnittene Schnitzelstücke und etwas Kartoffelsalat aß sie mit ihren Fingerchen genüsslich auf. Der Pudding mundete ihnen fantastisch, auch Bernadette wurde mit der süßen Speise liebevoll von Franzine gefüttert. Das Familienbild konnte in diesen Minuten nicht schöner sein, alle zufrieden, glücklich und vereint am großen Tisch in der Mitte, ein lachender Ferry, der immer wieder seine Frau in den Arm nahm und sie küsste, wie frisch Verliebte die erkannt haben, dass sie für immer zueinander gehören sollten.
Franzine genoss die Zuneigungen Ferrys in diesen Momenten wie eine frisch erwachte Dornröschenbraut. Ihre Gefühle waren unbestritten, die stärksten, die sie jemals für einen Mann je empfunden hatte. Kein Vergleich zu Manuel, in dem sie vor Jahren ihr Herz verloren hatte, sich opfern wollte, er war fast vergessen. Niemand konnte sich mit Ferry vergleichen, er war und ist das Beste, das ihr je untergekommen war.
Auch Thorsten wurde von Tanno mit selbstgemachten Spielzeug beschenkt. Dieses fiel zwar nicht so präzise aus, aber um Ideen nicht verlegen, bekam er einige Mini-Eisstöcke, die Tanno aus leeren hölzernen Zwirnspulen anfertigte. Er sägte sie in der Mitte durch, dies ergaben dann zwei Ministöcke, den kleinen Griff aus einem Holzstück schnitzte er so zurecht, dass er in die kleine Öffnung hineinpasste und sie mit Daumen und Zeigefinger anfassen und sie wie einen echten Eisstock werfen konnte. Er malte sie dann verschieden mit bunten Farben an und schon konnte es auf den Blankpolierten Bodenbelag losgehen. Als Taube fungierte ein Spielwürfel und Thorsten beschäftigte sich ausschließlich mit seinem Neugewonnenen Lieblingsspielzeug. Auch die Erwachsenen bedienten sich des lustigen Eisstockschießens in der warmen Wohnung und konnten sich stundenlang damit beschäftigen. Annelie kam oft zu Besuch und nahm Thorsten jedes Mal mit. Pepp blieb lieber zu Hause und arbeitete an seinen Bildern und war nicht unglücklich über das vorübergehende Alleinsein. Manchmal begleitete er sie, doch Franzine bemerkte seine stille Zurückhaltung die er gequält zu vertuschen versuchte.
Bernadette beherrschte schon seit geraumer Zeit ihre ersten Schritte, fiel manchmal beim Laufen hin und weinte nie. Die Freude kannte keine Grenzen als sie sich knapp vor einem Monat von Ferry losriss und mit erhobenen Händchen auf ihre Mutter zugelaufen kam. Alle herzten sie, alle drückten sie an sich, Annelie vergoss wieder Tränen, Pepp verlautete, dass er an das Portrait in Öl von ihr bereits arbeitete. Nur Thorsten blickte starr vor sich hin. Er nahm Bernadette kurz in den Arm, fast schien es, als lächle er, doch dann widmete er sich wieder seinen Eisstöcken die bei den Tennenbachs stets griffbereit in der Küchenlade lagen.
Pepp wurde aus dem Ehelichen Schlafzimmer ausquartiert. Nach dem Rauswurf Thorstens aus der Schule, erklärte Annelie, dass es das Beste wäre, ihren Sohn bei sich im Zimmer schlafen zu lassen. Nicht sonderlich begeistert von dieser Idee, gab Pepp schließlich nach und stelle sich ein Feldbett in seinem Atelier auf. Thorsten schlief nun neben seiner Mutter, die ihn umhegte und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas. Doch der stille Junge sprach noch immer nicht, kaum ein klares Wort kam über seine Lippen. Laute, die Annelie zu deuten wusste, kamen oft unkontrolliert aus seinem Mund und Annelie wusste sofort, ob er etwas haben wollte oder ob er an Schmerzen litt. Pepp’s Besorgnisse blieben ungehört. Thorsten Geburtstag näherte sich, im nächsten Monat wurde er sieben, im September begann wieder die Schule und Thorsten sollte wieder eintreten. Er würde wieder eine riesige Schultüte bekommen und dieses Mal, so war Annelie überzeugt, würde alles glatt gehen, seine Talente nicht unentdeckt und die kommenden Schuljahre ohne Probleme meistern.
