Читать книгу Die Ungeliebten - Anita Florian - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеLetzte Nacht hatte es wieder geschneit, die gesamte Landschaft war in strahlendes Weiß getaucht und glänzte in der Sonne wie dick mit Puderzucker bestreut. Bernadette spielte im Vorgarten mit Pucki, ballte Schneebälle und warf sie weit von sich. Pucki jagte hinterher und versuchte sie in der Luft mit seinem Maul abzufangen. Esther Ardos blickte aus dem Fenster und lächelte, sie war froh dass sich ihr Hund so richtig austoben konnte. Jedes Mal wenn sie ihn außer Haus ließ und er Bernadette witterte, rannte er auf sie zu und wedelte mit seinem kurzen Stoppelschwanz so heftig dass man meinen könnte, er wäre der beste Twisttänzer der Welt. Sein Hinterteil wackelte und tanzte förmlich, so als höre er gerade die Beatles oder Elvis Presley aus dem Radio singen. Bernadette befürchtete schon, das kleine Stück Schwanz könnte ihm jeden Moment aus dem Hinterteil springen. Sie spielte oft stundenlang mit ihm, rannte und tobte im Schnee, streichelte und liebkoste den von ihr erklärten Lieblingshund aller Zeiten mit herzlicher Inbrunst. Manchmal kreuzte Tanja außerhalb des Gartens auf, stand vor dem alten Gatter und wagte sich nicht in die Nähe des Hundes. Diesmal kam sie wieder, fest eingepackt in die Strickjacke, hüpfte sie vor den Zaunlatten hin und her. Bernadette bemerkte zuerst nur die graue hüpfende Quaste an ihrem Kopf.
„Was machst du denn da?“ rief sie durch den Zaun, fasste ihre kleinen, vor Kälte roten Finger an die Latten und spähte durch die Ritze.
„Willst du nicht hereinkommen und mitspielen?“ rief Bernadette und während sie ihre Schneebälle warf.
„ Da gehe ich nicht rein“, Tanja schüttelte heftig den Kopf, „ mit diesem Vieh bringst du mich nicht zusammen.“
„Na komm schon, Pucki tut dir nichts, nur wenn ich ihn anstifte“, scherzte Bernadette und lachte, doch Tanja war nicht umzustimmen. Energisch schüttelte sie den Kopf. „Du bist ein Feigling“, sagte ihr Bernadette unverblümt, Tanja wurde daraufhin wütend und stampfte aufgebracht auf den gefrorenen Boden.
„ Der Hund stinkt, und du stinkst auch bald so wie er“, sagte Tanja laut und sichtlich erregt. Bernadette aber lachte, was Tanja in noch mehr Rage versetzte.
„Du darfst mich nie wieder anfassen, meine Puppe auch nicht, die Hand gebe ich dir auch nie wieder, ich mag keine Leute die nach Hund riechen.“ Bernadette merkte nun, dass es ihr bitterernst war.
„Siehst du denn nicht wie sein Fell glänzt, sein Frauchen bürstet ihn jeden Tag und einmal in der Woche wird er gebadet, vielleicht darf ich einmal zusehen, ich werde Frau Ardos fragen“, versuchte Bernadette ihr die Lage zu erklären. Tanja stieß einen entsetzten Schrei aus.
„Waaaas? Der Hund wird in die Badewanne getan? Ich würde da nie wieder hinein steigen, dort wo ein Hund badet, bade ich nicht, ich will nicht so riechen wie ein Hund, ich will gut nach Seife riechen“, Tanja war nicht zu überzeugen.
„Frau Ardos putzt die Badewanne hinterher mit Scheuerpulver sauber, dann riecht es nicht mehr nach Pucki.“
„Das glaube ich nicht, wenn der Hund mal drinnen war, so riecht die Badewanne, das weiß ich genau, mich würde es wie den Hund schütteln, wenn ich in dieser Wanne baden müsste, ich hab das wirklich noch nie gehört das ein Hund in die Badewanne kommt, ich frage aber meine Mutter, die hat das auch noch nie gehört.“
Es war ganz klar, Tanja mochte keine Hunde und da halfen auch sämtliche Argumente nichts. Inzwischen hatte Pucki neben Bernadette Platz genommen und wartete ungeduldig auf den nächsten Schneeball. Sie war schon etwas müde und legte eine kleine Pause ein.
„Ich hab Hunger“, sagte Tanja plötzlich, „ du auch?“
„ Ein bisschen schon, ja“, antwortete Bernadette und tatsächlich hatte sie heute noch keinen Bissen zu sich genommen.
„Was gibt es heute bei euch?“ wollte Tanja wissen.
„Das weiß ich noch gar nicht, ich hab meine Mutter nicht gefragt“, eigentlich war es Bernadette unwichtig was auf den Mittagstisch stand, Hauptsache es schmeckte gut und machte satt.
„Morgen ist Sonntag, da gibt es bei uns immer Schlagsahne“, sagte Tanja und blickte durch die Zaunritze auf Pucki der noch immer neben Bernadette saß und winselte. Sie schien sich wieder beruhigt zu haben, stand nun enger am Zaun und besah sich die beiden Freunde. Schlagsahne, ja, natürlich, dieses süße, weiße, weiche Zeug das so wunderbar schmeckte. Bernadette kannte diese köstliche Speise, bei Tante Annelie gab manchmal ein Stück Torte mit Schlagsahne, genau das muss es sein. Bernadette lief das Wasser im Munde zusammen. Sind das etwa reiche Leute die Breckers? Sie begann Tanja ein bisschen zu beneiden, ließ sich aber nichts anmerken.
„Ich muss dann mal gehen“, sagte Tanja und rieb sich den Bauch, „ es gibt bald Essen bei uns, bestimmt wieder Leberkäse und Kartoffelpüree, das mag ich besonders gerne.“ Sie schnalzte mit der Zunge, bückte sich, nahm etwas Schnee, formte einen Schneeball und warf ihn über den Zaun. Pucki war sofort zur Stelle und sauste hinterher.
