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Kapitel 3, Vor 6 Jahren 1963…

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Langsam zog Ferry seine Beine in das Bett nach. Entsetzt kam Senta heran und betrachtete ihren ramponierten Sohn. Sie schlug die Hände vors Gesicht und atmete schwer ein. Zögernd versuchte Ferry die Augen zu öffnen, von völliger Mattigkeit geschwächt, gelang ihm nur ein vages Blinzeln.

„Um Gottes Willen, was ist passiert Junge…“, Senta hielt sich am eisernen Bettgestell fest, ihr Atem kam pfeifend und gurgelnd aus ihrer Lunge.

„Später Mutter“, sagte Ferry fast flüsternd, legte die vom Motoröl geschwärzten Hände an seinem Bauch und versuchte regelmäßig einzuatmen. Sein Atmen ging schnell, seine Brust hob sich ruckartig und sank auch rasch wieder ab. An seinen Händen war in der Schwärze Risswunden zu erkennen, rot leuchteten die Stellen durch die Schmiere hervor. Tränen traten in Sentas Augen, noch nie hatte sie ihren Sohn in derartig desolaten Zustand gesehen. Sorge erfüllte ihr von Krankheit gezeichnetes Gesicht.

„Ich werde zu Doktor Mayer gehen, du brauchst sofort ärztliche Hilfe“, sagte sie mit aufsteigender Panik, „ich kann dich hier nicht so liegen lassen.“

„Nein“, schrie Ferry, riss die Augen plötzlich weit auf und umklammerte zitternd die grauen Hände seiner Mutter. „Bitte, lass mich nur hier liegen, ich will keinen Doktor in meiner Nähe haben, ich werde mich nachher waschen, aber bitte bringe diesen Arzt nicht ins Haus!“ Senta respektierte seine Entscheidung nur widerwillig, strich über seine schwarzen Haare und nickte ihm beruhigend zu. Nach einer Weile schlief er ein, sein Atem beruhigte sich. Senta bereitete einen großen Topf Kamillentee zu und ließ ihn etwas auskühlen. Sie seihte die Brühe ab, goss sie in eine breite Waschschüssel, tauchte einen frischen Waschlappen in den Tee und begann Ferrys Wunden an den Händen zu säubern. Behutsam zog sie ihm die schmutzigen Socken von den Füßen die über und über mit entzündenden Blasen übersät waren, tupfte sie sachte ab und trocknete die Stellen mit einem sauberen Tuch ab. Danach holte sie frisches Wasser und Seife, sanft wusch sie ihrem schlafenden Sohn das Gesicht ab. Ferry schlief über 15 Stunden durch. Senta war froh, ihren Sohn wieder bei sich zu haben, wachte beständig an seinem Bett und strich ihm zwischendurch übers Haar. Sie saß die Nacht hindurch auf einem Küchensessel und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Tanno wurde, als er von der Arbeit endlich nach Hause kam, in das Schlafzimmer geschickt, mit der Aufforderung sich still zu verhalten und keinen Laut von sich zu geben. Ein kleiner Blick auf seinen schlafenden Sohn genügte ihm. Er fütterte noch seine eigenhändig eingefangenen Vögel, die in der Speisekammer in fünf Käfigen aufgereiht platziert standen, gab ihnen frisches Wasser und verschwand ohne zu Murren im Schlafzimmer.

Im Morgengrauen zuckte Senta auf, Ferry drehte sich im Bett um und stöhnte. Sie war über den Tisch eingenickt, hielt den Kopf auf ihre verschränkten Arme auf der Platte und war sich nicht bewusst, dass sie müde und abgekämpft und voller Sorge irgendwann in der Nacht eingeschlafen war. Das Schnarchen Tannos war aus dem Schlafzimmer zu vernehmen, es war noch im Bereich des Erträglichen, Ferry wachte davon nicht auf. Am frühen Morgen war Tanno längst zur Arbeit gegangen, leise erhob sich Senta von ihrem Stuhl. Ferry schlief ruhig, sein Atem war regelmäßig und normal. Beruhigt öffnete Senta die Holzkiste und schnitzte Holzscheite zum Feuerentfachen für den Herd. Bald würde sie den Ofen anmachen und ihrem Sohn eine stärkende Speise zubereiten. Noch immer hatte sie die schwarze Satinschürze umgebunden, die sie nur zum Waschen ablegte. Ihre Gedanken kreisten um ihren geliebten Sohn, der todunglücklich nach Hause gekommen war, die Illusionen zerstört und hilflos im Bett verwundet, schon seit Stunden schlief. Aus der Speisekammer tönte fröhliches Vogelgezwitscher, die kleinen Gefährten flatterten in ihrer Gefangenschaft den beginnenden Tag entgegen. Senta füllte einen großen Topf mit Wasser und stellte ihn auf die hinterste Ecke des Herdes. Im Laufe des Tages würde er für warmes Wasser sorgen, mit einem großen Schöpflöffel, der am Rand des Topfes hing, sorgte er für Tee, Kaffee und zur Körperreinigung. Ständig wurde nachgegossen um das Wasser wieder zu erwärmen. Mangel an Luftfeuchtigkeit litten sie nie.

Die Sonne schien durch das Fenster und Ferry schlug die Augen auf. Es war gegen zehn Uhr vormittags, verwundert blickte er sich um.

„Da bist du ja wieder“, Senta war über sein Bett gebeugt und blickte ihren Sohn in die blauen Augen. Er lächelte, betrachtete seine Finger und zog die Knie an.

„Ich bin noch ganz, ich fühle mich ausgeruht….ja ich fühle mich frisch, ich muss ja tot gewesen sein. Nur die Knochen schmerzen, das ist aber auszuhalten.“ Er langte an den nebenstehenden Tisch und schaltete das Radio ein.

„Bald ist das Wasser warm, Vater hat gestern die Blechwanne heraufgebracht, ich hab sogar ein gut riechendes Badesalz für dich besorgt. Aber davor kriegst du noch ein gutes Weinchadeau von mir.“ Zufrieden nickend holte Senta eine Weißweinflasche hervor die sie vor Tanno versteckt hielt, holte drei Eier aus der Kredenz und die aus echtem Porzellan schön verzierte Zuckerdose, gab die Zutaten in eine feuerfeste Rührschüssel, stellte sie in eine Kasserolle mit kochend heißem Wasser, zwinkerte Ferry zu und begann mit der Arbeit. Den Schneebesen schwingend in der Hand, schlug sie den köstlichen Weinschaum im Wasserbad cremig auf. Nichts könnte den Organismus besser stärken, als diese, von ihr geschlagene, flaumige Weincreme. Sie war sich sicher und rundum überzeugt, auch wenn ihr jemand einreden wollte, dass dies auch Hühnersuppe oder Rinderbrühe vermochten, winkte sie kopfschüttelnd ab. Sie füllte die gelbe Creme in eine Glasschüssel und reichte sie Ferry mit einem Löffel. Das Tigerauge am Radio zog sich zusammen, endlich war der Empfang hergestellt. Die letzten Sätze des Nachrichtensprechers verlautbarten Sommerwetter bis zu 32 Grad. Swingmusik erklang und Ferry drehte den Ton etwas lauter auf. Die Musik übertönte das Vogelgezwitscher das noch immer aus der Speisekammer drang. Der gespannte, gerippte Stoff der über das Schallloch gespannt war, vibrierte im Takt zur Musik.

„Langsam, Junge, es ist nicht nötig, dass es dir gleich wieder aus deinem Mund fließt. Ich hol die alten Semmeln, einen duftenden Scheiterhaufen werde ich zaubern, mit einer Lage Äpfeln darin, und einen russischen Tee dazu, das müsste dich wieder auf die Beine bringen.“ Senta musste sorgvoll feststellen, dass Ferry innerhalb einer Stunde die Toilette mehrmals aufsuchen musste. Ferry aß mit wenig Appetit das Chadeau, als Senta die große alte Blechwanne aus dem Flur in die Küche zerrte. Dann schöpfte sie heißes Wasser aus dem Topf in einem Eimer und leerte ihn in die Wanne. Nach ein paar Eimern heißen, dampfenden Wassers füllte sie den Rest mit kaltem auf, streute nach Lavendel duftendes Badesalz hinein und deutete Ferry, dass er sich nun baden könne, die Semmeln könne sie auch im Schlafzimmer aufschneiden.

„Rufe, wenn du fertig bist, ich werde dann deine Wunden mit Ringelblumensalbe einschmieren, morgen wird bestimmt alles verheilt sein. Ich muss ja noch in den Schuppen, wir brauchen ja die Äpfel. Halte deine Hände nicht ins Wasser, das könnte höllisch brennen.“ Er nickte und schien wieder guter Dinge zu sein. Senta begab sich ins Schlafzimmer. Er genoss sein ausgiebiges Bad, saß mit verschränkten Armen über Kopf im wohligen Wasser und dachte an Franzine. Wenn sie ihn in diesem Zustand sehen könnte, der Schock wäre unerträglich für sie. Auch gäbe es kein gutes Bild ab, wenn sie feststellen müsste, dass er versagt hatte, dass er anders als er es sich so sehr gewünscht hatte, mit schlechten Nachrichten aufwarten musste. Eigentlich kann von Nachrichten keine Rede sein, er kam mit leeren Händen zurück. Doch die Reise war spannend, abenteuerlich und gefährlich. Gut, dass Senta noch keine bohrenden Fragen gestellt hatte. Wo sollte er beginnen zu erzählen? Würden sie ihn danach noch lieben? Mutter und Braut? Ist es nicht so, dass nur der gute Wille zählen sollte? Ferry strich sich über die eingefallene Wange. Wie wird sie es aufnehmen wenn sie dann erführen, dass er bei seiner Reise knapp den Tod entronnen ist? Der Gewichtsverlust ist das geringste Problem, das lässt sich leicht wieder lösen. Sollte er die ganze Geschichte überhaupt seiner Mutter anvertrauen? Er überlegte, während er sich sachte mit einem Lappen die Gliedmassen abwusch. Wie sollte er auch Franzine erklären was er sich vorgenommen hatte? Um sie sorgte er sich nicht übermäßig, aber sie sollte seine Träume und Wünsche erfahren. Bestimmt sehe sie ihn dann als Helden, nicht viele Männer nehmen eine Reise mit einem alten Motorrad in Kauf, den meisten fiele dies nicht einmal ein. Doch sein plötzliches Verschwinden musste er begründen, dabei wollte er es bei der Wahrheit belassen.

Senta versorgte ihn heute nur mit Süßspeisen, was dachte sie sich dabei? Seine Zähne, tadellos und gerade gewachsen, sind vollkommen in Ordnung. Ein knuspriges paniertes Backhuhn wäre nicht von der Hand zu weisen. Doch dies war nicht im Hause und Senta sorgte sich um seine Gesundheit. Vielleicht würde Tanno mitten in der Nacht aufstehen und zum Fluss hinüber gehen. Dort gab es prachtvolle Forellen die gerade in der Nacht wohl am besten anbissen. Manchmal brachte er fünf Stück in einer kleinen Wanne mit nach Hause, lang und tot lagen sie im blutigen Wasser, manche bewegten sich noch, die letzten Nerven bäumten sich noch auf. Klammheimlich schlich sich Tanno dann wieder zurück, eine Fischergenehmigung besaß er nicht, das wäre zu teuer, niemals könnte er die Gebühr bezahlen. Also besorgte er sich die Fische umsonst, es brauchte ja niemand zu erfahren, bis jetzt ging alles glatt und Sonntags schwammen die Forellen mit viel Knoblauch in einem Buttersee in der riesigen Pfanne und brieten sich eine knusprige Haut an. Der Geruch verbreitete sich im gesamten Haus, Senta stellte zu diesem Zeck einen Topf Milch auf den Herd und ließ ihn überlaufen. Somit war der Forellengeruch beseitigt und niemand könnte auf die Idee kommen Tannos Diebstahl anzuzeigen, die Beweise lagen im Magen, der Rest wurde ins Ofenloch geworfen.

Scheiterhaufen. Na gut, für heute eine gute Mahlzeit, vielleicht könnte man für morgen ein Huhn besorgen, es laufen ja viele in den umliegenden Höfen herum, das sollte kein Problem darstellen.

Senta schritt langsam über den Hof, der gegenüberliegende Schuppen enthielt Brennholz und manch Vorräte. Eine Steige mit bausbackigen roten und gelben Äpfeln befand sich gleich neben dem Gatter. Langsam hob sie ihre Schürze und legte die Äpfel sachte hinein. Sie sah hinauf zum Fenster, es war geschlossen, Ferry saß noch in der Wanne und träumte.

In den nächsten Tagen musste er sich bei Franzine melden, er verspürte Sehnsucht nach ihr. Er begann sich auf sie zu freuen, in ein paar Tagen würde von seinen Schürfwunden nichts mehr zu sehen sein. Der Anzug muss noch aufgebügelt werden, die Schuhe geputzt und er selbst wieder vollständig hergestellt werden. Er wusch sich den Schaum vom Körper und stieg aus der Blechwanne.

Vor ihren Tellern lag die gebackene Süßspeise die Ferry mit ein paar Schlucken Rumtee genüsslich aß. Senta gelang es wieder einmal vorzüglich aus diesen einfachen Zutaten eine Delikatesse zu zaubern. Auch sie aß mit Genuss und ließ es gerne geschehen, dass sie Ferry zwischendurch an sich drückte und ihr die Wangen voller Küsschen übersäte. Sie strahlte ihren Sohn an, erfreut, dass es ihm wieder gut zu gehen schien. Für Tanno stand noch die halbe Backform voll Scheiterhaufen im Ofen den er lieber mit einem Glas purem Rum in sich schaufelte. Nach der Arbeit musste das Essen warm und frisch auf den Tisch stehen, ansonsten wäre sein Gebrüll meilenweit zu hören, einen hungrigen Wolf darf man nicht warten lassen.