Am Nachmittag war die Familie wieder vollzählig bei den Tennenbachs versammelt, duftender Kaffee wurde aufgetragen, Sentas Gugelhupf wurde angeschnitten und die Stimmung konnte nicht besser sein. Bernadette saß am Fußboden und versuchte ihren ersten Wurf mit dem kleinen Eisstock den ihr Thorsten aus der Hand riss und ihn auf die Spielwürfeltaube losschoss, die er auch prompt traf. Er schrie vor Freude und Annelie klatschte in die Hände. Bernadette krabbelte hinterher und versuchte wieder einen Eisstock zu erhaschen.
„Du schickst ihn wieder in die Schule?“ wollte Ferry wissen und versuchte seinen Groll zu verbergen, biss in ein Stück Kuchen und kaute seinen Ärger weg.
„Aber natürlich“, meinte Annelie stolz, „du wirst sehen, wie er die anderen Schüler ausstechen wird, die gesamte Lehrkörperschaft hat es letztes Jahr nicht geschafft, die Intelligenz und sämtliche Talente meines Sohne zu bemerken, sie waren alle auf der falschen Fährte, aber so etwas kann natürlich vorkommen, ich habe ihnen verziehen.“ Sie rührte in ihrem Kaffee und lächelte. Franzine verhielt sich still, sie war vollkommen ratlos. Senta nickte ihrer Schwiegertochter zu, auch sie hielt es in diesem Augenblick für unangebracht, ein Wort dagegen zu sagen, dies hätte ihre Euphorie zerstört und ihre Welt, die sie sich für ihren Sohn zurechtgeschneidert hatte, vollends in Stücke fallen. Pepp schlürfte den Kaffee, ihm war es peinlich dass Annelie Thorsten zu sehr verwöhnte und ihn als vollkommenen, untastbaren Menschen sah. Niemand in der Runde wagte den wirklichen Zustand von Thorsten anzusprechen, ihre Vermutungen auszusprechen. Sie spielten alle mit, gaben Annelie in Allem Recht und spielten die Farce um Thorsten so gut sie konnten, mit. Auch Franzine, die sich in diesem Moment als feige abstempelte, überlegte, wie sie es wohl am besten anstellen könnte, Annelie zu helfen. Sie hielt den Mund und wollte einen günstigeren Augenblick abwarten.
Die beiden Kinder spielten, laut lachte Bernadette auf, während Thorsten stumm, in seinem Spiel vertieft, die Mini-Eisstöcke schoss. Annelie reichte ihm Kuchen, er aß schnell und kaute kaum, schluckte die Brocken halb gekaut hinunter. Annelie reichte ihm noch 3 Stück die er schnellstens vertilgte, während Annelie voll des Lobes und Freude den gesunden Appetit des Jungen hoch pries. Als sie gegangen waren, wuchtete Ferry seine Faust mit voller Kraft an die Tischplatte. „So kann es nicht weitergehen, sie züchtet einen geistig-abnormen Menschen heran, verdammt noch mal, etwas muss geschehen, wie lange werden wir noch zusehen können. Sagt was, Menschenskind!“ Er raufte sich die Haare und rannte in der Küche hin und her. Böse blickte er zu Franzine, die sich geduckt am Tisch anlehnte.