„Na gut, dann iss deinen Teller auch leer“, meinte Bernadette und ihr wurde klar, das Tanjas Lieblingsthema wohl das Essen sei. Tanja rannte wieder zurück dabei hüpfte sie von einen Bein auf das andere und beachtete kaum das Auto das gerade um die Ecke bog, schnell war sie im Haus verschwunden. Pucki winselte wieder und wartete auf den Schneeball. Das Spiel nahm wieder seinen Lauf, Pucki gelang es sogar einen Schneeball mit seinem Maul in der Luft aufzufangen. Bernadette war so beschäftigt, dass sie nicht merkte dass sich ein blauer Wagen in Schritttempo näherte. Sie erschrak heftig als sie eine Wagentür mit voller Wucht zuschlagen hörte. Auch Pucki zuckte zusammen. Kurz darauf öffnete sich das Gartentor und eine elegante, gut gekleidete Dame betrat den Innenhof. Der Wagen schimmerte blau-metallic durch die Ritzen, Bernadette kniff die Augen zusammen als der Lack sie zu blenden begann auf dem die Sonne mit voller Pracht herunter schien. So einen großen Wagen hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen, ihren Blick konnte sie kaum von dem Auto abwenden. Dass sich so ein schicker Schlitten in diese Gegend verirrte war ziemlich ungewöhnlich, fast nahm er den gesamten Weg ein, prachtvoll parkte er vor dem gewöhnlichen Haus. Die elegante Frau kam langsam auf Bernadette zu, lächelte sie freundlich an und zeigte nicht die geringste Spur Angst, als Pucki auf sie zugelaufen kam.
„ Hallo, du Prachtkerl“, rief sie freudig und streichelte sein kurzes Fell. Bernadette blieb der Mund offen stehen, noch nie ist ihr so eine wunderschöne Frau untergekommen, so herrlich gekleidet, die Frisur so hoch, und mit Schuhen die sie nicht mal in Katalogen gesehen hat. Die brünetten Haare waren kurz geschnitten, am Hinterkopf hoch auftoupiert, der Seitenscheitel verlief bis zum rechten Ohr. Ihr hellblaues Kostüm saß an ihrem schlanken Körper wie angegossen, der Rock reichte exakt bis oberhalb der Kniescheibe. Das faszinierende an ihr waren die Schuhe: Mit dunkel und hellblauen Mustern auf echtem Leder stand sie vor ihr, die Fersen standen kerzengerade in die Höhe, so als wollten sie geradezu in den Himmel hinaufstoßen. Der Stöckel aber, der so dünn wie ein Bleistift und genauso hoch war, erweckte Bernadettes Interesse. Vorne liefen die Schuhe zu einem scharfen Spitz zusammen, man konnte den Ansatz der Zehen durch die Nylons erkennen. Der Gang glich einer Fee, graziös und langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der vom Schnee frisch gefegte, mit einer dünnen Eisschicht behaftete Weg schien ihr nichts auszumachen, ihre Schritte waren sicher und gerade. Sie tätschelte Puckis Kopf während Bernadette sie noch immer fassungslos anstarrte.
„ Grüß dich Kleine“, sagte sie freundlich zu ihr, beugte sich etwas hinunter und fragte: „ kannst du mir bitte sagen wo hier Tennenbach wohnt?“ Hilfsbereit kam Bernadette näher, packte spontan die Hand der Fremden und zog sie mit sich die Stufen zur Eingangstüre hinauf.
„Dort oben, gleich diese weiße Tür“, sie zeigte mit ihrem kleinen Zeigefinger durch die Sprossen des Stiegengeländers auf die Wohnungstüre im ersten Stock.
„Ich danke dir, Kleine“, fröhlich ließ sie die Hand Bernadettes los und tappte mit gekonntem Hüftschwung die Stufen empor. Laut pochte sie an die Tür, nestelte an ihrem Kragen herum und atmete tief durch. Neugierig spähte Bernadette nach oben, was wohl die fremde Frau hier bei uns wolle? Franzine öffnete. Beide Frauen standen sich gegenüber, blickten sich ein paar Sekunden in die Augen bevor sie sich in die Arme fielen und sich schluchzend fest umklammert hielten. Sie wogen sich, sie drehten sich im Kreise, die Wangen fest aneinandergepresst, die Arme innig umschlungen, so als wollten sie sich nie wieder loslassen. Erst nach Minuten fanden sie ihre Fassung wieder. Nach der heftigen Umarmung zerrte Franzine ihre Schwester in die Wohnung und erst dann fand sie ihre Sprache wieder.
„Ich freue mich so dich wieder zu sehen“, stammelte sie, bemüht ihre Tränen im Zaum zu halten und ihre Stimme zu wahren. „ Ich kann es noch immer nicht glauben dass du da bist, wahrhaftig vor mir stehst“, sie suchte nach einem Taschentuch und trocknete sich die Augen. Auch Dorothea, die ihren Arm um ihre Schultern legte, tupfte sich die Augen ab und lächelte. Beide nahmen auf der knarrenden Bettbank Platz und blieben für einige Augenblicke stumm.
„Ich helfe dir, selbstverständlich werde ich für dich da sein, auch für dein Kind.“ Dorothea begann langsam zu sprechen „ ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht als ich deinen Brief bekam, ich konnte nicht anders, ich musste so schnell wie möglich zu dir kommen. Weißt du was, du wirst mir alles der Reihe nach erzählen, alles, und zwar beginnst du genau da an dem Tag als ich unser Zuhause verlassen habe, ich bin ja nie wieder zurückgekommen außer bei den Beerdigungen, du musst mir genau berichten, ich hab mir weiß Gott was vorgemacht, ich dachte, alles wäre für immer aus zwischen uns. Doch ich will nicht davon sprechen, wichtig ist jetzt für dich, wie es nun weitergeht, und ich glaube, du musst dich mal tüchtig aussprechen, mal sehen, vielleicht finden wir zusammen eine Lösung die sich verwirklichen lässt.“ Franzine begann heftig zu weinen, Dorothea strich ihr geduldig über den Rücken.
Als sie sich etwas gesammelt hatte, brühte Franzine Tee und stellte einen Teller Plätzchen auf den Tisch. Dorothea sah sich inzwischen in der Küche um, sie wollte ihrer Schwester zu Hilfe kommen, doch Franzine lehnte ab. Sie sollte nicht merken dass sie sich schämte, schämte für all die Jahre die vergangen sind und die Sinnlosigkeit die sich darin ergab.
„Du trägst ja noch immer deine schönen langen Haare“, bemerkte Dorothea und betrachtete Franzines straff sitzenden Haarknoten, griff nach einem Plätzchen und biss herzhaft in den Keks.
„ Die schmecken fantastisch, aber du weißt ja, ich darf nicht zu viel naschen, es legt sich ja alles auf die Hüften, du bist viel besser dran, du hast noch immer deine 48 Kilo, ich finde das beneidenswert“, Dorothea betrachtete ihre Schwester bewundernd.