Es pochte heftig an der Außentür. Kurz blickten sie sich verwundert in die Augen.

„Ich bin im Morgenmantel, lass keinen herein“, sagte Ferry entsetzt, er hasste es wenn er nicht korrekt angezogen, die Blicke von anderen Leuten auf ihn gerichtet waren.

„Keine Sorge, wird wohl ein Staubsaugervertreter sein.“ Senta ging hinaus und öffnete.

Verwundert betrachtete sie die ältere, gut gekleidete Frau die lächelnd mit einem kleinen Blumenstrauß grüßte.

„Wir kaufen nichts…“, sagte Senta barsch und wollte die Tür vor ihrer Nase zuschlagen.

„Bitte“, sprach die Frau leise und hielt ihr das kleine Veilchensträußchen hin, „bitte nehmen Sie, ich brauche nur eine Auskunft von Ihnen, ich bin Frau Thalmann, Franzines Mutter, wir kennen uns doch.“ Seit dem Treffen damals hatten sie sich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sentas Augen weiteten sich. Was sollte sie jetzt tun? Die Blumen annehmen und sie hereinbitten? Ferry wäre das gar nicht recht. Die Frau begann heftig mit den Augenlidern zu flattern.

„Oh….“, brachte Senta hervor, erst jetzt erkannte sie die Dame, die verschüchtert vor ihr nach Worten suchte. Fast hatte sie das Beisammensein, das Kennenlernen vor einiger Zeit vergessen. Sie steckte in dieser Sekunde in einer Zwickmühle und überlegte fieberhaft um eine rasche Lösung. Nichts desto Trotz nahm sie die Blumen entgegen.

„Bitte warten Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder zurück.“ Sie schloss die Tür und ließ Franzines Mutter verdutzt im Flur stehen.

„Ferry, Franzines Mutter steht draußen, sieh mal was sie mir gebracht hat. Soll ich sie herein lassen? Ich kann sie nicht wieder wegschicken, ich hab die Blumen angenommen“, lächelnd frischte sie die Veilchen in einem Wasserglas ein.

„Was macht die denn hier“, fragte Ferry nicht ganz ohne Zorn, „ausgerechnet jetzt, ich ziehe mich schnell an, die wird ja einen feinen Eindruck von uns haben.“ Wütend ging er ins Schlafzimmer und suchte seinen besten Anzug heraus.

Als er fein säuberlich gekleidet wieder aus dem Schlafzimmer kam, saß Freya Thalmann in der Küche während Senta hurtig die Teller und Tassen vom Tisch räumte. Senta gelang es, die Blechbadewanne schnell in die Speisekammer zu ziehen bevor sie den Besuch die Tür öffnete und sie hereinließ. Das Wasser schwappte dabei über und Freya fielen die Wasserpfützen in der Küche auf. Der Lavendelgeruch war noch zu vernehmen, Vogelgesang drang ihr in die Ohren. Ferry kam aus dem Schlafzimmer und reichte Freya die Hand. Der Druck war hart und rau. Seine Wunden schimmerten von seinen Handoberflächen, die Manschettenknöpfe die er sich in der Eile hineingesteckt hatte, hingen schief im Knopfloch. Geflissentlich übersah Freya die kleine Panne. Eine leichte Spannung erfüllte die Luft, Ferry räusperte sich und versuchte ungeschickt seine Hände zu verbergen. Nervös packte er die Tischplatte und ließ beide Daumen an der Oberfläche. Freya bemerkte eine gewisse Aggression, als sie ihm in die Augen blickte. Wie sollte sie ihm beibringen, dass ihre Tochter im Krankenhaus lag, die Schuld bei ihm zu suchen war? Er wusste von nichts, doch er sollte es erfahren. Ob er danach ein schlechtes Gewissen spüren würde? Ihre Blicke wanderten langsam durch die zweckmäßig eingerichtete Küche. Der Raum versprach weder Gemütlichkeit, noch wies sie einen Funken Behaglichkeit auf. Billige Heiligenbilder, die über dem weißen Bett aufgehängt waren, bewirkten eher Bekümmernis als Frohmut. Ein Jesusbild, mit schmerzverzerrten Gesicht und Dornenkrone, widerspiegelten wohl das Innenleben dieser Familie.

Sie musste irgendwie zu Wort kommen, Senta strich sich über ihre Satinschürze und fragte erst nach einer Weile des Schweigens, ob sie einen Apfelsaft trinken wolle.

„Gerne, danke“, erwiderte sie und fühlte sich erleichtert, dass der Bann nun gebrochen war. Senta verschwand mit einem Glas in der Speisekammer, woraus fröhliches Vogelgezwitscher drang, stieß an etwas Hartes, als sie die Tür öffnete und kam dann mit bis zum Rand aufgefüllten Saft wieder zurück. Ferrys Augen blitzten blau, betrachtete sie unentwegt, bevor auch er endlich zu sprechen begann.

„Was führt Sie zu uns, Frau Thalmann?“

Konnte er es sich nicht denken? Was, in Gottes Namen ging in diesem Mann vor? Die seelische Zerrüttung Franzines schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Hatte er sie so schnell vergessen und wollte sich sang und klanglos aus der Affäre ziehen? Senta nahm gegenüber Platz. Neugierig wartete sie darauf, was nun geschehen würde. Freya fasste Mut, jetzt oder nie, die Stunde der Wahrheit, es gab keine Ausflüchte mehr.

„Wo sind Sie gewesen, lieber Herr“, sagte sie nicht ohne Nachdruck, „ meine Tochter liegt im Krankenhaus, warum haben Sie sie ohne ein Sterbenswörtchen verlassen? Sie sorgte sich nicht nur um Sie, sie ist beinahe gestorben vor lauter Kummer. Wenn Sie schon meine Tochter verlassen, dann wäre es richtiger gewesen, dass Sie ihr die Wahrheit schonend beigebracht hätten, auch wenn es noch so schwer und zermürbend gewesen wäre. Das würde ich einen ausgewachsenen Mann zutrauen, aber dies hier, was Sie, ja ich sage, verbrochen haben, ist unverantwortlich. Ich mache mir die größten Sorgen, wenn ihr etwas passiert, tragen Sie die Hauptschuld.“ Nun war es raus. Sie atmete tief ein, sie zitterte, gefasst darauf, dass dieser Mann die Beherrschung verlieren könnte. Senta legte die Hand vor den Mund. Ferry überfiel so etwas wie einen Schrecken. Die Daumen bewegten sich auf der Tischplatte auf und ab, er rang nach den passenden Worten. Glaubte Freya so etwas wie ein schlechtes Gewissen in seinem nun verfinsterten Antlitz zu erkennen?

„Das kann nicht sein….“, heftig schüttelte er den Kopf, zu Freyas Überraschung sammelten sich Tränen in Ferrys Augen. Mitleid fühlte sie plötzlich für ihn, Senta röchelte, ihre Hand lag auf der Brust, vorsichtig versuchte sie das Geräusch abzuwehren, langsam atmete sie mühsam ein. Ihre Haut wurde fahl, das Gesicht auffallend bleich.

„Um Himmels Willen, was haben Sie“, Freya sprang auf um Senta Hilfe zu leisten. Sofort wurde ihr bewusst, dass diese Frau an schwerem Asthma litt.

„Nehmen Sie beide Hände in die Höhe, stehen Sie auf, ich zeige es Ihnen.“ Sie zögerte nicht lange, packte Senta unter den Schultern und hob sie vom Stuhl auf. Sentas Gesicht verfärbte sich bläulich, Freya nahm ihre Arme und zog sie weit hoch. Sogleich wurde ihr stertoröser Atem ruhiger, die Lunge weitete sich, sie bekam wieder Luft.

„Legen Sie den Kopf an meine Schulter, bleiben sie noch ein bisschen in der Stellung.“ Senta befolgte Freyas Rat. Bald normalisierte sich wieder ihr Luftholen, dann ließ sie ein Glas Wasser ein und trank es leer.

„Ich danke Ihnen“, stammelte Ferry unbeholfen, „wenn Sie ihr nicht geholfen hätten, wer weiß was nun passiert wäre. Frau Thalmann, ich werde alles erklären, ich habe Ihre Tochter nicht verlassen, ich war nur verreist, ich werde sie aufsuchen, ich mache alles wieder gut, ich habe viel zu erzählen. Eigentlich hätte alles anders kommen müssen, wenn ich nur geahnt hätte was dies bewirkt hat…..ich hätte mit ihr sprechen müssen, ihr alles sagen und erklären.“

„Das meine ich auch“, sagte Freya streng, „sie liegt im Breicker Krankenhaus, medizinische Abteilung, erster Stock, Zimmer 12. Wollen wir hoffen, dass sie wieder Appetit bekommt und einmal ihren Teller wieder leer isst. Sie wurde total geschwächt eingeliefert, sie hatte jede Nahrung verweigert. Ich stattete ihr gestern einen Besuch ab, es geht dir den Umständen entsprechend, es scheint wieder aufwärts zu gehen. Wenn Sie sie besuchen, nehmen Sie ihr doch ein paar Bücher mit, sie liest gern, es wäre doch zu langweilig den ganzen Tag am Tropf zu hängen und nichts zu tun zu haben.“ Ihre Worte fruchteten, Mutter und Sohn waren voll des Entsetzens.

„Sie können sich auf mich verlassen, ich werde alles wieder zurechtrücken. Ich muss mein Motorrad auftanken, dann fahre ich sofort zu ihr… ich habe eine Menge zu erzählen“ beschämt wandte er sich ab.

„Gut“, meinte Freya, „ ich werde auch da sein.“ Sie verabschiedete sich, sie wollte so schnell wie möglich diese Wohnung verlassen.

„Wahrscheinlich habe ich einen Fehler gemacht“, meinte Ferry „ich hätte sie darauf vorbereiten sollen, sie Sorgen beiderseits schlagen sich über uns zusammen, es ist meine Schuld.“

„Wer hätte auch ahnen können, das deine Braut sogleich mit dem Leben spielt, jedenfalls bin ich dankbar dass mir ihre Mutter nun geholfen hat, es war mir mehr als peinlich, nun, ich denke, das renkt sich wieder ein, du wirst sehen wie sie sich freuen wird wenn du auftauchst. Ich habe diese Frau schon vorher gekannt, nicht persönlich, aber sie gibt stundenweise Gesangsstunden in der hiesigen und in der Nachbarsschule. Die Kinder sind begeistert von ihr, du hättest etwas freundlicher sein können….“ Senta wies ihren Sohn nur ungern zurecht.

„Willst du mich nicht begleiten, auf dem Sozius binde ich dich eben an wenn du runterzufallen drohst, ich glaube, das wird eine Überraschung für Franzine werden. Ich wusste nicht, dass es mit ihr so weit bergab gehen kann….sie liebt mich eben.“ Ferry grinste.

„Söhnchen, das ist keine schlechte Idee, irgendwo muss noch meine Blue Jean im Kasten liegen, meinst du, dass ich damit eine gute Figur mache?“

„Die beste, es wird dir gefallen, du wirst schon sehen.“

„Also abgemacht, gegen Abend muss ich zu Annelie und Pepp fahren, ich glaube Thorsten hat die Schafplattern bekommen. Pepp sagte etwas davon zu Tanno in der Arbeit. Werde mal Salbei und Lindenblütentee zusammenpacken, das hilft ihm bestimmt. Jetzt fangen die Kinderkrankheiten an, gut, dass er noch nicht in die Schule geht und andere Kinder ansteckt.“

Sie wühlte in der Schublade nach geeigneten Tüten, fand sie und holte die alten Blechteedosen herunter, die aufgereiht auf der Kredenz ordentlich nach Größe aufgeschlichtet standen. Sie füllte die getrockneten Blätter getrennt in die kleinen Säckchen ab und schloss sie mit einem Gummiband zu.

„Ich habe viel zu berichten“, sagte Ferry wieder und machte dabei ein bekümmertes Gesicht, „es ist keine angenehme Geschichte, ich hoffe, ihr drei Frauen könnt es dann verkraften.“

„Du bist wieder hier, zwar ziemlich geschunden angekommen, aber ich bin glücklich, dass du alles überstanden hast, auch wenn es nichts gebracht und noch weniger genutzt hat.“ Senta umarmte ihren Sohn von hinten und wiegte ihn.

„Es gibt noch eine Alternative liebe Mutter, oder hattest du geglaubt ich gebe so schnell auf? Eines Tages werde ich nach Lourdes fahren.“ Zuversichtlich betrachtete er seine Mutter, die sich kopfschüttelnd und seufzend ins Schlafzimmer begab um ihre Jeans zu suchen.

Die Geschichte ließ Ferry keine Ruhe. Verzweifelt grübelte er auf dem Bett, mit flatternden Herzrasen versuchte er ruhig sitzen zu bleiben. Um sich abzulenken schaltete er wieder das Radio ein, wechselte laufend den Sender der nur klassische Musik anbot. Keine passende Musik war zu finden die ihn aufmuntern konnte, so beschloss er, sein Motorrad zur Tankstelle zu schieben um es voll tanken zu lassen. Doch das Geld fehlte, er besaß keine einzige Münze mehr. Von Papiergeld konnte schon gar keine Rede mehr sein. Ob Senta noch etwas für den Sprit übrig hätte? Schließlich musste er so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu Franzine, das arme Ding hätte beinahe ihr Leben verloren, langsam, ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre.

Die unaufhaltbare Sehnsucht nach ihm hätte Franzine beinahe vernichtet. Was fühlt ein Mensch, der über alle Maßen liebt, das Gefühl dieser unsagbaren Liebe in sich trägt, die sie fast erdrückt, ja die Seele bis zum Ersticken zuschnürt? Jegliche Kraft aus dem Körper saugt und wie ein Betonklotz auf der Brust liegt, sich nicht bewegt und versucht bis zu ihrem Atem vorzudringen. Die Luft abschneidet, den Magen geschlossen hält und mehr Tränen erzeugt als je ein anderes Gefühl? Sämtliche Schleusen öffnet, den Organismus beschleunigt, sogar den Trakt des Verdauens auf raschere Weise ankurbelt, so, als ob es keine Zeit mehr gäbe. Die Schuld wäre bei ihm zu suchen gewesen, das wurde ihm schmerzlich bewusst, wie hätte er je damit umgehen können?