„Ich weiß nicht, was ich tun kann, lass mir noch Zeit um die richtigen Worte zu finden, du weißt, das es nicht einfach sein wird. Ich dachte, bei Bernadette würde sie den Unterschied merken, aber noch ist es nicht soweit.“ Franzine versuchte ruhig zu bleiben. Nervosität bei allen, auch bei Tanno und Senta, nur Tanno sagte kein Wort, er sprach nie über diese Sache und bei Tisch dachte er nur an seine Vögel und an seinem Platz im Wald, den er bald wieder aufsuchen würde. Er hasste diese Familienzusammenkünfte, die nur dafür gedacht sind sämtliche Probleme sichtbar zu machen und niemand konnte auch nur annähernd etwas tun, gute Miene zum bösen Spiel waren nicht seine Sache. Ohne ein Wort ging er durch die Tür und schlug den Weg zu seinem Waldlager ein. Das Wetter stimmte, die Sonne hatte den Bogen über den Himmel schon mehr als die Hälfte nach Westen überquert, doch erst in ein paar Stunden würde es vollständig dunkel werden und die Finsternis, wie in so vielen Menschenseelen, bereitete sich ohne Gnade aus.
Ratlosigkeit beherrschte nun die Stimmung. Einzig Bernadette, die nun wieder in ihrem Bettchen saß, ließ die Gemüter etwas aufhellen. Die Vögel taten das ihre dazu, das Radio blieb nun stumm und die jungen Eheleute machten es sich wieder in ihrem Bett bequem. Tanno blieb die ganze Nacht aus, Senta röchelte etwas, doch sie machte sich keine Sorgen um ihren Mann, der immer wieder den Weg zu ihr nach Hause gefunden hatte.
Nach zwei Tagen hatte Ferry wieder das Nötigste zusammengepackt, belud sein altes Motorrad und wartete noch auf das Mittagessen, dass Senta mit viel Wehmut zubereitet hatte.
„Das Wasser wird euch alle gesund machen, ich nehme ein paar Flaschen mit, ich kann es nicht länger mit ansehen wie ihr alle leidet, und Thorsten soll auch davon trinken.“ Bitterernst war es ihm wieder, wild entschlossen und voller Enthusiasmus. Seine Reise sollte nach Lourdes führen, diese berühmte Grotte in Frankreich die unzählige Touristen anlockte und das heilende Wasser als letzten Ausweg sahen. Er glaubte fest daran, war überzeugt von den heilenden Wirkungen des Wasser, das schon Gelähmte zum gehen brachten und die sich innerhalb einer Minute aus ihrem Rollstuhl erhoben und langsam einen Schritt nach den anderen vorwärts setzten. Blitzheilungen soll es tatsächlich schon gegeben haben, Zeitungen berichteten davon und die lange Liste der Glaubenden die darauf hofften und beteten ihr Gebrechen zu heilen, pilgerten genauso zahlreich an den heiligen Ort, wie es gesunde junge und alte Menschen jedes Jahr zu ihrem Reiseziel magisch hinzog.
Franzine konnte ihren Ärger kaum unterdrücken, tatsächlich erwies sich Ferry als fanatischer Glaubensanhänger, der diesen Humbug wie nichts auf der Welt in sich aufsog.
„Warum hast du mir wieder nichts gesagt“, fragte sie bei Tisch während sie Bernadette zu sich auf den Schoß nahm, ihr ein paar Bissen Gemüsereis fütterte und sie wieder auf den Boden abstellte wo sie lebhaft um den Tisch herumrannte.
„Ich brauche dir keine Rechenschaft ablegen, merk dir das, das Wasser wird geholt, ich pfeife auf deine Meinungen“, böse herrschte er sie an, sein Egoismus verbot ihm auch nur das kleinste bisschen Verständnis aufzubringen, seine Frau hatte in diesen Dingen kein Recht, sich einzumischen, wenn es um diese speziellen Angelegenheiten handelte, kannte er kein Erbarmen.
„Siehst du nicht ein, dass dies alles nur ein Trick ist, Zauberei wobei Menschen in die Irre geführt und sehr oft enttäuscht wieder nach Hause fahren müssen? Vielleicht konnte sich so manch Gelähmter schon viel früher auf den Beinen halten….“, weiter kam Franzine nicht, sie bemerkte zu spät, dass Ferry eine weite ausladende Bewegung machte und das laute Klatschen dass sie fast wie in Trance vernahm, die Ohrfeige gewesen war, die sie mit brutaler Härte an der Wange traf.