„Ich habe kaum Appetit“, Franzine verzog ihr Gesicht, „ ich muss mich geradezu zwingen ein paar Bissen hinunter zu würgen, doch ich esse viel mehr als damals bei den Tennenbachs, ich verspüre manchmal sogar Appetit, auch auf Süßes.“ Dorothea freute sich dies aus dem Munde ihrer Schwester zu hören. Es ist ihr noch gut in Erinnerung als Franzine damals gezwungen wurde ihren Teller leer zu essen. Kein einziges Mal aß sie ihren Teller unaufgefordert leer, und das Theater am Mittagstisch dass sich täglich wiederholte, blieb unvergessen. Eduard beharrte darauf, das Franzine keinen vollen Teller abgab, er verbot ihr streng, sich zu erheben wenn der Teller nicht vollständig leer war. Nicht selten waren Tränen die Folge, unter größtem Zwang würgte sie die Bissen hinunter, auch wenn sie sich danach übergeben musste. Langsam kaute sie die Speise und erhoffte, dass sie baldmöglichst aufstehen und sich vom Mittagstisch entfernen könne. Eine Weile später übergab sie sich, heimlich und von den Eltern niemals wahrgenommen. Ihr Körpergewicht war zu gering und ist es bis heute geblieben.
„Ich hoffe nur, Bernadette gerät nicht nach mir“, sagte Franzine und verschränkte ihre Arme, „ noch hat sie einen gesunden Appetit, ich habe Angst wenn sie in die Pubertät kommt, dass ihr dasselbe widerfahren könnte, aber wahrscheinlich mache ich mir umsonst Sorgen, außerdem ist es noch zu früh um darüber nachzudenken, ich weiß, ich sollte damit aufhören.“
„Bernadette?“ fragte Dorothea und wusste schon in diesem Moment, um wen es sich handelte. Franzines süße Tochter. Die kurze Begegnung mit ihr im Vorgarten ließ sie erstrahlen. Das war sie also, das kleine Mädchen mit dem Hund.
„ Sie sieht sehr gesund aus, du solltest dir wirklich keine Gedanken machen. Sie muss um die fünf Jahre alt sein, nicht wahr? Sie hat mir auf sehr liebenswürdige Weise gezeigt wo ihr beide wohnt, der schöne Boxer hat es ihr wohl angetan?“ Dorothea nahm sich noch ein Plätzchen.
„ Sie ist geradezu besessen von ihm, und der wilde kleine Kerl wohl auch von ihr, sie sind unzertrennlich wenn sie sich sehen. Sie wird am 3. Mai nächsten Jahres sechs Jahre alt, ich sehe sie noch als Baby vor mir, sie war so entzückend. Und auch Ferdinand war hingerissen von ihr.“ Franzine sprach zum ersten Mal von ihren Ehemann.
„ Sie scheint ein kluges Kind zu sein“, Dorothea lachte, „ ihre frechen braunen Augen verraten hochgradige Intelligenz, das ist nicht zu übersehen.“
„ Ich glaube, da wirst du wohl Recht haben, sie ist oft den gleichaltrigen Kindern um Längen voraus“, sagte Franzine voller Stolz. Sie schenkte noch Tee nach und setzte sich wieder zu ihrer Schwester.
„ Wo ist er?“ fragte Dorothea ernst während sie ihren Tee umrührte. „Ehrlich, ich weiß es nicht, er darf mich hier nicht finden, es wäre alles aus, ich lebe in ständiger Angst er könnte herausfinden wo wir nun leben, das darf niemals passieren, niemals, verstehst du Dorothea?“ Franzine konnte kaum ihre Unruhe verbergen.
„ Nur keine Angst liebe Schwester, uns wird schon was einfallen, aber vorher wirst du mir in allen Einzelheiten berichten. Und, ich bin nicht mit leeren Händen gekommen, im Auto habe ich ein Nikolaus Paket für Bernadette und für dich habe ich hoffentlich auch das Passende dabei, aber dazu später, du beruhigst dich erstmal und dann erzählst du mir alles, ganz langsam, keine Eile, ich bleibe über Nacht, wir rücken im Bett einfach zusammen, Bernadette kommt in die Mitte, fast so wie in alten Zeiten, was hältst du davon?“ sagte Dorothea glücklich und Franzines Gesicht durchzog ein wohliger Freudenschauer. Franzine holte tief Luft und begann zu erzählen.
„ Ich habe einen riesigen Fehler gemacht, ich konnte nicht ahnen was auf mich zukam, ich war damals so glücklich mit ihm…..“
(1961)
Kurz nach Dorotheas Abschied konnte man Franzine nur als einen Backfisch bezeichnen, verschüchtert und sonderbar wortkarg erledigte sie ihre Arbeiten. Sie blieb die meiste Zeit so still wie möglich. Selten redete sie mit ihren Schulkameradinnen über Mode, Frisuren oder erste Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht. Freya bestand beharrlich darauf dass sie ihre Haare lang und zu zwei Zöpfen geflochten tragen musste. Das Widerlichste waren zwei rote Bänder aus Taft, die Freya in die Zöpfe geschickt hinein flocht und am Ende des Geflechts als Masche zierten. Das Auflösen wurde dadurch umso mehr erschwert und Franzine hatte keine Chance dieses verhasste Gebilde an ihrem Kopf loszuwerden. Immer wieder kam ihr der Gedanke beide Zöpfe abzuschneiden, doch Freya schloss die Schere und sämtliche Messer weg. Keine von den Schülerinnen wagten ihr auch nur annähernd anzudeuten dass sie bereit wären ihr diese Dinger abzuschneiden. Sie alle mussten die Anweisungen ihrer Mutter befolgen, selbst der Klassenlehrer, der sich in die Sache nicht einmischen wollte, sagte kein Wort über Franzines auferlegte Strafe. Mit fast sechzehn Jahren musste sie mit dem Aussehen eines Kleinkindes im Vorschulalter ihr Leben mit Hohn und Spott meistern. Ihr Körper zeigte die ersten Veränderungen auf, die Brustrundung war schon deutlich zu erkennen, ihre Hüften traten wohlgeformt mit darüber liegender Wespentaille in weibliche Erscheinung und verrieten eine schöne Gestalt dahinter. Ihre graziösen Bewegungen fielen dadurch in der männlichen Welt kaum auf. Seit drei Monaten hatte sich auch die erste Regelblutung eingestellt und es war nicht zu übersehen, dass sie fraulich und erwachsen unter dieser Fassade wirkte. Doch jeden Morgen musste sie die Prozedur des ewigen Haarebürstens und Flechtens in Kauf