Senta kam aus dem Schlafzimmer, schwenkte eine fast neue Blue Jeans hin und her und rief:

„Wir können los, sieh mal, wie neu ist sie, einen Pullover noch darüber angezogen, und, Söhnchen, binde mir bitte das grüne Band noch in die Haare, es wird windig sein bei der Fahrt. Falls das Vehikel leer ist, hier hast du Geld für Benzin, nimm es…wir müssen uns beeilen wenn ich heute noch zu Annelie soll. Geh schon….lass auftanken.“ Sie legte die Schürze ab, entledigte sich den Kleidern, zog sich die Hose an und richtete sich auf.

„Danke Mutter…ich danke dir“, Ferry nahm das Geld entgegen, dann legte er seiner Mutter das Band straff auf ihr weißes Geflecht, dass sie am Hinterkopf fest mit Haarnadeln festgesteckt hatte. Sie sah nun um Jahre jünger aus, die weißen Haare wirkten um ihr Gesicht beinahe wie Engelshaar, dass ihr nun mit dem grünen Band eine jugendliche Note verlieh.

„Ich bin gleich zurück“, meinte Ferry und ging schnellen Schrittes nach unten zu seinem Motorrad, dass er eilig zur nächstgelegen nur 500 Meter entfernten Tankstelle schob.

Gutgelaunt kam er nach 20 Minuten angebraust und pfiff nach seiner Mutter, die langsam aber zuversichtlich die Stufen hinunter schritt.

Anstatt der fünf Tage die sich Franzine erhoffte, begann schon in zwei Tagen die dritte Woche, die sie im Breicker Krankenhaus zubringen musste. Ihr Arm wies ein riesiges Hämatom in der Armbeuge auf, die Infusionen, die sie täglich erhielt, spürte sie nicht mehr, sie fühlte keinen Schmerz an der Stelle, wo ihr die Nadel fast bis auf den Knochen hinein gestochen wurde. Die stärkende Lösung, die ihr in die Blutbahn floss, schien sie wieder kräftiger werden zu lassen. Sogar ihre flachen Wangen wiesen eine zart rosa Farbe auf, die Waden nahmen wieder Form an dank des täglichen Spazierganges nach dem Mittagessen im Krankenhauspark. Ihr Appetit hielt sich in Grenzen, ein Hungergefühl wollte sich noch immer nicht so richtig einstellen. Das Zimmer war annehmbar, ein Achtbettzimmer mit sechs belegten Betten. Jeden Tag gab es Besuch bei den Patienten, Freya ließ sich jeden zweiten Tag nach den Gesangsstunden blicken, brachte ihr kleine Blumensträuße, oder sprudelnde Frucade Limonade mit. Doch auch hier, - die Schwestern hatten kaum Zeit Franzine die Haare zu machen – bemühte sich Freya ihr die Zöpfe wieder straff zu flechten und sie für zwei Tage so zu lassen.

Franzine langweilte sich. Ausgestreckt lag sie auf dem Bett und hielt die Augen geschlossen. Es war Nachmittag, die Luft war lau an diesem Junitag, Motorengeräusche, Vogelgesang und Rettungssirenen wechselten sich ab. Neben sich einen Stapel Bessy – Comics, die sie in der Krankenhausbibliothek entdeckt und sofort begeistert von Andy und seiner Colliehündin Bessy, die Westerngeschichten mit den Sprechblasen mit Eifer gelesen hatte. Natürlich angelehnt an die beliebte Fernsehserie Lassie, die sie aber nur aus den Zeitungen kannte. Ein Fernsehgerät konnten sich nur die wenigsten leisten.

Einige Besucher hatten sich wieder eingefunden, im Zimmer wurde es beachtlich lauter, Gelächter, Papiergeraschel, Kapseln auf den Flaschen würden geöffnet, Kinder jammerten oder bettelten um Süßigkeiten. Franzine ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und dachte mit geschlossenen Augen nach. Sie musste es schaffen, so bald als möglich hier wieder weg zu kommen, in der Bibliothek gab es fast kein Buch oder Comic mehr, das sie nicht schon gelesen hatte oder kannte. Es wurde Zeit, das Leben außerhalb dieser Mauern wieder zuzulassen. Der Alltag muss sie bald wieder aufnehmen, und, was vielleicht nicht unwichtig wäre, eine geeignete Anstellung finden, eigenes Geld verdienen, sich etwas anzusparen und auch was Kostspieligeres gönnen. In einem Jahr kommen die Zöpfe weg, nein, es sind genau genommen eineinhalb Jahre, die müssen noch durch gestanden werden. Ferry wird bald in Vergessenheit geraten sein, es tut noch verdammt weh, ihn nicht mehr zu sehen, doch auch diese Zeit wird sich wenden, und zwar zum Guten. Eines Tages, liebe Mitmenschen, werde ich die modischste, bestgekleidetste Frau in der ganzen Umgebung sein. Mit diesem Gedanken und einem sanften Lächeln um den Mund, versank sie in Schlummer.

Leise betrat Freya das Krankenzimmer, in der Hand hielt sie ein dickes Buch, „Vom Winde verweht“ das vor langer Zeit die Gemüter erregte und es mindestens schon fünfmal gelesen hatte. Margaret Mitchells einziger Bestsellerroman durfte in keinem Haushalt fehlen, war ihre standhafte Meinung.

Franzine schlief, der Lärm im Zimmer war etwas abgeklungen, manche Besucher waren schon längst gegangen. Das Kofferradio eines Patienten spielte das wöchentliche Wunschkonzert. Musikwünsche von begeisterten Hörern wurden im Radio namentlich durchgegeben, die Freude im ganzen Sendegebiet den eigenen Namen aus dem Rundfunkgerät zu hören, schlugen hohe Wellen. Leise klang das Violinkonzert A-Dur Köchelverzeichnis 219 von Wolfgang Amadeus Mozart in den Raum und füllte ihn mit beruhigenden Klängen. Freya setzte sich am Bettrad nieder und betrachtete ihre Tochter. Bildete es sie sich es nur ein, oder war der kummervolle Ausdruck, der ihr Gesicht schon seit Wochen bedeckte, endlich gewichen? Sanft zeichneten sich die Züge um ihren Mund ab, die Lippen schienen voller und die Röte erschien ihr noch intensiver als noch vor zwei Tagen. Sie atmete langsam und still, ein kleiner Nerv zuckte an ihren Augenlidern, die Wangen schienen sich langsam wieder zu füllen. Die Infusionsflasche wurde schon vor ein paar Stunden entfernt und hinausgerollt. Das Stück Apfelkuchen auf ihrem Nachttisch war halb aufgegessen. Die Anzeichen versprachen Gutes. Sie nahm den Stapel Comichefte und legte sie in die Ablage des Nachtkästchens. In einem der Hefte riskierte sie einen kurzen Blick und schüttelte den Kopf. Dieses neumodische Zeug, das gezeichnete Figuren enthielt, versehen mit Sprechblasen, ja sogar Gewalt enthält, konnte man nur als Schund bezeichnen. Da muss noch ein ernstes Wort mit Franzine gesprochen werden, ihr klarmachen, dass sie nicht dulde, wenn sie, die an den Haaren herbeigezogenen Geschichten, in sich aufsog. Gleich im Vorhinein den Keim ersticken, bevor er vielleicht zu wuchern anfängt.

Freya legte ihren Mantel ab, hing ihn an den Ständer und setzte sich wieder zu Franzine auf die Bettkante. Auf keinen Fall wollte sie ihre Tochter wecken, sanft strich sie ihr übers Haar, die Zöpfe hinter ihrem Rücken versteckt, das aus dem Geflecht gelöste Haar lag wie ein Flaum auf ihrem Kopf. Eine neue Patientin wurde hereingebracht, wie leblos lag sie auf dem Rollbett, ihr fülliges Gesicht wies eine sonderbar bleiche Farbe auf. Die Rettungsmänner schoben sie auf einen Platz neben den leeren Betten, die Frau bewegte sich nicht. Die Besucher betrachteten sie entsetzt, den Kindern wurde der Kopf zur Seite gedreht. Die Ärzte füllten das Krankenblatt aus und hängten es an die Bettvorderseite. Tee wurde ihr von einer der Schwestern auf den Nachttisch gestellt, der große weiße Porzellanbecher wurde aufgefüllt.

„Wir müssen abwarten und ihr zu trinken geben wenn sie aufwacht“, meinte sie kopfschüttelnd und strich über ihr straff gestärktes Schwesternhäubchen.

„ Sie schafft es schon“, meinte der Arzt, steckte seinen Kugelschreiber an die Brusttasche seines weißen Mantels und verabschiedete sich.

„ Sehen Sie alle dreißig Minuten nach ihr“, meinte er beim Hinausgehen, „ geben Sie mir Bescheid wenn sie aufwacht.“ Die Schwester nickte freundlich und fühlte noch den schwachen Puls der Frau.

Franzine wachte auf, schläfrig bewegte sie ihre Arme, ihre Augen öffneten sich langsam.

„Guten Tag Mama“, sagte sie leise und lächelte. Sie richtete sich auf und umarmte ihre Mutter.

„Schön dich zu sehen, mein Kind, fast siehst du wieder blühend aus, mach nur so weiter, eine größere Freude könntest du mir nicht machen. Ich merke, dass es mit dir wieder bergauf geht, du wirst bald entlassen werden, ich bin sehr froh darüber.“ Freya holte aus ihrer Tasche ein kräftiges Schwarzbrot mit Salami heraus und reichte es Franzine. Sie nahm es dankend an und biss herzhaft ein großes Stück ab. Es tat gut, ihre Tochter essen zu sehen, zu wissen, dass es ihr wieder schmeckte. Prompt aß sie das große Stück auf, zur Freude Freyas, die in diesem Augenblick nicht glücklicher sein konnte. Sonnenstrahlen durchflossen das Zimmer, Schlagermusik drang nun aus dem Kofferradio, nur die bleiche, leblose Frau lag in ihrem Bett und schlief.

„Hm, ein Neuzugang“, bemerkte Franzine, „oh mein Gott, die sieht ja wie tot aus.“

„Schrecklicher Anblick, die Ärmste, was ihr wohl fehlt? Wenn es ansteckend wäre, hätte man sie bestimmt in ein Isolationszimmer gebracht. Hoffen wir, das es ihr bald wieder gut geht.“

Freya beschloss, ihren Besuch bei den Tennenbachs nicht zu erwähnen, sie war sich unschlüssig ob Ferry sein Wort halten und tatsächlich kommen würde. Falls er aufkreuzte, die Überraschung für Franzine könnte sich als perfekt entpuppen. Ihren geliebten Freund nach so langer Zeit wieder zu sehen, würde ihr wieder Aufschwung bringen, sie wieder lebensfroher und glücklicher machen. Die Zeit verging, Freya blickte auf ihre Armbanduhr und seufzte.

„Ist etwas Mama, musst du wieder weg?“ Franzine bemerkte ihre Ungehaltenheit sofort.

„Keine Sorge, ich bleibe noch eine Weile. Deine Haare müssten wieder neu geflochten werden, sie sehen ja schon struppig aus.“ Mit den Mundwinkeln nach unten nickte Franzine wohl oder übel. Und schon machte sich Freya an die Arbeit, hieß Franzine sich aufzusetzen und lockerte die roten Maschen, nahm die Bänder ab und löste das Geflecht auf. Mit Bürste und Kamm ausgerüstet kämmte sie Franzines Haar sanft durch, das weich und wellig über die Schultern bis zur Taille reichte. Wie ein Schleier umrahmte ihr wundervolles Haar ihr Gesicht, das ihr eine feenhafte Ausstrahlung verlieh. Wie aus Porzellan, schön geformt, wirkte das schmale Gesicht, das den anwesenden Besuchern und Mitpatienten ein anerkennendes Raunen entlocken ließ. Sie saß aufrecht im Bett, wirkte wie eine glückliche Prinzessin die gerade eben vom bösen Drachen von einem stattlichen Prinzen befreit wurde, nicht ahnend, dass ihr Prinz bereits auf seinem Motorrad saß und mit atemberaubender Geschwindigkeit mit Senta am Sozius, sich auf dem Weg zu ihr befand.

„Willst du sie mir nicht wieder flechten?“ fragte Franzine erstaunt, fuhr sich mit den Fingern durchs lange Haar und betrachtete fragend ihre Mutter.

„Im Augenblick nicht, lassen wir sie mal durchatmen, sie brauchen auch mal Erholung von der harten Prozedur.“ Freya zwinkerte ihrer Tochter zu, die sich überrascht zu freuen begann. Die Bürste und Kamm legte sie auf den Nachttisch, ein Zeichen, das ihr doch wieder, bevor ihre Mutter den Heimweg antrat, die ungeliebten Zöpfe verpasst wurden.

Hurtig wurde die Tür aufgerissen. Beide Frauen achteten nicht darauf, Franzine betrachtete sich im Handspiegel und konnte sich nicht Sattsehen an ihrem neuen Aussehen.

„Ich glaube, wir sind hier im falschen Zimmer“, sagte eine aufgewühlte Männerstimme, „aber sie sagte doch Zimmer Nummer 12.“ Senta, die dicht hinter Ferry den Raum betrat schaute sich um.