„Sag das nie wieder, verstanden? Du willst die Heilung meiner Mutter verhindern, du hast nichts unternommen um meine Schwägerin aufmerksam zu machen wie es um ihren Sohn steht, du willst die gesamte Familie ins Lächerliche ziehen, du willst nicht einsehen wie ernst die Dinge um uns stehen. Was willst du tun wenn ich eines Tages krank hier läge und der Tod mir ins Gesicht grinst, unternimmst du dann auch nichts und lässt mich einfach krepieren?“ Ferry war außer sich, mit erhobenem Zeigefinger fuchtelte er vor Franzines Gesicht herum, wütend stapfte er dann durch die Küche, sein Atem war schnell, kaum konnte er sich wieder beruhigen. Franzine rieb sich ihre schmerzende Wange und konnte nicht begreifen, was in ihrem Mann gefahren war. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein, schob er nun die alleinige Schuld auf sie? Sie selbst soll die Verantwortung für Thorstens Verhalten und Sentas Asthma tragen? Langsam ließ sie sich auf den Stuhl nieder, Tränen traten ihr in die Augen. Nicht der Schmerz war die Ursache, Ferrys Verhalten bereitete ihr Angst die sich unaufhaltsam in ihre Knochen schlich und ein panikartiges Gefühl in ihr auslöste. In sich zusammengekauert hielt sie es für das Beste, in diesem Spannungsdurchtränken Moment weiterhin kein Wort mehr zu sagen bis sich Ferry wieder beruhigte und wieder einen normalen Tonschlag hervorbrachte. Rot vor Zorn lief er zu seiner Tochter, hob sie hoch und drückte sie an sich. Bernadettes Kinderseele hatte die Situation schon längst erfasst, sie weinte und brüllte aus Leibeskräften und ließ sich auch von ihrem Vater nicht beruhigen. Mutig stand Franzine auf und riss sie aus Ferrys Armen, „Lass sie in Ruhe“, rief sie tapfer, strich ihr übers Haar und Bernadette wurde wieder still, ihr Weinen verebbte und lehnte ihr Köpfchen an Franzines Schulter.
Senta war inzwischen in das Schlafzimmer gegangen. Dieser Streit zerrte an ihren ohnehin schon schwachen Nerven, die Eheleute sollten ihre Probleme alleine ausmachen, es war das Beste, sich zurückzuziehen, sich auf keinen Fall einzumischen. Ferrys laute Stimme regte sie zu sehr auf, die Folgen wären dann nicht mehr aufzuhalten. Bald würde es vorüber sein, ja, schließlich kannte sie ihren Sohn wie kein Zweiter und wenn er sich etwas vorgenommen hat, duldete er keine Widerrede oder Gegenstimme, nicht von Menschen, die darüber kein Verständnis aufbrachten oder ohnehin keine Ahnung von den Dingen hatten, die, so wie er meinte, als Wunder bezeichnete, und Wunder, überdimensionale Phänomene, daran glaubte er mit felsenfester Überzeugung, übertrumpfen die Schulmedizin und so manch Vorhersagungen, die verständlicherweise fast nie zutrafen. Doch diese besagten Wunder treffen immer ein, es gab genug Beweise die dies bestätigten, auch wenn seine eigene Familie nicht daran glaubte, oder nur so taten als ob dies alles stimmen würde. Tanno war zur Arbeit, niemand stand Franzine zur Seite, sie musste alleine mit ihrem Ehemann fertig werden, schließlich ginge das niemanden auch nur das Geringste an. Senta legte ihre beiden Handflächen an die Ohren, nur dumpf konnte sie