nehmen. Erst wenn ihre Volljährigkeit an ihrem 21. Geburtstag offiziell in Kraft tritt, dürfe sie die Haare kürzen oder nach ihrem Geschmack verändern. Bis dahin müsse sie ausharren solange sie noch zu Hause wohne und den unangenehmen Regeln Freyas Folge leisten. Da half auch kein Gebrüll, kein Aufstampfen, kein flehen, betteln, kein Bitten, selbst der schlimmste hysterische Ausbruch ließ ihre Mutter nicht erweichen. Auch die ausgesprochene Selbstmorddrohung ließ Freya kalt. Alle ihre Klassenkameradinnen trugen entweder einen Bubikopf oder frisierten ihre Haare halblang mit gedrehter Welle nach außen die ihr Gesicht vorteilhaft umrahmten. Toupierte Kurzhaarköpfe vermehrten sich zunehmend unter den jungen Frauen, manche Mädchen trugen noch einen Pferdeschwanz, oder sie bevorzugten die Haare einfach nur offen, hängend mit einem bunten Band zurückgehalten. Fast bildeten sie eine Modeschau in der Schule die in den Pausen wohl das Hauptthema der älteren Mädchen war. Enge Steghosen, Ballerinas und anliegende Pullis haben auch bei den jungen Menschen auf dem Land, Einzug in den Klassenzimmern gehalten. Franzine gab nach einer Weile vergeblichen Kämpfens auf und trug tapfer ihre altmodischen, verhassten Zöpfe bis zu ihren Freudentag der sich noch Jahre hinziehen sollte. Dorothea trug schon längst eine modische Kurzhaarfrisur, neidvoll musste Franzine mit ansehen als ihre Schwester glücklich und zufrieden mit dem Ergebnis vom hiesigen Frisör zurückkam. Auch dann kam kein Wort über ihre Lippen und verzog sich mit einem Buch in eine Ecke.
Dorothea war nun weg, doch Franzine empfand keine Ruhe, der innere Frieden wollte sich nicht einstellen. Nagende Gewissensbisse bohrten sich in ihre Seele, doch sie verstand es geschickt, ihre Gefühle zu verbergen. Als Manuel geraume Zeit später den Ort über Nacht verließ, durchzog ein stechender Schmerz ihren Körper, es tat weh wissen zu müssen dass er nun fort war und ob er jemals wieder zurückkommen würde. Keine Anzeichen sprachen dafür. Er spukte noch immer in ihrem Kopf herum. Ihre heimlichen Gefühle, die sie nun in abgekühlter Form für ihn empfand,
klangen langsam ab. Trotzdem sah sie in ihm noch ihren unsichtbaren Beschützer, der ständig neben ihr weilte und sie mit allen Mitteln verteidigte. Er hatte einen festen Platz in ihrer Fantasie eingenommen und stand ihr mit auferbauenden Ratschlägen stets zur Seite. Oft war ihre Einbildungskraft so wirklich, dass sie, wie durch Selbsthypnose, neuen Mut und Kraft schöpfte. Manuel; Ihr ganzes Leben wollte sie ihm schenken, nie wird sie ihn je vergessen können. Doch nach und nach wurde sein Bild blasser, die schöne, männliche Gestalt die ständig neben ihr lebte, schien sich langsam aufzulösen. Oft vertieft in Selbstgesprächen wenn sie sich alleine glaubte, vertrieb sie sich die einsamen Stunden. Die Angst, jemand könnte sie wahrnehmen und mithören wenn sie zu sich selbst redete, ließen sie umsichtig werden. Nicht auszudenken wenn ihre Mutter dies einmal sehe, der Boden solle sie auf der Stelle verschlucken, die Scham könnte nicht größer sein. Und bestimmt wissen es die Nachbarn und Schulfreundinnen schon in der nächsten Stunde, dann wäre die Schmach perfekt, das Haus könne sie dann nie wieder verlassen. Darauf wollte sie es lieber nicht ankommen lassen, dann versuchte sie sich zurückzuhalten, sprach immer weniger und antwortete nur auf Fragen die ihr ihre Mutter stellte. Freya glaubte gerecht zu handeln und dachte auch keine Sekunde über Franzines psychischen Zustand nach. Doch Franzine begriff, dass sie einiges an Gunst bei ihrer Mutter eingebüßt hatte. Trotzdem genoss sie einiges an Freiheiten die ihr Freya durchaus erlaubte. Wenn ihre Leistungen in der Schule zufrieden stellend waren, oder wenn sie ihre Pflicht im Haushalt gewissenhaft verrichtet hatte, durfte sie an Veranstaltungen, die es oft Sonntags in einem Cafe oder Gaststätte gab, zum Tanzen, oder, wenn es im Kino einen Film spielte der sie interessierte, bekam sie zu ihrer großen Freude den ersehnten Ausgang. Trotz gesunkenen Selbstwertgefühls und verabscheuungswürdiger Frisur, freute sie sich auf die Abwechslungen an den Sonntagen die ihr Leben wieder etwas aufhellten. Franzine war ja noch Schülerin, vielleicht rette sie dadurch ihre Ehre. Nach endlosen Meinungsverschiedenheiten und Überredungskunst durfte sie die Handelsschule besuchen die ihr um Welten lieber war als die Haushaltungsschule die ihr Freya aufbrummen wollte. Franzine konnte ihre Mutter überzeugen, dass sie sehr wohl imstande wäre, das Kochen, Nähen und alles was sie später für einen guten Haushalt gebrauchen könnte, mit der Zeit sich selbst aneignen und die, vom negativem Ruf behaftete Schule, dort abgehaltene Unterricht gewiss nicht von Nöten sei. Mit der Zeit würde sie schon das Wichtigste erlernen, wozu die kostbare Zeit in einer Schule vergeuden die sie ohnehin nicht interessierte. Freya willigte ein, die Handelsschule war in Ordnung, dort lernte sie wenigstens das Nötigste um eventuell eine gute Geschäftsfrau zu werden. Endlich ein Lichtblick in der Finsternis und eine veraltete Ansicht weniger in Franzines Umfeld, diesmal konnte sie ihren Willen eisern durchsetzen. Sie hasste dieses Kleinbürgertum, sie empfand wieder so etwas wie ein Glücksgefühl in ihrer trüben Seele, die Zeiten konnten nur noch besser werden. Die Schule befand sich fünfzehn Kilometer entfernt von ihrem Dorf und so stand sie täglich jeden Morgen mit einigen Mädchen die ebenfalls zur Schule fuhren, am Bahnhof, warteten auf den Zug der sie sicher und bequem an ihr Ziel brachte.