„Aber da sind sie doch, sieh nur, das Bett neben dem Fenster, sieh nur hin.“ Senta erkannte Franzine sofort, die nun den Spiegel weglegte und endlich aufsah. Freya drehte sich um und erblickte Ferry mit einem Buch in der Hand, dahinter Senta, die ein Sträußchen blauer Glockenblumen hielt. Mit einem Mal erfüllte eine Stille den Raum, eine Stille für Augenblicke, die zum Durchschneiden gespannt war. Freya stand auf, ging auf den Gang hinaus um die beiden Liebenden in dieser Begrüßungsminute nicht im Wege zu sein. Senta legte das Sträußchen auf das Bett und folgte Freya nach.

Starr stand Ferry vor Franzine, überwältigt von ihrer Schönheit, hingerissen von ihrem Haar, dass wallend die Bettdecke berührte, nun für ein paar ungewohnte Augenblicke offen ihren Körper bedeckte.

„Ich…..“, begann er stockend zu sprechen, fand kaum Worte um sein Entzücken anzudeuten, die Sprache war ihm förmlich abhanden gekommen. Franzine, ebenso überrascht und überwältigt auf diesen unvorhergesehen Besuch, hätte am liebsten einen lauten Freudenschrei ausgestoßen. Ferry kam näher, beide sahen sich in die glücklichen, strahlenden Augen, dann folgte eine Umarmung die Franzine beinahe die Luft zum Atmen stahl. Das mitgebrachte Buch, Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist, fiel mit lautem Knall zu Boden. Die Anwesenden im Raume blickten freudig dem Paar entgegen, die Frauen bekamen Tränen in die Augen die Männer grinsten, die Kinder standen mit offenem Mund da. Eine rührende Szene, die nicht alle Tage geboten wird. Nur die leblose Frau schlief, kein Laut war aus ihrer Ecke zu hören. Die Schwester kam wieder herein um nach ihr zusehen, verfolgte lächelnd das Wiedersehen der beiden Liebenden und fühlte den Puls der schwerkranken Patientin. Leise schlich sie danach wieder hinaus, nach ein paar Minuten verabschiedeten sich auch die restlichen Besucher, wünschten ihnen viel Glück und schlossen die Tür kaum wahrnehmbar zu.

„Ich hätte dich niemals verlassen können…niemals“, Ferry küsste ihr aufblühendes Gesicht, im seligen Taumel lehnte sich an ihm.

„Ich dachte, ich werde dich nie wieder sehen“, stammelte sie unter Freudentränen und schmiegte sich wieder an seine Schulter.

„Ich liebe dein Haar“, flüsterte er, knetete sie etwas durch, was ihm Wohlbehagen bereitete.

„Du wirst alles erfahren, vielleicht war es eine unglückliche Zeit dich im Unklaren zu lassen, das wird sich ab nun ändern. Ich habe eine lange Reise hinter mir, eine Reise, die sich ins Ungewisse ergeben hat, die mich enttäuscht hat und die mir eine der wenigen Hoffnungen geraubt hat.“ Ernst setzte er sich zu ihr auf das Bett, streichelte ihre Wangen und strich ihr wieder über das offene Haar.

„Ich weiß Bescheid“, erwiderte sie, „ Annelie hat es mir gesagt, ich suchte sie auf als ich nicht mehr weiterkonnte.“

„Annelie…“, wiederholte er, fast schien es, als ob es ihm widerstrebte, dass sie Franzine eingeweiht hatte.

„Was hätte ich machen sollen? Du hättest dir denken müssen, dass ich vor Sorge fast verrückt geworden wäre, deine Eltern suchte ich nicht auf, ich hatte Angst davor. Aber nun verstehe ich wenigstens, was dich bewogen hat, dir diese Reise aufzubürden, deinen Wunsch nach übersinnlicher Hilfe…“, sie stockte, dies ging bereits über ihre vernünftige Denkweise hinaus.

„Das kannst du auch nicht verstehen, deshalb werde ich von Anfang an berichten, wir holen unsere Mütter herein, dann erzähle ich euch alles der Reihe nach. Senta tut so, als ob sie es verstünde, aber sie hat keine Ahnung davon. Natürlich wäre es das Beste gewesen, das Ganze zu lassen, aber ich gebe nicht auf, ich will meine Mutter geheilt sehen, lachend, mit rosigen Wangen, wieder einen gesunden, kräftigen Körper, sie still atmen zu hören, nicht immer Angst haben zu müssen, dass sie eines Tages, nur wenn sie auch nur ein Taschentuch vom Fußboden aufhebt, vor Atemnot die Besinnung verliert und nie wieder aufwacht.“ Seine Argumente waren zwar überzeugend, aber nicht kräftig genug um daran zu glauben.

„Bitte hole sie herein, ich bin bereit alles anzuhören was du erlebt hast. Auch wenn es hart kommt, nimm dir bitte kein Blatt vor den Mund.“ Franzine war tapfer, sie brannte darauf alles zu erfahren, vielleicht auch zu verstehen. Nachdem er das Buch aufgehoben und es ihr in die Hand gedrückt hatte, holte er die beiden Frauen herein, zog zwei Besucherstühle an das Bett, sie setzten sich und warteten auf seinen Bericht. Und er begann von Anfang an, holte tief Luft, nahm noch einen großen Schluck Tee aus Franines Tasse.

Im Alter von 14 Jahren erlebte er einen der schlimmsten Anfälle seiner Mutter, als er abgehetzt und hungrig aus der Schule gerannt kam. Nachdem er die Tür aufgerissen hatte, fand er Senta am Boden liegend, bläulich im Gesicht und stark röchelnd vor. Von Panik gepackt, lief er ins Freie, den Mund weit geöffnet, versuchte er zu schreien, doch kein Laut kam aus seinem Hals. Eine Nachbarin, die gerade ein Fenster geöffnet hatte um frische Luft einzulassen, bemerkte den völlig verstörten Jungen im Hof hin und her rennen. Sie rief seinen Namen, doch er reagierte nicht, lief wie von Bluthunden gehetzt, vor den Holzschuppen umher. Schnell lief sie zu ihm hinaus, packte seine Schultern und schüttelte ihn kräftig. Er konnte noch immer nicht sprechen, das Gesicht war zu einer erschreckenden Grimasse verzogen, Speichel floss aus seinem Mund, versuchte ständig Worte zu formulieren die aber in einem Würgelaut untergingen. Seine Augen, an das Fenster im ersten Stock gerichtet, ließen vermuten, das dort oben was Schlimmes geschehen sein musste. Die Nachbarin zog Ferry an der Hand in die Wohnung hinauf. Zitternd folgte er ihr nach, langsam öffnete sie die Küchentür, gefasst darauf etwas Grauenhaftes vorzufinden. Es war bekannt, dass Senta mit schlimmen Asthmaanfällen zu kämpfen hatte. Senta hatte sich wieder aufgerappelt, noch immer wies ihr Gesicht eine ungesunde, nun gelbliche Farbe auf, kraftlos hielt sie sich an der Sessellehne fest und keuchte furchterregend die gerade hereingestürmten Menschen an. Fast war sie wieder auf den Beinen, der Überlebenswille, der sie nun gepackt hatte, scheint auch diesmal wieder zu siegen. Ferry atmete durch, nach und nach fing er sich wieder, er stürmte zur Wasserleitung und spritzte seiner Mutter kaltes Wasser ins Gesicht und freute sich, dass sie sich wieder erholte. Die Nachbarin klopfte ihm auf die Schulter, lobte ihn, fragte Senta nach etwaigen Wünschen, sie verneinte jedoch und bedankte sich. Nachdem sie alleine waren, umarten sie sich, Ferry konnte wieder sprechen und war überaus erleichtert, dass alles wieder gut wurde. Als ob nichts geschehen war, aßen sie die köstliche Bratwurst mit leckeren Bratkartoffen, scharfen Senf und Krautsalat mit großem Appetit.

Der Anlass für Sentas Anfall galt Tanno, er hatte sich in der Arbeit an der Schleifmaschine die linke Hand aufgeschürft ,mit blutüberströmtem Arm kam er nach Hause, wusch sich das Blut ab, legte Zugsalbe an, verband seine Hand dick mit Mull und verschwand in seinem geliebten Wald, an die Stelle, wo er sich sein Lager aus Moos gebaut hatte um dann Ruhe Frieden zu finden.

Sentas Anfälle kamen in unregelmäßigen Abständen, manchmal waren sie so leicht, das sie nur hustete, nach Luft schnappte und nichts weiter geschah. Dann wieder waren sie so schlimm, dass sie am Boden liegend, mit weit aufgerissenem Mund den Tod in die Augen sah. Doch im letzten Moment schien er wieder von der Schippe zu springen, Senta rappelte sich dann langsam wieder auf und bekam wie durch ein Wunder wieder Luft.

Damit lebten sie schon seit Jahren. Die Familie ängstigte sich fast zu Tode, doch Senta schien eine Natur aus Stahl zu haben.

Als Ferry älter wurde begann er viel zu lesen, besorgte sich Romane von namhaften Autoren, berühmten Dichtern und angesagten Schriftstellern. Oft lag er im Bett in der Küche, in den Händen ein Buch, vertieft in den hoch interessanten Inhalt, ließ er sich von niemandem stören. Er verhielt so leise, dass man glauben mochte, er wäre gar nicht anwesend. Ganze Bücherstapel waren am Boden vor dem Bett aufgeschlichtet, einige davon lagen aufgeschlagen vor dem Radio.

Als er sich die Einbände betrachtete, fiel ihm ein Band besonderer Art auf: Den Umschlag zierte ein in Gewändern gehüllter Pater, der Titel lautete, Pater Pio, der Stigmatisierte.

Fast besessen begann er darin zu lesen, fasziniert von seinen Botschaften, Gebeten und wunderbaren Heilungen, die er nur mit der bloßen Hand durch auflegen erzielen konnte. Er legte das Buch nicht mehr aus der Hand. Gefangen von seiner Lehre, keimte in Ferrys Kopf ein Gedanke auf, ein Gedanke der unaufhörlich zu wachsen begann, den er zu verwirklichen anstrebte, den er, koste es was es wolle, in die Tat umsetzen und bis zum Ende durchzuführen beabsichtigte. Er las das Buch mehrere Male durch und gelang zu der Überzeugung, dass dies die Lösung für Sentas schwere Krankheit wäre. Noch jung und kaum von zu Hause je weg gewesen, malte er seine Wünsche mit abenteuerlichen Fantasien farbenfroh an. Es stand fest, nach der Lehre sollte es soweit sein, dann hätte er ein Alter erreicht, wo man ihn nicht mehr ohne weiteres aufhalten konnte. Sollte es sein eigenes Leben kosten, er war besessen von den Gedanken, seine Mutter zu retten und die kostspieligste Hilfe in Anspruch zu nehmen, die niemand sonst in Erwägung zu ziehen gedachte. Schließlich war er belesen, einer, der sich informierte, jemand, der nichts unversucht zu lassen wollte.

Stolz und voller Abenteuerlust, kraftvoll und stark, machte er sich mit dem alten, von seinen Eltern bezahlten Motorrad, frühmorgens auf die Reise.

Senta winkte ihm mit nassen Augen nach, nachdem sie sich heftig umarmt hatten, kein Anfall folgte danach. Seinen Vater rief er ein Grußwort zu, als dieser sich wieder zu seinen Vögeln begab. Vielleicht war dies die letzte Chance, seiner Mutter möglicherweise zu helfen, seine Zuversicht überzeugte beinahe auch sie.

Sie wollte nur eines: Ihren Sohn wohlbehalten wieder umarmen und ihn gesund wieder ankommen zu sehen.

Der Tag begann mit wärmenden Sonnenstrahlen. Voll bepackt fuhr Ferry mit berauschendem Enthusiasmus los. Gestärkt beschleunigte er die Geschwindigkeit, aus dem Auspuff trat eine dunkle Gaswolke. Auf Haupt - und Landstraßen fuhr er durch halb Österreich und hatte nach einem halben Tag die Grenze nach Italien in Tirol ohne ein einziges Mal anzuhalten, erreicht.

Nach der Abfertigung vor dem Zollgebäude am Brenner, gelang er zum ersten Mal auf italienischem Boden. In einem kleinen Bistro in der Nähe von Trento, kaufte er sich eine Pizzaflade, überwältigt von dem Geschmack nach köstlichen Tomaten die knusprig mit Käse überbacken war, ließ er sich es gemütlich schmecken. Nach einer kleinen Pause in einem mit allerlei Blumen angelegten Park, stieg er wieder auf sein Motorrad und brauste in Richtung Süden los. Gegen Abend erreichte er die Lagunenstadt Venedig, die er sich auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Er besichtigte sämtliche Brücken, den berühmten Kanale Grande wo zahlreiche Gondeln mit begeisterten Touristen hindurch zogen. Die zahlreichen Geschäfte ignorierte er so gut es ging, zu verlockend waren die Angebote. Er entdeckte das Cafe „Florian“ und bestellte ein Glas Weißwein und einen Teller Minestrone. Die Nacht brach heran und nun war es an der Zeit, ein Nachtlager zu suchen. Ein Hotel kam nicht in Frage und so beschloss er, die Nacht im Freien zu verbringen. So startete er wieder hinaus aus Venedig und begab sich auf die Suche nach einer ruhigen Stelle, wo er Schlaf finden konnte. So machte er sich auf den Weg Richtung Bologna. Er hielt sich nah an der Ostküste, die Route, die ihn bald nach Foggia bringen sollte, dorthin, wo all seine Hoffnungen hingen. Die erste Nacht verbrachte er in einem Maisfeld, rollte seine Schlafmatratze aus, legte sich müde und abgespannt drauf, als ihm bewusst wurde, das er noch mit keinem Menschen seit seiner Ankunft in Italien, geredet hatte.