Ferrys Gebrüll hören. Sie röchelte und aus ihrem Atem kamen wieder leise Pfeiftöne. Mit den Händen an den Ohren saß sie auf dem Bett und wippte nach vorne und zurück. Wie lange würde es diesmal wieder dauern? Warum konnte ihre Schwiegertochter nicht das geringste Verständnis für sein Vorhaben aufbringen? Warum bringt sie ihn immer so in Rage? Hatte es Zeiten gegeben, wo es schon in früheren Zeiten Zornesausbrüche dieser Art gegeben hatte? Was war damals mit dem Nachbarsjungen, als er gerade erst 15 Jahre alt war. Als er die Gartenschippe auf seinen Kopf sausen ließ, nur weil dieser meinte, seine Mutter hätte dieselben Haare wie die Hexe Isegrim aus seinem Märchenbuch aus vergangenen Tagen? Nicht einmal einen Atemzug konnte der Junge machen, die Schippe schlug ihm eine tiefe Delle in den Kopf oberhalb der Schläfe, was noch großes Glück bedeutete. Das Blut rann ihm über das Gesicht, er schrie und fluchte, doch Ferry stand lächelnd zwei Schritte vor ihm und schrie, dass er dies verdient hätte, kein Mensch auf dieser Erde, dürfte seine Mutter beleidigen, egal ob er aufrecht stünde oder auf den Boden krieche, niemand dürfe es wagen Aussagen dieser Art über seine Mutter zu tätigen. Schreiend lief der Junge nach Hause, bald darauf wurde die stille, ländliche Idylle von Rettungssirenen zerrissen, mit Blaulicht wurde der Junge abtransportiert und mit über 20 Stichen am Kopf genäht. Bleibende geistige Schäden waren nicht zu befürchten, doch die breite Narbe, die ihm ein Stück über die Stirn lief, sollte er ein Leben lang behalten. Tanno bezahlte damals 3000 Schillings Schmerzensgeld, somit war die Sache wieder erledigt. Die Verhandlung dauerte keine 30 Minuten, Ferrys Unmündigkeit rette ihn vor dem Gefängnis. Fast zwei Jahre zahlte Tanno die Schulden zurück, die er, dank seiner festen Anstellung im Werk, als Kredit aufgenommen hatte. Kein Wort wurde darüber je wieder gesprochen, die ganze Sache geriet in Vergessenheit. Doch jetzt kamen diese Gedanken auf einmal wieder in Senta hoch, fest presste sie nun eine Hand an ihr Herz und ihr Röcheln wurde intensiver. Langsam ging sie ans Fenster und öffnete es, frische Luft füllte das stickige Schlafzimmer, die Sonne schien warm auf die Landschaft, die Straße unter ihrem Fenster flimmerte, einige Menschen schlenderten vorbei und manchmal fuhren auch einige Autos in die Ortsmitte oder wieder heraus.
Aus der Küche drang kein Laut mehr, auch von Bernadette war nichts zu vernehmen, kein Schluchzen, kein Wimmern, auch das Radio war ausgeschaltet. Dumpfes Gepolter, das Zuschlagen von Küchenschränken, doch kein Wort war zu vernehmen. Sollte sie es wagen wieder in die Küche zurück zu gehen? Noch immer kein Laut…Ferry hat doch nicht….nein, zu so Etwas würde er niemals fähig sein, trotz Jähzorn und unkontrollierten Ausbrüchen, nie im Leben würde er dies zuwegebringen….
„Komm nur rein Mutter“, sagte Ferry, er schien sich wieder beruhigt zu haben, saß am Tisch und löffelte seine geliebte Hühnersuppe mit Gemüse und Nudeln. Daneben saß Franzine mit Bernadette auf dem Schoß, die ebenfalls Suppe löffelte und ihr auch immer davon abgab.