Und da sah sie ihn zum ersten Mal. Eines morgens, sie redete gerade aufgeregt mit ihrer Freundin Sabrina über ihre Zöpfe, bemerkte sie einen dunkelhaarigen jungen Mann am Straßenrand stehen. Unter einer blühenden Kastanie stand er mit ein paar Freunden im Schatten und hielt seinen Kopf etwas gesenkt. Wie alle anderen Menschen, wartete auch er auf den bald ankommenden Zug. Franzine blickte verstohlen zu ihm hinüber, doch der junge Mann schien sie nicht zu bemerken. Sabrina folgte ihren Blick nach, doch sie ging mit keinem Wort darauf ein. Franzines Blick blieb sekundenlang auf ihm haften, drehte sich dann wieder Sabrina zu und setzte ihre Unterhaltung fort. Unwillkürlich drehte sie mehrmals den Kopf in seine Richtung nur um einen einzigen Blick von ihm zu erhaschen, doch er blickte unentwegt zu Boden. Der Zug rollte ein, Menschen stiegen aus und die Wartenden hatten es eilig in die Waggons zu kommen. Franzine verlor ihn aus den Augen, sie konnte sich mit einem mal nicht erklären, dass sich ihr die Frage aufdrängte, ob sie ihn morgen denn wieder dort stehen sehe, ob er wieder komme und vielleicht mal einen Blick auf sie werfen möge. Sie fühlte, dass ihr Herz viel schneller schlug als sonst und dass sich ein sanftes Lächeln um ihren Mund spiegelte.
Woche um Woche verging, und jedes Mal kam dieser junge Mann zum kleinen Bahnhof, stand mit ein paar Kumpels unter der Kastanie, redete nur selten und blickte an den von Kastanienblüten überstreuten Asphalt hinunter. Kein einziger Blick würdigte er Franzine die ihn unentwegt anstarrte und hoffte, dass er nur einmal in ihre Richtung sehen möge. Doch nicht einmal sah er auf, nie konnte sie in sein Gesicht blicken, einzig die männlich groß gewachsene, schlanke Gestalt die sich lässig bewegte, rührte in Franzines tiefen Inneren. Dieser meist dunkel gekleidete Mann, der das Aussehen eines Filmstars präsentierte, schien sich keinen Deut für sie zu interessieren.
Eines Sonntags wachte sie morgens früher als gewöhnlich auf. Das Gefühl in der Magengegend war angenehm, doch sie verspürte nicht den geringsten Appetit auf Freyas bereitgestelltes Frühstück. Schlaftrunken setzte sie sich an den Tisch, ihr verträumtes schmales Gesicht wies eine leichte Rötung auf. Sie nippte kurz an ihrer Kaffeetasse, die knusprige aufgebähte Semmel ließ sie diesmal unangetastet im Korb liegen. Verträumt blickte sie vor sich hin während Freya die Bürste und den Kamm holte um ihr die Haare wie gewohnt zu bürsten und ihr die beiden Zöpfe zu verpassen. Widerstandslos ließ sie es geschehen, ihre Gedanken schweiften zu dem jungen Mann der schon seit Wochen am Bahnsteig wartete und sie noch niemals wahrgenommen hatte.
„Warum isst du nichts?“ fragte Freya und flocht die Zöpfe fester als sonst, arbeitete die roten Bänder in das Haar und wunderte sich, dass Franzine den Kopf still hielt, fast teilnahmslos die Prozedur übers ich ergehen ließ.
„Ich hab keinen Hunger, Mama, es ist noch zu früh, ich krieg um diese Zeit nichts runter, darf ich heute ins Kino gehen? Ich will mir gerne „Hoch klingt der Radetzky Marsch“ ansehen, ein alter Film der jugendfrei ist, o bitte darf ich……au, nicht so fest, das tut mir doch weh.“ Franzine hoffte, das Freya einwilligen und ihr das Geld für die Eintrittskarte geben würde.
„ Gut, aber später isst du deine Semmel, du musst endlich was essen Kind, du bist zu dünn und ich frage mich nur, wie du das überhaupt aushältst, du brichst eines Tages zusammen wenn das so weitergeht mit dir. Zuerst wird gegessen, dann sehen wir weiter.“ Freyas Sorge um Franzine war berechtigt, ihre Tochter wies bereits eine sichtbare Unterernährung auf. Doch Franzine verweigerte das Frühstück, ein Ekelgefühl kroch in ihr hoch, stärker noch als sie es früher empfand. Um die Erlaubnis fürs Kino zu bekommen, aß sie mittags ein paar Löffel Gemüsesuppe, es gelang ihr auch, ein halbes Wiener Schnitzel in ihren Magen zu befördern. Der Kinobesuch war gerettet, Freya gab ihr das Eintrittsgeld und noch etwas mehr dazu, damit sie sich auch ein paar Naschereien kaufen konnte. Zucker würde dem Kind nicht schaden, meinte sie, vielleicht entwickelt sie eines Tages noch einen gesunden Appetit.
Franzine warf ihre Zöpfe auf den Rücken und betrachtete sich im Spiegel. Mit heller Sommerhose, rosa ärmelloser Spitzenbluse und den dazupassenden Halbschuhen sah sie ganz manierlich aus. Bis auf die Zöpfe, die sie sich am liebsten vom Kopf reißen würde, gefiel sie sich recht gut in dieser Aufmachung. Schon am frühen Nachmittag schlenderte sie durch die Strassen, betrachtete die Auslagen der insgesamt zwei Modegeschäften des Ortes, kaufte sich eine Tüte Eiscreme und genoss die kühle Köstlichkeit die ihr sogar schmeckte. Spaziergänger grüßten sie, freundlich erwiderte sie den Gruß und schritt langsam auf die Hauptstraße zu, die sie zu dem etwas außerhalb gelegenen Kino führte. Langsam ging sie die Strasse entlang und betrachtete die bereits in voller Blüte stehenden Pflanzen, die in den Gärten der ringsumliegenden Häuser in voller Pracht und farbenfroh paradiesische Stimmung vermittelten. Das kleine Kino trat in ihr Blickfeld, als sie plötzlich eine Fahrradklingel hinter sich klingeln hörte. In Gedanken versunken erschrak sie, drehte sich neugierig um und blickte in ein Paar leuchtende blaue Augen die sie noch niemals zuvor gesehen hatte.