Nachtgeräusche von zirpenden Grillen und Autos der entlegenen Straße begleiteten ihn in den Schlaf. Die erste Nacht brachte keine Zwischenfälle, er erwachte im Morgengrauen ausgeruht und voller Elan. Seine Uhr zeigte genau 5 Uhr 30. Ein Blick in seine Geldbörse verriet, dass er haushalten musste um Benzin und Essen, zumindest bis zu seinem Ziel, ausreichen mussten. Oft legte er in Meeresnähe eine entspannende Rast ein, blickte auf die sanften Wellen die seine Seele umschmeichelten, dachte an seine Braut, wie es Franzine wohl aufnehmen würde, an sein Vorhaben an das er verbissen glaubte, wie nichts sonst auf der Welt. Die Tage waren warm und freundlich, nichts sprach dagegen, die Nächte im Freien zu verbringen. Felder, oder die in voller Blüten stehenden Zitronenhaine dienten ihm als Nachtlager. Es hatte nur dreimal geregnet, so suchte er sich sein Quartier in den Warteräumen kleinerer Bahnhöfe, und einmal schlief er unter einer kleinen Brücke in abgelegter Einsamkeit. Menschen die ihm begegneten sahen ihn mit neugierigen Augen an, als ob er gerade aus einem Weltraumschiff gestiegen sei. Er vernahm kein deutsches Wort mehr, nicht so wie in Venedig, wo er Sprachfetzen von Deutschsprechenden Menschen oft aufgeschnappt hatte. Je südlicher er fuhr, desto wärmer wurden die Temperaturen. Es gefiel ihm zusehends, an den Tankstellen wussten die Zapfer sofort Bescheid, als er nur auf sein Motorrad zeigte und Benzin zum Weiterfahren brauchte. Die Lire verflüchtigten sich schnell, für die Heimreise würde nicht mehr viel übrig bleiben. Die nächste größere Stadt war Ancona, fasziniert vom Hafen und Sandstränden hielt er sich einen halben Tag lang dort auf. Die Kathedrale verlockte ihn, andächtig eine Weile darin zu sitzen und mehrere Gebete zu murmeln. Es gab ihm die nötige Kraft, im guten Glauben besichtigte er danach sämtliche Sehenswürdigkeiten der Stadt, den Trajansbogen und schließlich die beeindruckenden Arcaden die diese Stadt zu bieten hatte. Pasta, mit leckeren Saucen stärkten seinen Körper und Sinne, die Menschen begutachteten ihn zwar mit neugierigen Blicken, doch sie kamen freundlich und aufgeschlossen auf ihn zu. Kein Wort war ihm geläufig, doch es war keine Mühe, sich verständlich zu machen. Auf den Speisekarten deutete er das Essen an das er gerne möchte, manche Gerichte kannte er ja schon vorher, die italienische Küche war berühmt für ihre besonders guten Angebote, die schon vor langer Zeit Einzug in die gesamte Welt gehalten hat.

Er nahm den Kompass aus der Tasche, den ihm Tanno als Bub geschenkt hatte, schaute darauf und meinte, dass seine Navigationsfähigkeiten ziemlich gut ausgebildet waren. Ein Verirren war praktisch unmöglich, nicht, das er es ohne Feststellung geschafft hätte, er wollte sich nur vergewissern um zu sehen, wie gut er sich orientieren konnte. So arbeitete er sich gen Süden nach vorne, immer näher an das berühmte Krankenhaus in Foggia, von dem er gelesen und einiges auch schon im Radio gehört hatte. Dass er zwischendurch hungerte und dies nicht mal spürte, tat seinen Kräften keinen Abbruch. Seine Notdurft verrichtete er auf abgelegenen Orten, mitten im Gebüsch irgendeines Waldes oder Fruchtplantage, irgendwelche großen Pflanzenblätter dienten als Klopapier und seine Körperwäsche, die er ausgerüstet mit einer Kernseife an abgelegenen Bächen oder stillen Gewässern vornahm, sorgten, das er nicht nach penetranten Körperschweiß roch, was ihm sehr zuwider war, wenn er auch nur einen Hauch davon wahrnahm.

Das Motorrad tat seinen Dienst, zufrieden fuhr Ferry seinem Ziel immer näher, die Sonne strahlte ihn fast jeden Tag mitten ins Gesicht, der Fahrtwind sorgte für ausgleichende Körpertemperatur. Dann, endlich erblickte er die Tafel, die ihn zufrieden stellend und sehr erleichtert in die Provinz von Foggia brachte. Langsam, um auch nichts zu übersehen, fuhr er in die herrliche Landschaft ein, in das Gebiet, was ihm die ganze Hoffnung und Zuversicht seine ohnehin vorhandenen Kräfte, noch mehr wachsen ließen.

Das große Einganstor war geschlossen. Wahrhaftig, er stand leibhaftig vor den berühmten Krankenhaus Casa Sollievo della Sofferenza in San Giovanni Rontondo. Er war nun da, angekommen, endlich. Das große Gebäude machte ihm etwas Angst, in seinem Heimatort gab es nicht annähernd so einen großen Bau an Häusern. Es war nachmittags und die die Sonne brannte von Himmel, der Asphalt an den Straßen schien dahin zu schmelzen. Nach und nach kamen Menschen an das Tor, es war noch immer geschlossen, kein Laut drang nach vorne. Dahinter war kein Mensch zu sehen, die Parkanlage dahinter versprach mit den vielen Blumen einen herzlichen Empfang. Ferry verstand kein Wort von den Ankömmlingen, sie sprachen meistens italienisch, er vernahm auch englische Worte, die er sogar unterscheiden konnte. Es wurden immer mehr, Frauen Männer, sogar Kinder kamen mit ihren Eltern, manche saßen im Rollstuhl, manche waren stumm und fuchtelten mit ihren Händen herum, auch blinde waren dabei, Kleine und Große. Dann auf einmal hörte Ferry deutsche Wörter von einer Frau, die auf Krücken angehumpelt kam. Gestützt von einem jüngeren Mann, der immer auf sie einredete und pausenlos den Kopf schüttelte. Geduldig half er der Frau auf den Weg zum Tor, stützte sie mit seinen beiden Händen und ließ sie nie aus den Augen. Gehörlose, die mit Gebärdensprache mit ihren Angehörigen sprachen, waren genauso vorhanden, wie Stumme, Blinde, Gelähmte, schwangere Frauen und Menschen, denen man nicht das Geringste ansah, dass sie irgendein Gebrechen hatten. Wahrscheinlich Krebs, oder einen sonstigen Tumor, dachte Ferry, der sich in dieser Meute als Gesündester fast wie ein Schwindler vorkam. Geduldig harrten sie in der heißen Nachmittagssonne vor dem geschlossenen Tor aus. Dann endlich, mit einer braunen, langen Kutte bekleidet, schritt langsam ein Ordensbruder auf das Tor zu. Aufregung machte sich breit, die Menschen gerieten in Aufruhr und rätselten ob der dies sei, das Objekt ihrer Hoffnung, Pater Pio. Er war es nicht, ein demütiger, wie ein im Gebet verharrter Mönch, kam er langsam näher. Das große Tor wurde geöffnet, er nickte grüßend, mit einer Handbewegung orderte der Glaubensmann die Menge an, ihm zu folgen. Nach einer längeren Wanderung durch lange Gänge hielten sie vor einer dunklen, großen Eichentür an. Gruppenweise, jeweils sechs Kranke wurden danach eingelassen. Die Rollstuhlfahrer, sonstige Lahme, Blinde und Gehörlose hatten Vorrang. Die gesünder Aussehenden hatte man als Letzter vorbehalten. Gerade als Ferry mit zwei anderen Männern hoffte, eingelassen zu werden, kam der Mönch wieder heraus und schüttelte den Kopf, gab zu verstehen, dass sie keine Chancen haben jemals zu dem Pater durchgelassen zu werden. Nicht heute, nicht morgen, niemals. Einer der Männer übersetzte die italienisch gesprochenen Worte des Gottesmannes so gut es ihm möglich war. Es half kein Fragen und Betteln, die drei Männer mussten das Krankenhaus wieder verlassen. Niedergeschlagen erreichten sie den Ausgang. Keine Chance…niemals. Die Enttäuschung Ferrys musste sich Luft machen, er schleuderte Steine auf das Tor, dann kamen Carabinieri und sperrten ihn in ein Gefängnisloch. Am nächsten Tag ließ man ihn wieder frei als sie sahen, dass er fast kein Geld bei sich hatte, keinen Alkohol und keine Drogen bei sich trug. Da er Ausländer war und kein Wort italienisch sprach, verloren die Polizisten die Geduld und beförderten ihn mit einem kräftigen Tritt in den Hintern nach draußen. Mit Schimpf und Schande aus dem Gefängnis rausgeschmissen zu werden, passierte nicht alle Tage und Ferry musste sogar grinsen. Sein Motorrad fand er gleich wieder und musste feststellen, das der Tank fast leer war. Etwas Geld war noch vorhanden, doch es reichte niemals bis zur nächsten Ortschaft, geschweige denn bis nach Hause. Also was tun? Er beschloss das Gefährt erst einmal zu schieben, wer weiß, vielleicht hatte jemand Mitgefühl und könnte ihm aus der Patsche helfen. So schob er es eine ganze Weile am Wegesrand dahin, von Müdigkeit übermannt und ziemlich kraftlos, kam er nur sehr langsam vorwärts. Menschen begegneten ihn, riefen ihm lachend nach, er kümmerte sich nicht darum, er verstand sowieso kein Wort. Die Dunkelheit brach herein und so beschloss er, ohne einen Bissen Essen im Bauch, sich ein Nachtlager zu suchen. Es war warm und lau, mit dem Wetter hatte er Glück, ein trockenes Plätzchen in irgendeinem Waldstück oder Weinplantage würde er schon finden.

1969

Mit voller Aufmerksamkeit verfolgte Dorothea die Schilderungen ihrer Schwester. Franzine, die sich die Last von der Seele zu sprechen schien, blieb ruhig und gelassen.

„….als er die Provinz Foggia endlich verließ, besaß er weder Geld noch Kleidung zum wechseln, er entsprach genau der Typ eines Landstreichers, der verzweifelt darum bemüht war, so schnell als möglich wieder nach Hause zu kommen. Viele Nächte im Freien ließen seine Haut austrocknen, an Bächen und Flüssen verrichtete er seine Körperreinigung, meistens schob er das Motorrad, bis ihm eine Idee kam, die er auch umsetzen konnte. Tageweise putzte und polierte er Essbesteck in diversen Restaurants, spülte Geschirr und konnte sich auch mal baden, klammheimlich natürlich, die Inhaber durften nichts davon wissen. Sie sparten an Wasser und Strom, eines Tages kam ein Besitzer dahinter, das Tagesgeld wurde gestrichen und er prügelte sich mit dem kleinen Inhaber einer Imbissbude, der zückte ein Kartoffelmesser und versuchte auf ihn einzustechen. Er wehrte sich ab, indem er die Hände vor das Gesicht hielt um keine Stichwunden im Gesicht abzubekommen, man muss sich vorstellen, der kleine Italiener, mindestens um einen Kopf kleiner als er, versuchte sein Gesicht zu zerschneiden. Nachdem er die Hände des Italieners zu fassen bekam, gab dieser zu seiner Erleichterung auf. Trotzdem, manchmal bekam er auch zu Essen und das Geld, das er ausbezahlt bekommen hatte, ging für das Benzin drauf. In einem weitaus gepflegteren, sauberen Restaurant blieb er fast eine Woche und half auch als Kellner aus, die Trinkgelder verbrauchte er meistens für Benzin, er kaufte weder neue Kleidung noch fiel ihm ein, ein Geschenk für seine Mutter oder mich zu besorgen. Das natürlich war uns beiden egal, Hauptsache er kam zwar völlig desolat, aber ansonsten wieder gesund nach Hause.“

„Also im Eigentlichen wollte er Pater Pio um Hilfe für seine Mutter bitten, ihn fragen, ob er sie zu ihm bringen dürfe.“

„Das hatte er sich fest vorgenommen, doch wie schon erwähnt, nicht mal einen Hauch einer Chance wurde ihm zugestanden, wahrscheinlich war es sein Gesichtsausdruck, den dieser Mönch davon abschreckte ihn durchzulassen, oder er sah zu gesund aus, das haben wir nie erfahren.“

„Welch eine Tortur er sich aufbürdete, was bewirkt dieser Einfluss eines Wunderheilers, der zwar Hoffnung gibt, aber gewissen Menschen es verwehrt wird zu ihm durchzugelangen. Er muss über viel Mut verfügt haben, das muss man ihm zugestehen.

In deinem Brief war zu lesen, dass er anfing dich zu misshandeln, davon will ich alles hören Franzine, dein schlechter psychischer Zustand macht mir ernste Sorgen, reden hilft da sicher am besten. Ich werde noch einen Tag länger bleiben und Bernadette sagen wir morgen noch nichts. Einverstanden?“ Dorothea lächelte.

„Du machst mir die größte Freude die ich in letzter Zeit erfahren habe, danke Dorothea.“ Franzine senkte den Kopf, es war viel mehr an Güte und Verständnis die ihr entgegengebracht wurde, als sie von ihrer Schwester erwartet hatte. Erleichterung, die Last von den Schultern, es fühlte sich wesentlich besser an, gleichzeitig das drückende Gefühl um ihre Tochter.

Vertieft in Franzines Schilderungen vergaßen sie vollkommen die Zeit. Einige Tassen Kaffee ließ keine Müdigkeit aufkommen, das Licht in der Küche schien hell von der Decke, beide Frauen genossen ihr Beisammensein als wäre es das Letzte Mal in ihrem Leben, als gäbe es nicht genügend Zeit auf dieser Welt.

Weit nach Mitternacht, der Morgen wartete schon darauf zu grauen, betraten sie das Schlafzimmer, schläfrig und nun ermüdet, zogen sie ihre Nachthemden an und betrachteten Bernadette, die friedlich in der Bettmitte schlief und stockend atmete.

„Der Kissenbezug ist völlig durchnässt, sieh mal Franzine, genau an Bernadettes Kopf, sieht aus, als ob sie geweint hätte.“ Besorgt beugte sich Dorothea über sie und konnte auch die Rotgeweinten Augen an ihr erkennen.