„Hier ist dein Teller“, sagte sie ruhig, „komm setz dich, ich bringe dir die Suppe, die dir übrigens ausgezeichnet gelungen ist.“ Franzine schöpfte eine Kelle voll Suppe aus dem Topf und stellte sie vor Senta auf den Tisch, die inzwischen Platz genommen hatte. Sie betrachtete die Gesichter der beiden und dann fing sie an, die Suppe zu löffeln. Alles ist wieder gut geworden, stellte sie zufrieden fest, alles hat ein gutes Ende genommen, Ferry kann wieder wegfahren ohne ein schlechtes Gewissen herumzutragen und ihre Schwiegertochter würde auf ihn warten, wie sie es immer getan hatte. Doch Ferrys Blicke verrieten, dass sein Zorn noch in ihm arbeitete, seine Augen waren noch etwas geweitet, die Bewegungen beim essen zu hastig, fast unkontrolliert. Franzine hatte versucht, die Wogen zu glätten, doch noch immer hing eine Spannung in der Luft die zum bersten scharf war. Als ob unsichtbare Fäuste bald auf die herabsausen und auf sie einschlagen würden, von der Decke herab, wenn nur einer es wagte, ein falsches Wort zu sagen, oder auch nur ein schiefer Blick in Ferrys Nähe fallen sollte. Senta beobachtete die kleine Familie, die gerade eben zu Mittag aß, schweigend das Essen genoss und kaum von ihren Tellern aufsahen. Franzine legte dann Bernadette wieder in ihr Bett, die nun satt und schläfrig nach ein paar Minuten eingeschlafen war. Senta löffelte ihre Suppe zu Ende und sprach kein Wort. Fast schüchtern blickte sie mehrmals auf, wartete ab was in den nächsten Minuten geschehen sollte. Ferry wischte sich den Mund mit einem Geschirrtuch ab und schubste den Teller in die Tischmitte. Noch immer schien er sich nicht beruhigt zu haben. Dann setzte er sich wieder zu Tisch und verbarg sein Gesicht in beide Hände, er seufzte und stöhnte auf. Franzine stellte sich hinter ihm und massierte ihm die Schultern. Er war schließlich ihr Ehemann, sie hatte die Pflicht ihm zur Seite zu stehen und ihn zu unterstützen, egal welch Vorhaben er auch immer in Erwägung ziehen mochte. Der Schmerz an ihrer Wange verflüchtigte sich, bald war der Vorfall wieder vergessen.
„Es tut mir…Leid, ich habe die… Beherrschung verloren“, stammelte er in die Handflächen, rieb über das gerötete Gesicht und stützte sich mit beiden Ellbogen fest auf den Tisch. Franzine nickte, knetete sanft seine Schultern und beugte sich zu ihm und umarmte ihn innig. Sie fühlte Mitleid, sie konnte gut nachvollziehen was er in diesem Moment empfand, die Reue nach der Tat, einer Tat, die hätte vermieden werden können. Senta schüttelte den Kopf und machte sich an das Geschirr, dass sie nun einsammelte und abgewaschen werden musste.
„Bitte komm wieder gesund nach Hause, pass auf dich auf, hole das Wasser, wenn du dabei glücklich bist, dann bin ich es auch.“ Und Franzine meinte es ernst, vielleicht hatte Ferry Recht, vielleicht würde das heilende Wasser helfen, die Leiden seiner Mutter verschwinden lassen und Ferry wieder glücklich lachen.
„Gut, das verspreche ich dir“, sagte Ferry nun ruhig, stand auf und nahm auch Franzine in seine festen Arme. All das Verständnis, das sie jetzt aufbrachte, investierte sie in Ferrys Umarmung. Ihr ist klar geworden, dass er schon seit Jahren litt, wenn seine Mutter wieder um Luft kämpfen musste, so schien es auch auf ihn überzugreifen und konnte seine Angst nur in der Aggression besiegen. Sie durfte dies nicht mehr herausfordern, nahm sich vor, ihre wahre Meinung in den Hintergrund zu stellen und auf all sein Hoffen so gut es möglich war, einzugehen. Vielleicht geschieht ein Wunder, ihr inneres Ersehnen wuchs, denn dann würde die Furcht um seine Mutter weichen, er würde wieder Freude empfinden, vielleicht auch ruhiger und gelassener werden. Hat nun eine gewisse Beeinflussung in ihr gegriffen, oder war es doch nur das Verständnis, die sie für ihren Mann nun aufgebracht hatte? Sie entschied sich für das Einfühlungsvermögen, die ihrer Meinung nach, die realistischere Variante war und sie selbst nicht in die Vorstellungen des nahen Wahnsinns abgleiten ließ. Die Einsicht bestärkte sie. Ferry schien erleichtert, sein Gesicht hatte wieder weichere Züge angenommen und seine Mundwinkel zogen sich wieder ein wenig nach oben. Senta hantierte mit dem Mittagsgeschirr herum und Franzine bemerkte, dass sie öfters zu ihrem Sohn hinüber zwinkerte. Bernadette schlief friedlich, sie hatte am wenigsten mit dieser Sache zu tun, alle liebten sie. Tanno verspätete sich wieder und alle wussten, dass er wahrscheinlich bei Yolanda eingekehrt war. Auch er war nicht angetan von Ferrys Wünschen und Vorhaben, doch nie verlor er auch nur ein Wort darüber. Aus gutem Grund, wie Franzine nun begriffen hatte. Damit zu leben war nicht die einfachste Methode, doch sie versuchte einen Weg zu finden, wie sie damit am Besten fertig werden würde und seinen unumstößlichen Glauben zu verstehen. Doch ihr Herz blieb verschlossen, der Glaube an diese Wunder stellte sich nicht ein. Das natürlich sollte sich nur im Stillen abspielen, wie sie in Wirklichkeit darüber dachte, sollte die Familie nicht erfahren. Dieser Weg musste der Richtige sein, bei all dem Verständnis die sie aufbringen konnte, ihrem Mann zuliebe, wäre dies nun die beste Lösung. Unwillkürlich nickte sie andeutungsweise, sah nach Bernadette und lächelte zufrieden als die ihre Tochter friedlich schlummernd atmen sah.