„Hallo“, sagte der junge Mann fröhlich. Er war es wahrhaftig, lebendig, in voller Lebensgröße. Derselbe Mann den sie täglich am Bahnhof heimlich betrachtete, niemals einen Blick von ihm erhaschte und nie auch nur die kleinste Notiz von ihr nahm. Plötzlich stand er hinter ihr, wie aus dem Nichts, einfach so, stieg lässig vom Fahrrad, lächelte ihr ins Gesicht und hielt Schritt mit ihr. Franzine blieb beinahe das Herz stehen, auf diese Begegnung war sie nicht gefasst gewesen und sie fühlte, dass sie rot anlief.
„Hallo“, gab sie kleinlaut zurück und wäre am liebsten im Boden versunken. Er wandelte nun neben ihr und sie konnte sich nicht verkeifen seine Gestalt zu betrachten. Ihr Blick haftete an ihm, mehr als ihr bewusst war.
„Du gehst auch ins Kino? Ich habe mir heute vorgenommen diesen Film anzusehen, wir könnten doch zusammen hingehen, willst du mich begleiten?“ Franzine traute ihren Ohren nicht, fragte er sie tatsächlich ob sie mit ihm ins Kino gehen wolle?
„Ja, ich habe nichts anderes vor“, Franzine gab höllisch acht, dass sie nicht zu stottern anfing, was peinlicheres konnte ihr in diesem Augenblick nicht passieren. Innerlich zersprang sie vor Freude, den heutigen Sonntag wird sie für alle Zeiten zu ihrem Glückstag erklären.
„ Ich kenne dich, du stehst doch jeden Tag am Bahnhof wenn du zur Schule fährst, stimmts? Ich fahre ja in die Lehre, ich lerne nämlich Tischler, ich bin bald damit fertig, dann kaufe ich mir ein Motorrad“, sagte er enthusiastisch, „sag mal, wie heißt du eigentlich? Ich bin Ferdinand, aber alle nennen mich Ferry, ich wohne gleich im Nachbarort, Jungberg, wirst du bestimmt kennen.“ Natürlich kannte sie den Ort, auch Manuels Zuhause war es einmal gewesen und kurz tauchte sein Bild vor ihrem geistigen Auge auf.
„Natürlich, manchmal gibt’s dort im Sommer sonntagabends ein wunderschönes Feuerwerk, habe ich schon öfters angeschaut, ich bin am Hauptplatz gestanden, dort wo die Springbrunnen sind, ich heiße übrigens Franzine.“ Sie schlug die Augen nieder, sie versuchte ihre Schüchternheit zu bekämpfen was sie zu ihrer Überraschung gut zuwege brachte. Ferry ließ keinen Blick von ihr und schien ihre Zöpfe, die über ihren Rücken baumelten nicht zu bemerken. Kein Zweifel, Franzine gefiel ihm und dies war in seinen Augen deutlich abzulesen.
„Ich sehe jedes Mal hinüber zu dir wenn du mit den anderen Küken am Bahnhof stehst, aber nie hattest du zurückgeschaut, immer hab ich dich im Auge gehabt, aber kein einziger Blick kam zurück von dir.“ Das durfte doch nicht wahr sein! Erging es ihm genauso wie ihr und bildete sich ein, dass sie sich nie einander angeblickt hätten? Sollte sie es zugeben und ihm erzählen, dass es ihr genauso ergangen sei und dasselbe von ihm berichten könnte? Keine gute Idee, überlegte sie und tat geradeso, als wäre sie verwundert, als hätte sie ihn tatsächlich noch nie auf dem Bahnsteig gesehen. Und so schlenderten sie gemütlich dem Kino entgegen. Das Eis war gebrochen, sie redeten, sie lachten und Franzine, die immer lockerer wurde, freute sich auf den Kinoabend mit Ferry, der ihr nicht nur die Eintrittskarte bezahlte, sondern ihr auch noch eine große Packung Popcorn spendierte. Vor dem Kino hatte sich eine beachtliche Menschentraube gesammelt und warteten auf Einlass. Fahrräder und Vespas parkten seitlich des Einganges, Ferry stellte sein Fahrrad mitten unter den Fahrzeugen ab, versperrte es und widmete sich wieder seiner neuen Eroberung, die scheu in die Menge blickte und ärgerlich feststellen musste, dass sämtliche Augenpaare auf sie gerichtet waren und tuschelnd über ihre Zöpfe herzogen. Ferry winkte ein paar Freunden zu, die vor der Süßigkeitentheke standen und Naschzeug für die Vorstellung kauften. Die dicke schwarzhaarige Frau beugte sich umständlich in die Vitrine und hatte Mühe, die Wünsche ihrer Kunden rasch zu erfüllen. Endlich öffnete sich die große Schiebetür, das Gedränge ging los, der Kartenabreisser riss den kleinen Abschnitt jedes einzelnen Besuchers mit Gelassenheit rasch ab. Franzine und Ferry nahmen ihre Plätze in den mittleren Reihen ein, klappten die Holzstühle herunter und setzten sich nebeneinander mit ihren Popcorntüten hin. Nach ein paar Minuten begann die übliche Wochenschau, die Franzine nicht im Geringsten interessierte. Glücksselig und zögernd knabberte sie ein paar Popcornhäppchen und wagte sich kaum zu bewegen. Ferry verfolgte das Programm, schimpfte entweder über die Politik oder lachte über das eben gezeigte Seifenkistenrennen, an dem er als Kind selbst gerne teilgenommen und tollkühn sämtliche Hänge mit erstaunlicher Geschwindigkeit hinunter gefahren ist. Nach der kurzen Vorschau, die die weiteren Filme präsentierte, die in nächster Zeit in diesem Theater gezeigt werden sollen, begann endlich der Hauptfilm. Ferry lachte laut auf, als Susi Nicoletti das Bad betrat und unbefangen den jungen Offizier fragte, was er denn da mache, fand er nur zu komisch. Diese Szene löste geradezu einen Lachanfall bei ihm aus. Franzine konnte sich nicht auf den Film konzentrieren, sie fühlte sich neben Ferry wohl und genoss seine Gesellschaft in vollen Zügen. Die Beine übers Kreuz geschlagen, an die Leinwand nach vorne schauend, fühlte sie plötzlich Ferrys Hand an ihrem Knie, ganz sachte hatte er sie darauf gelegt und hatte nicht die Absicht, sie wieder anzuheben. Sie spürte seine Wärme durch den Stoff, ja fast heiß wurde diese Stelle, Ferry legte zögernd seinen anderen Arm um ihre Schulter, sie spürte sein sanftes Streicheln am Nacken, ein wohliges Gefühl durchfuhr ihren Körper und wusste von nun an, dass ein guter Wendepunkt in ihrem Leben gerade zu keimen begonnen hatte. Sie ließ auch geschehen, dass er seine Wange an die ihre legte, geschmeidig und warm, ein wenig rau durch die Bartstoppeln hielt auch sie ihre Wange an die seine, roch sein Rasierwasser und atmete langsam ein. Eng umschlungen, wie ein frisches Liebespaar, das sie ja seit einer Stunde waren, sahen sie sich den Film bis zum Ende an. Popcornkauend, mit glänzenden Augen in der sanften Beleuchtung des Filmtheaters, waren sie wohl die glücklichsten Menschen des Abends an diesem Sonntag.