„Sie wird doch nicht…..“ Franzine überkam ein kalter Schauer, „ ob sie uns belauscht hat, alles gehört hat was wir besprochen haben? O mein Gott….dann weiß sie Bescheid. Ich bin völlig durcheinander….“

„Beruhige dich Franzine, sie schläft jetzt, alles Weitere besprechen wir morgen wenn wir ausgeruht und wieder frisch sind. Bring mir einen neuen Bezug, den hier müssen wir wechseln, es wird alles gut werden.“

Franzines Herz schien zu zerspringen, rieb ihre kalten Hände und seufzte unentwegt.

„Na komm schon Schwester, leg dich hin, nur keine Angst, wir brauchen unseren Schlaf, und Bernadette wird morgen wieder fröhlich aufwachen. Wenn sie Bescheid weiß, dann müssen wir unser Übriges tun, und dann, wird sie es auch verstehen.“ Franzine nickte, schließlich blieb ihr dieser Weg nicht erspart, Dorothea blieb ja noch einen Tag länger, eine Stütze, die sie in diesem Moment mehr denn je brauchte.

Das Licht wurde ausgemacht und schon bald holte sie der Schlaf ein. Ruhig lag Franzine im Bett und dachte an das bevorstehende Gespräch mit Bernadette. Doch schon bald hörte man auch sie leise atmen. Durch die Vorhänge drang ein schwacher Mondenstrahl, ruhig und friedlich schliefen sie bis in den Vormittag hinein.

1963 – 1964

Der Tag stand nun fest, ihre Liebe wurde besiegelt vor Gott und der Welt. Franzine, bereits im 3. Monat schwanger, konnte den Tag kaum erwarten, endlich die Frau von dem Manne zu werden, den sie seit ihrer Schulzeit liebte und achtete. Ferry wandelte sich zu einem besorgten, liebevollen Gefährten, der ständig bedacht war, dass seiner zukünftigen Frau und werdenden Mutter an nichts fehlte. Er beschenkte sie mit köstlichen Pralinen oder ein Glas Heringe, wenn ihr danach gelüstete, trug sie die Treppen hinauf aus Angst, sie könnte stolpern. Franzine, die wieder kräftig und gesund war, wehrte sich zwar, ließ es aber dann geschehen und lachte, schließlich hatte sie keine lebensbedrohende Krankheit erwischt, sondern es wuchs ein kleiner Mensch in ihr, ein Lebewesen, dass Ferry vor Freude fast um den Verstand brachte.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus trafen sie sich wieder täglich. Nach weiteren zwei Monaten hielten sie eines Nachmittags an einem heißen Augustnachmittag Rat. Senta und Tanno besuchten Annelie und Pepp und so saßen sie auf dem metallenen, weißen Bett, liebkosten sich und beschlossen schließlich, dass sie es amtlich bescheinigen lassen wollten. Mit einem kleinen gelben Rosensträußchen flüsterte er ihr den Heiratsantrag ins Ohr. Benommen vor Glück nickte Franzine heftig, weinte vor Freude, umarmte ihn und schrie ein lautes Ja! Dann drückte er sie sanft auf das Kissen, was danach folgte war für sie etwas Neues, etwas, dass sie noch nicht kannte, aber herbeigesehnt hatte. Behutsam nahm er sie, zum ersten Mal, geduldig drang er in sie ein, bewegte sich langsam bis sie nach mehr verlangte. Sie lagen noch lange nebeneinander, eng umschlungen und Franzine wusste, das nun mehr geschehen war als nur die erste Liebe, die sie genossen hatte und die ihr tief im Herzen verankert war.

Der Hochzeitstermin der standesamtlichen Trauung war für den 22.November 1963 an einem Freitag, festgesetzt. Niemand ahnte, dass an diesem Tag etwas geschehen sollte, dass die ganze Welt den Atem anhalten ließ. Glückstrahlend beauftragte Freya eine befreundete Schneiderin Franzines Hochzeitskleid zu entwerfen. Stolz ließ sie das Maßband an ihr herumkreisen, der weiße Stoff aus feinem Atlas und echten Brüsseler Spitzen besorgte Freya von einem reisenden Kaufmann, den sie schon seit Kindertagen kannte. Gut, dass sie ihn telefonisch erreichen konnte, denn er weilte gerade in Paris um neue Kollektionen auszukundschaften. Nach Freyas Kontakten hatten schon viele neugierige Damen gefragt, doch sie gab niemanden auch nur ein Sterbenswörtchen preis, ihr Misstrauen, zu viele von den Frauen könnten in denselben Kleidern auftauchen, ließen sie lieber schweigen.

Franzine blühte förmlich auf, das Bäuchlein war noch nicht zu sehen, doch die Schneiderin ließ mehr Raum auf der Vorderseite, damit das Baby auch bei der Feier schön wachsen kann, wie sie lachend meinte. Es folgten die Anproben und jedes Mal nahm das Kleid schönere Formen an, lang, bis zu den Knöcheln fiel der Stoff sanft und schmeichelnd über Franzines Beine, das Glücksgefühl in ihr war nicht zu beschreiben. Ferry machte ihr klar, dass sie keinen Schleier tragen sollte, ein Kränzchen aus kleinen Rosenblüten sollte ihr Haupt zieren.

Die verhassten Zöpfe gehörten endlich der Vergangenheit an, das lange Haar, nun hochgesteckt zu einer „Bienenkorb“ Frisur, ließ sie an die entzückende Schauspielerin Audrey Hepburn erinnern. Die schmale Figur, oft in geblümten Kleidern und Stoffhosen mit dazupassender Hose eingekleidet, wurde dadurch dezent betont.

Freyas Bedenken ließen nach, kam Ferry mit Freundlichkeit entgegen und gab ihm zu verstehen, dass sie ihre Tochter in guten Händen und glücklich sehen wollte. Seine Argumente waren plausibel, das Strahlen in Franzines Gesicht überzeugte sie, freute sich mit ihrer Tochter und unternahm alles um sie auch gut auszustatten. Ein neuer Lebensabschnitt begann, doch Franzine verlor kein Wort über ihre Schwester, dachte nicht im Entferntesten daran, sich bei ihr zu melden oder gar einzuladen. Dorothea war ausgeblendet, sie war einfach nicht mehr da. Freya verlor kein Wort darüber, obwohl es in ihrem Herzen schmerzte, hielt sie es für das Beste, das Thema nicht anzuschneiden. Doch die Hoffnung blieb, wusste insgeheim, das sich die beiden Schwestern eines Tages wieder versöhnen würden.

Der Tag rückte näher, die Einladungen waren abgeschickt, ehemalige Schulfreundinnen von Franzine sagten mit Begeisterung zu, Verwandte, die es kaum fassen konnten, haben ihr Kommen bestätigt, gut gesinnte Nachbarn, die für die Hochzeit gesammelt hatten um Franzine mit einem Geschenk zu überraschen, freuten sich ebenso.

Ferrys Freundeskreis war klein, lediglich drei von seinen Bekannten würden bei der Trauung anwesend sein, seine Eltern und die übrig gebliebene Verwandtschaft, die aus Annelie, Pepp und Thorsten bestand, werden der Zeremonie beiwohnen.

Der Trauungssaal im örtlichen Standesamt an diesem Freitag den 22. November 1963 füllte sich, Menschen, die sich ihre beste Kleidung herausgeholt hatten, standen andächtig in den hinteren Reihen und lauschten der Rede des Standesbeamten, der mit viel Bedacht zwei Menschen für immer vereinte. Senta zog ein Taschentuch aus ihrem Kostüm und tupfte sich die Augen ab, die Tränen konnte sie kaum verbergen. Auch Annelie hielt sich ein Taschentuch an ihre Augen, Thorsten stand mit finsterem Gesicht neben seiner Mutter, Pepp hielt sich im Hintergrund und zog den Platz neben der Türe vor. Freya lächelte, doch auch sie kämpfte mit den Tränen der Rührung. Tanno räusperte sich, auch ihm ging es nahe, dass sein Sohn nun einen Lebensweg einschlug, der mehr Ernst erforderte, Verantwortung und Aufgabe.

Die Ringe wurden an die Finger gestreift, behutsam, mit dem ewigen Gefühl der Zusammenhörigkeit. Ein leises Schluchzen drang durch den Saal. Ein Kuss folgte, beide Brautleute erlebten den Moment der unvergänglichen Liebe. Danach folgte die Unterschrift, die Franzine mit vollem Stolz und neuen Nachnamen glücklich in das Buch schrieb. Beide Trauzeugen, Sabrina bei Franzine, Tanno bei Ferry, setzten ebenfalls ihre Namen hinein. Franzine Tennenbach, Ferdinand Tennenbach, eine Besiegelung fürs ganze Leben.

Die Tafel im besten Restaurant des Ortes war majestätisch geschmückt. Blumengestecke, die nur eine Fachkraft in derartiger Ausführung zustande brachte, waren über die beiden langen Tische gelegt, das Gedeck für jeden Gast peinlich genau aufgereiht.

Für die Feier war eine Musikgruppe engagiert worden, die flotte Schlager und populäre Hits nachspielen konnte. Vier Mann, die mit ihren Instrumenten umzugehen verstanden. Gitarre, Bass, Schlagzeug und Pianino, die kleine Bühne war vor der Tafel aufgebaut, die Instrumente standen noch verlassen darauf und warteten schon auf die Klänge, die sie bald von sich gaben.

Das Hochzeitsessen wurde aufgetragen, Griesnockerlsuppe, Rinderbraten mit allerlei Beilagen, Kuchen, Torte und Kekse wurde in die Tischmitte platziert, jeder konnte sich so viel er nur wollte, bedienen, die Stimmung stieg stetig an, Tanno erzählte lustige Anekdoten und die Runde brüllte vor Lachen. Franzine aß mit Appetit, zwar nur eine kleine Menge, doch sie dachte an das Baby, das in ihr heranwuchs, auf ihr Kind, dessen Geburt sie kaum noch erwarten konnte. Keinen Gedanken verschwendete sie an die bevorstehenden Schmerzen, die Natur wird schon wissen, was sie tut.

Die Musiker stürmten auf die Bühne und beglückwünschten das Brautpaar aus vollem Herzen. Ausgelassen spielten sie flotte Gassenhauer Schlag auf Schlag, das Brautpaar eröffnete den ersten Tanz, die Saalmitte füllte sich mit tanzenden Menschen, alle waren glücklich, fröhlich und zufrieden. Die Geschenke wurden ausgepackt und Franzine freute sich über das kostbare Tafelbesteck, das ihr Freya als Ausstattung mitbrachte. Nach und nach kamen ein Rumtopf, Kochbücher, Kaffeeservice, echtes Porzellangeschirr, Bücher von namhaften Autoren und Damastbettwäsche zum Vorschein. Glücklich strahlte Franzine aus ihr heraus, Ferry umarmte sie, küsste sie und zog sie wieder auf die Tanzfläche wo sie einen neuen Tanz ausprobierten. Twist, der unter den jungen Leuten großen Anklang fand und überall nachgeahmt wurde, sogar zu Hause vor dem Radio, übten sie den populären Wackeltanz wirbelnd auf dem Tanzboden.

Die Feier wurde jäh unterbrochen. Die Band verstummte mitten in einem flotten Musikstück. Der Wirt stürmte aufgeregt auf die kleine Bühne. Überrascht starrten die Feiernden in sein erregtes Gesicht, die tanzende Menge hielt inne, nicht ahnend, was gerade in einem anderen Erdteil geschehen war. Der Wirt suchte nach Worten, griff sich schließlich das Mikrophon und sagte mit bebender Stimme: „ Entschuldigt Leute, ich muss diese wunderbare Hochzeitsfeier unterbrechen, etwas Schreckliches, Unfassbares ist passiert. Eben gaben sie im Rundfunk durch, dass John Fitzgerald Kennedy erschossen worden ist. Ich habe gleich das Fernsehen eingeschaltet, die Sondersendung sendet schon Bilder aus Dallas. Falls jemand möchte…nebenan steht das TV Gerät….“ Er sprach gebrochen, der Schock saß ihm tief in den Gliedern.

Betroffenheit machte sich unter den Gästen bemerkbar. Franzine fiel in Ferrys Arme und schluchzte, er stützte sie und schüttelte sprachlos den Kopf. Zusammen mit einigen Gästen gingen sie in den Nebenraum um das Attentat auf den US - Präsidenten zu verfolgen. Fröhlich, mit seiner Frau Jackie, winkte er aus dem weißen Cadillac in die Menschenmenge, bis er plötzlich, in sich sackend, in dem offenen Auto nach vorne fiel. Mit offenem Mund standen die Gäste im Raum, konnten nicht fassen, dass dies nun vor einigen Minuten geschehen war. Dieses jähe Ende eines der besten Politikers die es je gegeben hat, begriffen wohl die wenigsten Menschen auf diesem Erdball. Es durfte einfach nicht sein! Doch die Bilder sprachen die brutale Wirklichkeit, Entsetzen und Schmerz bemerkte man nicht nur bei den Menschen ringsum, auch die Moderatoren fassten ihre Worte in Ergriffenheit. Die gesamte Menschheit sollte sich für immer daran erinnern.

Die Feier dauerte bis tief in die Nacht, der graue Schleier der Trübseeligkeit hing über ihren Häuptern. Eines der wärmsten Novembertage der letzten Jahre neigte sich dem Ende zu.

Franzine war nun als glückliche, gehorsame Ehefrau zu den Tennenbachs gezogen. Gleich am nächsten Tag, nachdem sie eine romantische Hochzeitsnacht genossen, lange geschlafen und sich ausgeruht hatten, holte sie ihre Sachen von zu Hause ab. Die Geschenke der Brautleute wurde schon in die Wohnung der Tennenbachs gebracht und wurden im Flur abgestellt. Freya, die mit unglücklichem Gesicht ihrer Tochter beim Packen half, konnte nicht begreifen, dass sie ihr nun erwachsenes Kind an diesem Mann verloren hatte. Sie begleitete die frisch gebackene Ehefrau noch ein Stück, die kleine Reisetasche war nicht all zu schwer und Freya bot sich an, beim Tragen behilflich zu sein. Stumm schritten sie die Straße entlang, die Bushaltestelle lag nicht mehr in weiter Entfernung.