Langsam erhob sich Ferry, nahm seine Lederjacke vom Haken an der Tür und machte sich daran, sich zu verabschieden. Er vergewisserte sich, ob sein Reisepass in der Innentasche steckte. Senta hatte den Vorzug und seine Umarmung, die lang und innig ausfiel, brachten nicht nur Senta, sondern auch Franzine zum Weinen. Ungewiss war wieder seine Reisedauer, Geld konnte Senta ihm diesmal nicht auf den Weg geben, sie besaß für den Rest des Monats magere 50 Schilling, kaum genug, um die Familie und das Kind nicht hungern zu lassen. Tanno wird wieder für das reichliche Mahl sorgen, da war sie sich gewiss. Sorge machte sich wieder in ihr breit, wie soll Ferry die lange Reise überstehen ohne Geld im Sack? Franzine schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn sie meinte ganz ohne Umschweife: „Mach dir keine Sorgen Senta, Ferry braucht für den Start kein Geld, der Tank ist voll und so wie ich ihn kenne, wird er sich bestens durchschlagen können.“ An ihm gewandt sagte sie: „Bring das Lourdes Wasser heil nach Hause, und bitte pass auf dich auf, es ist immer ein schöner Augenblick, wenn du wohlbehalten zur Tür reinkommst.“ Dann umarmte er sie wieder und beugte sich dann zu Bernadette ins Bettchen und küsste sie leicht auf die sanfte Kinderwange.
„Ich bin bald wieder da, macht euch keine Sorgen, sagt Papa auf Wiedersehen von mir. Wenn ich Glück habe, stehe ich heute Abend schon auf französischen Boden. Macht es gut ihr alle.“ Rasch verschwand er durch die Tür und bald darauf heulte der Motor auf, Ferry gab Gas und seine Reise begann.
Zwei Stunden später polterte Tanno in die Wohnung, betunken und mit schlechter Laune.
„Mahlzeit“, rief er laut uns ließ sich auf einem der Stühle fallen. Das „scht“ der beiden Frauen kam zu spät, Bernadette wachte auf und begann sofort zu brüllen. Franzine konnte sie wieder beruhigen, sie spielte mit ihren Holzpuppen und den alten Stoffteddy mit dem einen Auge, an dem sie viel Gefallen gefunden hatte.