Nach der Vorstellung überredete er sie zu einem Kaffeehausbesuch was sie freudestrahlend annahm. Die Predigt ihrer Mutter, wenn sie zu spät nach Hause käme, würde sie schon überleben, hatte sie doch ganz andere Dinge in ihrem Leben geschafft.
Es dauerte die halbe Nacht bis sie sich voneinander loseisen konnten. Der Kuss auf ihren Lippen brannte wie Feuer, gleichzeitig fühlte sie seine weichen Lippen noch Stunden nach, die blauen, geradezu stechenden Augen Ferrys verursachten in ihr einen wahren Gefühlsausbruch. Sie war verliebt, bis über beide Ohren, in dieser unsagbar schönen Empfindung vergaß sie Raum und Zeit. Bis in den Haarwurzeln hinein bebte sie, schon alleine der Gedanke, dass sie ihn schon morgen wieder treffen würde, gab ihr keine Chance auch nur an Schlaf zu denken.
Von nun an trafen sie sich täglich am kleinen Bahnhof, plauderten über wesentliche Dinge, händchenhaltend stiegen sie in den Zug, stiegen nach der Fahrt aneinandergeklammert wieder aus, häufig begleitete er sie dann zur Schule, trug galant ihre Schultasche und ließ sie bis zu ihrem Ziel nicht aus den Augen. Er verabschiedete sich mit einem Küsschen und Franzine betrat glücksselig das Schulgebäude. Jede freie Minute verbrachten sie zusammen, wanderten durch die Wälder oder bestiegen die nahe gelegenen Berge, zeigte ihr die Schönheiten der Natur, das üppig vorhandene Tierreich, besuchten Filmvorstellungen und lud sie zum Eisessen und Kaffeetrinken ein.
Franzine schnitt am Ende des Schuljahres mit einem guten Durchschnitt ab, Ferry beendete seine Lehre mit Auszeichnung. Sie feierten im hiesigen Kaffeehaus mit einer Karaffe guten Rotweines und köstlicher Sacher Torte bis in die frühen Morgenstunden. Ein neuer Lebensabschnitt der beiden schien vorprogrammiert. Freya zeigte sich tolerant, sprach keine Verbote aus und ließ Franzine die nötige Freiheit, um sich mit Ferry zu treffen. Nach eineinhalb Jahren schien ihre Liebe gefestigt, nun war es an der Zeit sich beider Eltern vorzustellen, sie kennen zu lernen und ihre Zukunftsabsichten bekannt zu geben. Nie war es Ferry so ernst gewesen mit Franzine sein Leben zu teilen, mit ihr eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Dieser Wunsch brannte sich tief in seinem Herzen ein, die Vorstellung eines Tages Kinder mit ihr zu zeugen, wuchs zu einer fixen Idee heran.
Eines Nachmittags teilte er ihr schonend mit, dass er sie zu sich nach Hause mitnehmen wolle, seine Mutter hätte gebacken und wäre schon gespannt auf das hübsche Wesen, in das sich ihr Sohn unsterblich verliebt hätte. Auch sein Vater wäre entzückt sie endlich kennen zu lernen, schließlich hätte sein Sohn das Erwachsenenalter erreicht, was auch bedeutete, dass Ferry gewisse Verantwortungen übernehmen, sich ein Maß an Selbstständigkeit aneignen könne. Franzine willigte mit Vorbedacht ein, versuchte ihre Unruhe unter Kontrolle zu halten und bereitete sich innerlich auf das Treffen vor. Langsam machten sie sich auf den Weg, zwei Kilometer Fußmarsch lag noch vor ihnen. Ferry redete beruhigend auf sie ein, fasste sich ihre Hand, drückte sie sanft und Franzine schöpfte neuen Mut.
***
(1963)
Das auffallendste an Ferry waren seine hellblauen Augen. Nur selten lächelten sie oder brachten etwas Freundlichkeit an den Tag. Sie faszinierten durch einen stechenden Blick und hatten manchmal etwas abschreckendes, dämonisches an sich. Franzine gegenüber zeigte er sich stets von seiner besten Seite, nie vermutete sie auch nur die geringste böse Absicht dahinter, oder dass er sich ausfallend und herrschsüchtig seinen Mitmenschen gegenüber verhalten könne. Die jettschwarzen Haare, streng mit Pomade angefeuchtet und glatt nach hinten gekämmt, ließ sein Gesicht voll zur Geltung kommen. Seine schwungvollen dichten Augenbrauen verliehen ihm einen gewissen männlichen Reiz, der in der Damenwelt nicht verborgen geblieben war. Junge Mädchen, die ihm verliebte Blicke nachwarfen, traten sogleich den Rückzug an, wenn sie seine barsche, unhöfliche Ausstrahlung wahrnahmen. Andere wiederum schienen das zu ignorieren und verfolgten ihn auf Schritt und Tritt. Oft traf man ihn an verschiedenen Veranstaltungen an, wo er sich köstlich zu amüsieren schien, flirtete und manchmal mit einem der Mädchen einen langsamen Blues tanzte. Das Partyleben hatte auch die Provinz eingeholt, der Kultursaal der kleinen Gemeinde war jedes mal mit jungen, tanzfreudigen Menschen zum bersten voll. Ein junger Disc-Jockey legte auf einem Podium die neuesten Platten auf und die Menge tobte sich auf der Tanzfläche mit den ausgefallensten Tänzen aus. Der Rock’n’Roll hatte Hochkonjunktur. Die ersten langen Haare bei manchen, mutigen Männern wurden zur Schau gestellt, doch die Elvis-Tolle hatte immer noch die meisten Anhänger. Ferry blieb bei seiner Pomade und trug die wie feucht wirkenden Haare streng nach hinten gekämmt.