„ Bitte Mama, mach nicht solch ein bekümmertes Gesicht, die paar Kilometer die uns trennen bedeuten nicht, dass ich mit Ferry am Mond leben werde.“ Franzine verschwieg ihrer Mutter bewusst, das Ferry sie mit dem Motorrad abholen kommen wollte, Freya bekam jedenfalls ängstliche Zustände wenn sie auch nur ein Motorrad an ihr vorbei brausen sah.

„ Es ist nun so leer zu Hause, jedes Mal, wenn ich von den Gesangsstunden heimkommen werde, werde ich dein oftmals mürrisches Gesicht vermissen, ich weiß, die Zöpfe waren dir das schlimmste Gräuel dass ich dir auferlegt habe, aber ich wusste mir keinen anderen Rat, deine Schwester…..“ Zum ersten Mal nach langer Zeit versuchte Freya wieder über Dorothea zu sprechen. Franzine wandte den Kopf ab und tat so, als hätte sie es nicht gehört.

„ Nun, je früher du dich daran gewöhnst, umso besser, Mama, ich werde dich besuchen so oft ich kann“, Franzine hielt inne und stellte ihre Tasche ab. „ Ich weiß, dass es nicht das Günstigste ist mit seinen Schwiegereltern zusammenzuwohnen, aber es wird schon gehen, die Küche ist der größte Raum in der Wohnung, wir werden anfangs in dem weißen Bett schlafen, wir haben genügend Platz, mach dir da mal keine Sorgen. Wenn das Baby da ist, werden wir schon längst was gefunden haben.“ Freya nickte traurig.

„ Ist mir ohnehin lieber, ihr besucht mich, als dass ich zu euch rüberpendeln muss, oder, wenn du es dir einrichten kannst, auch mal alleine bei mir auftauchst, ich bin immer für dich da.“

„ Keine Sorge, es wird alles fantastisch werden, denke nicht zu viel darüber nach, mach es dir nicht so schwer, alles ist doch in bester Ordnung.“ Franzine, voller Optimismus und Freude nahm wieder ihre Tasche die ihr Freya wieder abnehmen wollte, sie sich aber weigerte und neugierig die Straße nach oben und nach unten abguckte.

Dann kam der Abschied, Franzine meinte, dass sie auch alleine auf den Bus warten könne. Auch Freya war zu der Überzeugung gelangt, das es besser wäre, nicht zur Busstation mitzukommen, das Warten an dieser Stelle würde nur noch mehr Schmerz bedeuten. Doch Freyas Bedenken stellten sich in dieser Minute als umsonst heraus, ein lautes Motorengeheul durchbrach die Luft. Ferry brauste heran um seine Braut am vereinbarten Treffpunkt abzuholen. Franzine winkte ihm heftig entgegen, er verlangsamte sein Tempo und blieb einige Schritte von den beiden Frauen entfernt, stehen. Freya war nicht glücklich über diese unvorhergesehene Überraschung, war sie doch in dem Glauben, Franzine würde bald im sicheren Bus sitzen die paar Stationen ruhig und bequem in ihren neuen Wohnort fahren. Dorthin, wo sie nun hingehörte, zusammen mit ihm, Ferry, der ihr noch immer ein unbehagliches Gefühl bereitete.

„ Auf Wiedersehen mein Kind, werde glücklich mit ihm“, schluchzte sie und drückte Franzine fest an sich. Ferry verfolgte lächelnd die Abschiedsszene, lehnte lässig am Motorrad und kaute an einem Zahnstocher. Zaghaft winkte sie ihm zu, was er ebenfalls zaghaft erwiderte.

„ Ich bin doch nicht aus der Welt Mama, wir werden uns sehr oft sehen, wir sind ja nicht weit von einander entfernt, das weißt du doch, komm, lächle wieder, bald bist du Großmutter“, glücklich drehte sich Franzine zu ihrem Mann um und strahlte aus vollen Zügen. Ferry grinste und wartete geduldig auf seine Frau, die nun für immer zu ihm gehören sollte. Eine riesige Staubwolke wirbelte hoch, als Ferry mit Franzine Richtung Jungberg losfuhr. Einige Kinder, die mit ihren Eltern an der entfernten Haltestelle warteten, winkten lachend dem Paar nach. Freya hustete stark als die aufwirbelnde Staubwolke in ihr Gesicht wehte, sah den Liebenden noch hinterher und drehte sich dann um, um sich gedankenverloren wieder auf den Heimweg zu begeben.

Sobald machte sich Franzine an die Arbeit, die Geschenke müssen noch sortiert und untergebracht werden, ordentlich verstaut in der kleinen Wohnung, wo sie nun mit ihren Schwiegereltern und ihrem frisch angetrauten Mann ihr Leben neu und voller Glück entgegensah. Fröhlich öffnete sie die noch original verpackten Schachteln, stellte alles neben sich auf den Boden und bemerkte Senta hinter sich, die ihr mit neugieriger Miene über die Schultern blickte. Neuen Hausrat, mit viel Liebe eingepackt, hatte sie wohl schon seit vielen Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Senta zeigte ihr das Schlafzimmer, wo sie mit Tanno ihre Nächte und auch ihre Tage verbrachte. Franzine bekam 3 Fächer in einem Schrank zugewiesen der zwar nach abgestandenen Schweiß und altem Lack roch, ihr aber nicht viel ausmachte. Liebevoll legte sie die Sachen in die Fächer, hängte ihr Brautkleid sanft auf einem der abgenutzten Kleiderbügel, strich langsam über den weichen Stoff und lächelte zufrieden. Ferry war unten bei seinem Motorrad und versuchte seinem Fahrzeug ein schnelleres Tempo zu verleihen. Er frisierte sein Gefährt mit neuem Motor und schwungvoll gebogener Lenkstange, die nötigen Bestandteile dazu bekam er billig von einem Bekannten, der an einer Tankstelle zu vierzig Prozent Miteigentümer war. Kurz blickte sie aus dem Fenster und ihr Gesicht leuchtete voller Glücksseligkeit. Ihr Ehemann, der vertieft an seinem Motorrad bastelte, gab ein erotisches Bild ab. Mit seinem mit Motoröl verschmierten Overall, gebückt an den Rädern hantierend, mit Schraubenschlüsseln umherwerkend, wirkte er konzentriert in seine Arbeit, ernst bei der Sache. Das mochte sie und verfolgte seine Bewegungen einige Sekunden lang, genoss es, ihn leben zu sehen, ihn dann in die Arme zu schließen und ihn zu lieben, mit all ihrem Herzen und mit ihrem gesamten, geschmeidigen Körper.

Die erste Woche bei den Tennenbachs war nun glücklich überstanden, das Familienleben nahm seinen Lauf und Franzine genoss ihre Schwangerschaft in vollen Zügen.

Tanno zögerte nicht lange, als sie ihn darum bat, ein Bücherregal anzufertigen, denn sie empfand es als störend, dass die zahllosen Bücher vor und unter dem Bett herumlagen in denen Ferry oft wühlte und las. Nach der Arbeit begab sich ihr Schwiegervater gut gelaunt in den Schuppen gegenüber und sägte und schliff mit einer Hingabe, die sogar Senta in überraschendes Staunen versetzte. Nach ein paar Stunden präsentierte er ihr sein vollbrachtes Werk. Sorgfältig zugeschnittene Kieferholzbretter, in die Tanno mit einem alten Bunsenbrenner, laienhafte Intarsien gebrannt hatte. Blumenmotive überquerten die Mitte des Brettes, an den Rändern fügte er Wellen, Kreise und Quadrate ein. Freudig bedankte sich Franzine bei Tanno mit angehauchten Küsschen an seinen beiden mit tiefen Furchen durchzogenen Wangen. Die traurigen Heiligenbilder über dem Bett wurden abgenommen und Tanno befestigte das Regal an dieser Stelle. Ferry wollte nicht auf seine Bilder verzichten, so sollten sie über dem Kopfteil des Bettes angebracht werden. Franzine erklärte sich einverstanden, so hatte sie den todesnahen Jesus nicht in ihrem Blickfeld wenn sie mit Ferry im Bett lag. Im Freudentaumel richtete Franzine die Ecke ein, die für sie und Ferry ein kleines Paradies bedeuten sollte. Eine neue lila Tagesdecke, mit zahllosen Rüschen wurde über das Metallbett geworfen, schlichtete sorgfältig die Bücher auf das Regal, auch den Band von Kleist, „Michael Kohlhaas“, dass ihr Ferry geschenkt hatte, stellte sie neben den anderen Autoren in Griffweite. Bald würde sie die Zeit haben, um es endlich zu lesen, schließlich schwärmte Ferry förmlich von diesen mörderischen Helden. An den freien Plätzen neben den Büchern fanden kleine Blumenvasen ihren Platz, oder schön gestaltete Porzellanfiguren von zu Hause, die ihr Freya oftmals zum Geburtstag schenkte. Das Plastiktischtuch am Tisch neben dem Bett musste einer schön gemusterten Damastdecke weichen, das Radio bekam einen „Kopfschmuck“, das aus einem Gesteck mit edlen getrockneten Gräsern bestand. So allmählich stach die kleine Schlafecke wie eine blühende Oase hervor, liebevoll gestaltet, hatte sie keine Ähnlichkeit mehr mit der übrigen Küche. Franzine drapierte zierliche farbenfrohe Kissen entlang des Bettes, schüttelte sie immer wieder auf und reihte sie dann wieder aneinander. Dann rollte sie den abgetretenen Fleckerlteppich auf und bereitete einen Selbstgeknüpften mit farbenfrohen Blumenmotiven Schurwollteppich aus, den sie in der letzten Klasse mit viel Mühe angefertigt hatte. Sie riss das Fenster auf und warf den alten in den Hof hinunter. Dabei bemerkte sie anfangs nicht, dass Senta, während sie am Herd stand, die Hände in die Hüften stemmte und ihr feindselige Blicke zuwarf, die Mundwinkel nach unten gezogen, den Kopf schüttelnd wieder den Kochlöffel schnappte und im Suppentopf rührte.

„Warum hast du den Teppich runter geworfen, die Nachbarn haben es nicht gerne wenn ihnen der Staub durch das Fenster reinkommt.“ Franzine, die verwundert ihre Schwiegermutter betrachtete, ließ sich durch Sentas barschen Tonfall nicht entmutigen.

„Du siehst doch selbst, dass dieser hier weit schöner ist und viel besser vor dem Bett zur Geltung kommt. Vielleicht haben die Nachbarn ihre Fenster geschlossen, dann gibt es keinen Staub in den unteren Wohnungen. Ich werde das alte Ding zum Müllplatz bringen, außerdem hätte ich ihn nicht mehr sauber bekommen, nur keine Aufregung, liebe Schwiegermutter.“ Das wurmte Senta, beschämend musste sie feststellen, dass die junge Frau ihres Sohnes viel an gutem Geschmack zu bieten hatte. Schmollend rührte sie weiter um und schenkte Franzine keinen weiteren Blick. Es roch herrlich nach Gulaschsuppe die Senta schon am Morgen zubereitet und abgeschmeckt hatte.

Ferry hatte versprochen, dass er sich nach einer Arbeit umsehen werde, schließlich sieht er Vaterfreuden entgegen, ein gänzlich neues, ungewohntes Gefühl das ihn ständig überlief, brachte ihm auch den ansonsten unbekannten Verantwortungsbewusstseinsinstinkt ein. Natürlich schlug ihm Tanno das Stahl – oder Kabelwerk vor, das in unmittelbarer Nähe liegt und zwischendurch Leute suchte, wenn die Aufträge an besonderen Tagen in Massen einströmten. Beide Werke liefen gut und beschäftigten die Männer und auch einen gewissen Prozentsatz an Frauen der zwei nebeneinander liegenden Ortschaften.

„Ich überlege es mir noch“, wich Ferry aus, „mir schwebt eine Tischlerwerkstatt vor, eine, die mit ganz besonderen Hölzern umzugehen versteht. Du weißt schon was ich meine, die seltene Möbel aus bestimmtem Wurzelholz herstellen. Hierzulande ist das leider nicht zu finden, aber wer weiß, ich werde mich mal umhören.“

Die Familie saß bei Tisch und löffelte Sentas köstliche Gulaschsuppe. Tanno zuckte mit den Schultern und biss in ein Stück Graubrot. Franzine, die wegen des Babys eine einfache Karottencremesuppe mit Brot aß, fand Ferrys Idee umwerfend.

„Dieses Tal ist ja nicht so klein wie es vielleicht aus der Bahn oder aus dem Auto aussieht, außerdem haben wir hier zwei größere Städte mit kleinen und größeren Tischlerwerkstätten, da würdest du bestimmt erfahren wo sie diese besonderen Teile machen. Du hast Talent Schatz, du könntest auch als Zweirad – Frisierer gutes Geld machen.“ Franzine lachte und schlang ihren Arm um Ferry. Senta stand auf und räumte den Tisch ab, Tanno holte sich aus der Speisekammer noch eine Flasche Bier, köpfte sie und nahm kräftige Züge daraus. Der Vogelgesang übertönte die leise Musik aus dem alten Radio. Die Schwiegereltern zogen sich in ihr Schlafzimmer zurück, Franzine und Ferry machten es sich in ihrem gemütlich hergerichteten Bett bequem. Es war ein Nebeldurchtränkter Freitagnachmittag Ende November, der allseits beliebte Melodienreigen wurde im Radio übertragen, die Vorhänge wurden zugezogen, einige Kerzen angezündet, das junge Ehepaar Tennenbach, eng aneinandergeschmiegt, schmiedete liegend ihre Zukunftspläne.