„Er ist also schon weg“, sagte Tanno gereizt, „ hab ich’s mir doch gedacht, na wollen wir hoffen, dass er nicht mit leeren Händen nach Hause kommt, falls er überhaupt lebendig wieder hier auftaucht.“
„Sprich nicht so schwarzseherisch daher, willst du mir Angst machen? Er hat seine Gründe warum er dies alles auf sich nimmt, das weißt du ganz genau, außerdem sieht er viel von der Welt, das alles werden wir nie erleben können. Und nun iss.“ Senta stelle ihm einen Teller randvoll mit Hühnersuppe hin und schnitt ihm noch zwei dicke Scheiben Brot vom Laib. Danach verzogen sie sich wieder ins Schlafzimmer um ihren Mittagsschlaf zu halten. Franzine atmete auf. Endlich allein sein können, auch wenn es nur für ein paar Minuten geschieht, genoss sie in vollen Zügen. Sie fühlte eine Art Befreiung in ihr, tief atmete sie wieder ein und betrachtete Bernadette die vor sich hinplapperte und mit ihren hölzernen Gesellen spielte. Man müsste sie überlisten, dachte Franzine, irgendwie muss es doch möglich sein die Behausung zu verlassen, ohne dass es jemand mitbekommen würde. Ob die Nachbarn ihren Mund halten würden, aber die wussten ohnehin nichts von Ferrys Forderungen. Mir wird was einfallen, war sie sich sicher, eines Tages werde ich ganz frei und ungezwungen die Strasse rauf und runtergehen können, mit meiner Tochter an der Seite und niemand wird auch nur das Geringste dagegenhaben. Sie knipste das Radio an, stellte es leiser, beschwingte Musik erfüllte die Küche. Eine günstige Zeit um in ihrem Buch weiterzulesen, Kleist’s Michael Kohlhaas wartete schon darauf. Der Gedanke an ihre Mutter schlich sich ein, wie lange hatte sie sie schon nicht mehr gesehen? Es müssten Monate vergangen sein, obwohl sie nicht all zu entfernt von ihr wohnte, wurde ihr die Gelegenheit einfach geraubt um ihr einen Besuch abzustatten. Dies müsste sie schleunigst ändern, sie war sich sicher, dass sie schon in nächster Zeit zu ihr fahren könnte. Er konnte ihr nicht verbieten ihre Mutter zu sehen, schließlich hatte er selbst das beste Verhältnis zu Senta und tat alles Erdenkliche um sie zu beschützen und ihr Asthmaleiden wegzubringen. Natürlich musste dies heimlich geschehen, niemand durfte erfahren, was sie vorhatte. Die Straße ohne seiner Begleitung zu betreten stellte zwar ein Risiko dar, aber nichts war unmöglich. Während Ferry noch auf Reisen war, und nur dann bestünde diese Möglichkeit sich mal fortzubewegen, endlich aus diesem Sog für ein paar Stunden zu entkommen. Sie plante ihren Besuch bei Freya, der schon in den nächsten Tagen stattfinden sollte. Ob sie Tanno einweihen sollte? Das müsste noch gründlich überlegt werden. Ob er dicht halten konnte vor Senta, die auf keinen Fall Wind davon bekommen durfte. Sie war entschlossen und zuversichtlich, Freya war bestimmt schon krank vor Sorge und Franzine schämte sich, dass sie nicht eher an ihre Mutter gedacht hatte. Das dies solch ein Übel darstellen könnte, hätte sie sich nie zu träumen gewagt. Doch sie hat ihr Versprechen gegeben, nun musste sie es brechen, egal was danach passieren wird. Ihr Entschluss festigte sich in ihrem Herzen. Sie empfand Freude, der günstige Augenblick wird bald kommen, ein Stück von Freiheit genießen, niemand konnte sie aufhalten, der besondere Tag war in greifbarer Nähe.
Der Nachmittag verlief ruhig, Bernadette war beschäftigt mit ihren Spielsachen und Franzine schnappte sich ihr Buch und begann zu lesen. Senta und Tanno kamen nicht mehr aus dem Schlafzimmer, so war sie auch abends alleine mit Bernadette in der Küche, fütterte sie, zog ihr das Nachtgewand an und legte sie schlafen. Sie löste den Haarknoten auf und flocht sich einen dicken Zopf der ihr über den Rücken lief. Bald war sie eingeschlafen, wachte Nachts auf und holte Bernadette zu sich. Das Atmen ihrer Tochter beruhigte sie, der kleine Körper, der warm und ruhig neben ihr lag, zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Die Vögel waren verstummt, Franzine hatte nicht vergessen die Tücher über die Käfige zu legen. Morgen kommt ein neuer Tag, ein ganz besonders guter Tag, war sie sich gewiss.