Am frühen Abend kam Annelie zur Tür herein gestürzt, hielt sich beide Hände an die Brust und stöhnte laut auf. Franzine und Ferry fuhren vom Bett hoch, Tanno und Senta kamen aus ihrem Schlafzimmer gerannt. Unwillkürlich tastete Annelie an den Lichtschalter und knipste die Deckenlampe an. Überrascht blickten ihr vier Augenpaare mitten ins Gesicht und konnten sich nicht erklären, warum sie so überstürzt und sichtlich in Aufregung, ohne anzuklopfen in die Wohnung brauste. Sie blickte sich kurz um….ihr Ausdruck im Gesicht verhieß nichts Gutes, angeregt schöpfte sie nach Luft.

„Was ist los Annelie“, rief Senta im ersten Augenblick, „ ist was mit Pepp?“ Annelie schüttelte den Kopf, setzte sich an einem der Stühle und atmete schwer.

„Sie haben ihn zurückgestellt….ja das haben sie getan…“ Annelie schnäuzte sich in ein umhäkeltes Taschentuch und schluchzte laut auf.

„Wen, was zurückgestellt, was meinst du?“ fragte Ferry als er sich aus dem Bett erhob und Franzine deutete, liegen zu bleiben. Annelie sah auf, fing sich allmählich wieder und verstaute ihr Taschentuch in ihrer Krokodilhandtasche.

„Ich musste nach einem Anruf von der Schulverwaltung Thorsten aus der ersten Klasse abholen, sie meinten, er wäre noch nicht reif dazu, und das ausgerechnet jetzt, nach über zwei Monaten erste Schulstufe, sie meinten, er könne nicht mal einen runden Kreis ziehen, die Kreise wären oval….meinten sie..“ Annelie weinte, sie war völlig außer sich.

„Ich verstehe nicht“, meinte Senta, die sich an Tanno angelehnt hatte und die Aufregung von ihrer ersten Schwiegertochter nicht nachvollziehen konnte. Seit Mitte September ist der Schulbetrieb wieder aufgenommen worden und viele Erstklässler stolzierten brünstig mit ihren Müttern und brandneuer Schultasche in Richtung Schulhaus, einige sogar mit Schultüten, die randvoll mit Süßigkeiten voll gestopft waren. Auch Thorsten bekam extra eine Riesentüte mit all seinen Lieblingsnaschereien. Doch die Lehrer waren anderer Meinung, all die Bemühungen die sie aufbrachten um ihren Sohn auch nur einen runden Kreis beizubringen, scheiterten kläglich. Thorsten malte nur Ovale in sein Schulheft und brach seinen Bleistift entzwei, als ihm die Geduld riss und aggressiv die Blätter in seinem Heft zusammenballte. Während der Rest der Klasse bereits die ersten Buchstaben beherrschten, konnte Thorsten noch kein großes A schreiben. Die Schulleitung teilte Annelie schonend mit, dass er mindestens noch ein Jahr warten müsse, um in die erste Schulstufe eintreten zu können und dann auch die nötige Reife mitbringen würde.

„Sie sagten mir, dass sie so einen stillen Jungen noch niemals in ihrer Klasse beobachtet hätten, und sie beobachteten auch, als zwei von diesen Dorfrüpeln hier, Thorsten ins Gesicht schlugen, er aber keinen Laut von sich gab, nicht einmal einen Funken von Gegenwehr hätte er unternommen.“ Annelie saß zusammengesunken auf dem Stuhl, ihre Augen wiesen Verzweiflung und Trostlosigkeit auf, die ganze Situation nahm sie so mit, dass sie nicht einmal aufstehen hätte können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Ferry drehte sich weg, ihn schien Annelies Tragödie nicht sonderlich zu überraschen. Franzine, die nun aufgestanden war und wunderlich ihre Schilderung aufnahm, fühlte plötzlich Mitgefühl für ihre Schwägerin.

„Thorsten wurde ins Gesicht geschlagen? Warum um Himmels Willen haben die das getan? Die Schulleitung ließ es einfach zu?“ Franzine konnte das Verhalten dieser Lehrpersonen nicht begreifen.

„Erst danach wurde ihnen eine Strafe aufgebrummt, nachdem sie zum Direktor mussten. Nachsitzen und Strafarbeiten, die sie nur lachend und spottend entgegennahmen. Die beiden Jungs waren um einiges älter und mindestens zwei Klassen über ihm. Darum ging es nicht, das Verhalten meines Sohnes begutachteten sie als abnormes Benehmen eines mündigen Schülers. Was hätte er tun sollen, einfach zurückschlagen und sich mit diesen Rüpeln prügeln, dazu ist er zu schüchtern, wenn er es getan hätte, vielleicht wären sie dann anderer Meinung gewesen und hätten Thorsten weiterhin in die Schule gehen lassen.“ Wieder holte Annelie ihr Taschentuch aus der Tasche und betupfte sich das Gesicht.

„Diesen Vorfall musst du vergessen Annelie“, meinte Franzine, „in einem Jahr sieht die Sache ganz anders aus, dann schickst du Thorsten wieder hin und er wird alle übertrumpfen.“

Doch ganz sicher war sie sich nicht. Zu gut war ihr die Erinnerung geblieben, als sie ihn damals in Annelies Haus angetroffen hatte. Als wäre er in einer anderen Dimension, als ob er seine Umgebung nicht wahrnehmen würde.

„Du hast Recht, ich werde darüber nachdenken….“

„Ist wohl besser so“, sagte Tanno und verzog sich wieder ins Schlafzimmer zurück.

„Thorsten wird es schaffen, er ist ein kluger Kopf“, sagte Senta besänftigend, „reg dich nicht auf, das wird schon.“ Annelie nickte. Ferry strich sich mit beiden Händen übers Gesicht, ihm nur all zu bewusst, das dieser Junge irgendwann auf der Strecke bleiben würde. Er verlor niemals ein Wort darüber als Thorsten schon im zarten Kleinkindalter zu ruhig und aphatisch in der Gehschule saß und kaum seine Plüschtiere beachtete. Er saß nur da, weinte nur wenn er Hunger hatte und war schwer zugänglich bei Annelies Zärtlichkeiten die sie ihm im Übermaß schenkte. Kein einziges Mal fiel ihr auf, dass der kleine Junge teilnahmslos alles über sich ergehen lies. Niemand verlor je ein Wort darüber, Annelies Mutterliebe sollte nicht getrübt werden.

„Pepp hat nur den Kopf geschüttelt, hat weiter nichts dazu gesagt, und nun lastet alles auf mir. Gut, ich werde ihn eben dieses Schuljahr noch zu Hause lassen, dass ausgerechnet ich diese schreckliche Erfahrung durchmachen muss, es war so demütigend als ich ihn abholte, die vielen Gesichter die uns aus den Fenstern nachstarrten…schrecklich.“ Annelies Gesicht war bleich und voller Seelenschmerz, sie zitterte und trank den süßen Apfelsaft den ihr Franzine hinstellte in einem Zug aus.

„Bitte Ferry, bring mich nach Hause, ich bin den ganzen Weg zu Fuß gelaufen, ich habe keine Kraft mehr.“

„Selbstverständlich“, meinte er, „ ich ziehe mir noch was anderes an, heute wird es schneller gehen, hab mein Motorrad aufgefrischt, also halte dich fest an mich an.“ Er verschwand im Schlafzimmer der Eltern und zog sich um.

„Das wird eine grausame Nacht werden“, schluchzte Annelie“, „ich werde ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Instinktiv wollte Franzine den Kopf schütteln, unterließ es aber und sagte stattdessen: „Das wird ihm gefallen, bei dir fühlt er sich geborgen, er weiß, dass du ihn sehr lieb hast.“ Fast war sie überrascht von ihren eben gesprochenen Worten, denn ihr Verstand sagte ihr, dass dies genau in die falsche Richtung führte.

Ferry kam aus dem Zimmer und überreichte Annelie seine Raulederjacke.

„Zieh das an, es wird frostig werden bei den Gegenwind.“

Wortlos streifte sie die Jacke über, umarmte Franzine und Senta, verabschiedete sich dankend und ging mit Ferry nach unten.

„Du weißt was mit Thorsten los ist, nicht wahr, du hast es schon längst bemerkt“, fragte Senta mit einem Anflug von Scham.

„Nein, ich weiß es nicht, er kam mir nur sonderbar still vor und etwas abweisend, aber nicht dumm, falls du das meinst.“ Sie hoffte, dass sie das Richtige gesagt hatte.

„Er ist völlig zurückgeblieben, es gibt fast keine geistige Entwicklung bei ihm, aber Annelie merkt es nicht, verhätschelt den Jungen als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Wir lassen sie in dem Glauben, dass sie das Richtige tut.“

Und somit wird ihm jede Hilfe verweigert, dachte Franzine und hielt es für besser, Senta Recht zu geben. Vielleicht findet sie in naher Zukunft den richtigen Zeitpunkt, einen möglichen Zugang in Annelie’s Seele, der es ihr ermöglicht, die ganze Situation objektiver zu betrachten, sie aufzurütteln und ihr zu verstehen geben, welche Möglichkeiten ihrem Sohn zur Verfügung stehen.

Als sie später zusammen im Bett lagen, fiel Franzine Ferrys Unruhe auf. Er konnte sich kaum beruhigen, bewegte die Beine ständig unter der Decke und atmete schnell.

„Kannst du keine Ruhe finden Schatz, was hast du?“ fragte sie zögernd und drehte sich zu ihm hin.

„Ich habe noch niemals so eine dumme Kuh wie meine Schwägerin gesehen“, gestand er ihr mit aufkommenden Zorn, „schon als Pepp sie zum Ersten Mal zu uns nach Hause mitbrachte, konnte ich ihre Einfälltigkeit kaum ertragen. Nun, mein Bruder ist auch nicht gerade der Hellste, aber das hätte ich nicht von ihm erwartet.“ Er lag nun auf den Rücken, die Hände über den Kopf verschränkt und starrte zur Decke empor.

„Du solltest nicht so von deinen Verwandten sprechen“, sagte Franzine erschrocken, „ich finde beide sehr nett und dein Bruder malt wundervolle Bilder, ich habe sie gesehen, sie sind einmalig.“

„Das ist auch das einzige Talent was er besitzt, nicht mal verkaufen kann er seine – ja ich muss zugeben – wohl gut gelungenen Ölgemälde, lieber verschenkt er sie...ich kann ihn diesbezüglich nicht verstehen, er könnte doch verdienen dabei.“

„Man müsste ihn mal aufmerksam machen das darin viel Arbeit steckt, auch das Material ist nicht gerade billig stelle ich mir vor, ich werde einmal mit ihm reden, vielleicht kann ich was erreichen bei ihm, und bei Annelie auch.“

„Sagenhaft, wie diese Frau beinander ist, hattest du schon Gelegenheit Fotos von Thorsten als Kleinkind zu sehen? Als Einjähriger, Zweijähriger oder Dreijähriger, sie weisen nur eines auf: Das Kind hat bei jedem Bild den Mund offen, so als ob er seine Sinne nicht beisammen hätte, ob zusammen mit den Eltern oder alleine, die Kinnlade ist stets nach unten geklappt, er lacht auch nie, er setzt einen Blick auf, als ob er in die weite Ferne sehen würde, aber der Mund ist immer einen Spalt offen.“

„Nein, ich habe noch keine Bilder von ihm gesehen“, meinte Franzine und spürte Ferrys warme Hand an ihrem leicht gewölbten Bauch.

„Unser Kleines, es wird bestimmt ein Junge, er wird froh und lebenslustig auf die Welt kommen, wissbegierig alles in sich aufsaugen und sicher ein guter Sportler werden. Natürlich das gescheiteste Kind in seiner Klasse, das spüre ich jetzt schon.“ Frohgemut schweiften ihre Gedanken in die Zukunft, ein glückliches Familienleben mit mindestens zwei Kindern, schwebte farbenfroh vor ihrem geistigen Auge, mit allerlei Haustieren und vielleicht sogar einen eigenen Weinkeller.

„Manuel, ein wunderschöner Name für einen Jungen, meinst du nicht?“ Da war es wieder, sein Bild, nur kurz, von ihrer ersten großen Liebe, die sie nie erfahren durfte.

„Bernadette“, sagte Ferry plötzlich, „unsere Tochter wird den Namen Bernadette tragen, nach Bernadette Soubirous, nach dem Mädchen, die mehrere Male die Wunder erlebte, dass ihr die heilige Maria, die Mutter Gottes, erschienen ist. Sie muss ein göttliches Geschöpf gewesen sein, meine Bewunderung für sie kennt keine Grenzen.“

Franzines Lächeln erstarrte, damit hatte sie nicht gerechnet, hielt es aber für das Beste, nichts darauf zu erwidern.

„Gute Nacht“, sagte sie leise, „schlafen wir lieber, ich höre Tanno schon schnarchen,…arme Senta.“

„Schlaf schön, wir sehen uns morgen wieder…in die Augen“, sagte Ferry, drehte sich auf die andere Seite und war in wenigen Minuten eingeschlafen.

Die Einfachheit dieser armen französischen Müllerstochter faszinierte Ferry, nicht oft redete er von ihr, doch Franzine wusste, dass sie ungebrochenen Einfluss auf ihn ausübte. Genauso wie bei Pater Pio, den er nicht wieder erwähnte, schien es fast, als sei sein Mut gebrochen. So tat sich ein neuer Ausweg auf, wo er, wie Franzine vermutete, Hoffnung auf Heilung seiner Mutter entgegensah. Das Heilwasser von Lourdes, wo Bernadette die Visionen empfangen hatte, würde seiner Mutter das Asthmaleiden wie durch Zauberhand verschwinden lassen. Und sie behielt Recht mit ihrer Annahme.

Die Ungeliebten

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