Frauen, die sich in den Vordergrund stellten und sich in eindeutiger Weise anboten, verabscheute er zutiefst. Er stempelte sie sogleich als billige Flittchen ab, musterte sie verächtlich von oben bis unten, dann kam ihm schon mal ein unflätiges Wort über die Lippen. Die gekränkten jungen Damen gaben entweder auf, oder fingen mit ihm einen Streit an, wobei die Beleidigungen seiner Worte die rasche Flucht der besagten Damen zur Folge hatte. Gefiel ihm ein Mädchen, dann wurde er zum Kavalier der besten Sorte, zu dem Typ Mann, den man nie wieder gehen lassen wollte. Und so kannten ihn seine Freunde, so nahm ihn seine Umwelt wahr, nur die Eltern wussten, wie es um ihn bestellt war, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen konnte. Seinen Jähzorn, seine Bereitschaft zur Gewalt, seine unkontrollierbaren Wutausbrüche von denen er nur schwer runterkam, lösten bei ihnen Ängste und Unbehagen aus. Obwohl er seine Schreinerlehre mit Auszeichnung bestanden hatte, verspürte er keine Lust weiterhin in dem Betrieb zu bleiben, oder sich eine andere Arbeit zu suchen. Der Freiheitsgeist hat von ihm Besitz ergriffen, seine Äußerungen sich auf Reisen zu begeben, wurde immer lauter. Er war jung, gutaussehend und seine Mutter Senta betrachtete ihn mit gewissem Stolz, den sie auch vor anderen Menschen nicht verborgen hielt, ihn rigoros lobte und ihn ins hellste Licht stellte. Sie versorgte ihn mit Geld, wenn er sich wieder pleite vor ihr aufbaute und sie um mehrere Hundert Schilling bat. Er fühlte sich noch zu jung um zu arbeiten, das könne er sich für den Rest seines Lebens für später aufheben, erst einmal das Leben genießen, danach wird sich schon was finden. Mit seinen 22 Jahren lag die ganze Welt vor ihm, die Arbeit liefe nicht weg, es gab vorerst andere Dinge die wichtiger sind als eine dauerhafte Beschäftigung. Sein Drang, hinaus in die Welt zu schweifen wurde zunehmend größer. Geld spielte dabei keine Rolle. Es funktioniert auch ohne Geld, und irgendwie wird es ihm gelingen, sich das Nötigste zu beschaffen und durchzukommen. Schließlich bliebe er ja nicht für immer weg, seine geliebte Freundin würde warten und sich freuen, wenn er wieder auftauche und sie in die Arme nehme.
Sie hielten vor einem grauen, gepflegten Haus inne in dem mehrere Parteien wohnten. Die Tür stand offen, eine abgetretene Holztreppe führte nach oben zu den Wohnungen. Ferry zog Franzine über die Eingangsstufe und führte sie in den ersten Stock. Das Holz knarrte, es roch nach frisch Gebackenen, irgendwo weinte ein Kleinkind, über ihnen übte jemand auf der Blockflöte.
„Nur Mut“, redete er ihr zu, „meine Familie wird dich herzlich empfangen, sie sind schon sehr neugierig auf dich, keine Angst, mein Schatz.“ Er zog leicht an Franzines Zopf, schüchtern nickte sie, ihr Herz klopfte schnell und sie befürchtete, dass man es durch ihre Bluse sehen könnte.
Ohne anzuklopfen traten sie ein, Stimmengemurmel trat aus der vor ihnen liegenden Tür, der Duft nach Zimt erfüllte die Luft. Gleich danach würde die Tür aufgerissen, eine dünne, weißhaarige Frau wischte sich rasch die Hände an der schwarzen Satinschürze ab und blickte freudig auf die Liebenden.
„Guten Tag Mutter, das ist Franzine, meine Freundin“, sagte Ferry kurz und blickte auf Franzine, die etwas gebeugt ihre Hand zum Gruß ausstreckte.
„Ich freue mich Sie kennen zu lernen“, ihre Stimme verlor sich beinahe und fast wäre sie in die Knie für einen Knicks gesunken. Sie schüttelten heftig die Hände, die weißhaarige Frau sah ihr lächelnd ins Gesicht, betrachtete die Zöpfe die ihr zu gefallen schienen. Franzine wurde rot, sie schämte sich, riss sich zusammen und lächelte ebenfalls.
„ Ah, Franzine, nicht wahr? Ich bin Senta, du darfst mich gerne so nennen, Mutter sagt mein Bub auch nur selten, aber kommt rein, nehmt Platz , Annelie, Pepp und Thorsten sind da, der Kaffee ist gleich fertig, der Apfelstrudel kommt auch bald aus dem Rohr, kommt näher, Tanno wird gleich zurückkommen, bitte setzt euch hin.“ Sie betraten eine geräumige Küche, um den großen Tisch in der Mitte saßen Ferrys Verwandte und starrten neugierig auf Franzine, die sich unsicher näherte und jeden einzelnen die Hand schüttelte und freundlich grüßte. Beide setzten sich dazu und Annelie stellte sich und ihre Familie vor.
„Das ist Joseph, mein Mann, wir nennen ihn alle Pepp, Ferrys Bruder, er sieht ihm zwar nicht ähnlich, aber irgendwie merkt man es schon. Neben mir sitzt mein Sohn Thorsten, unser Goldengelchen, er ist brav, lieb und ehrlich dank unserer Erziehung, wir sind alle sehr stolz auf ihn.“ Franzine betrachtete den dicken, kleinen Jungen der Schokobonbons futterte und so gut wie keinen Blick für sie übrig hatte. Gierig steckte er sich eins nach den anderen in den Mund, schmatzte und schluckte laut hinunter. Er muss so um die sechs Jahre alt sein, dachte Franzine und hielt sich ein lautes Lachen zurück. Pepp saß am anderen Ende des Tisches und nickte ihr zu.
„Du kannst gerne Annelie zu mir sagen, Thorsten, gib der neuen Tante doch die Hand, sieh mal wie hübsch sie ist und wie lang ihre Zöpfe sind, ich habe ja leider nicht so schönes Haar, Thorsten, sag guten Tag, sei ein braver Junge.“ Annelie bemühte sich umsonst, ihr kleiner Sohn schmatzte weiter, er schien die Worte seiner Mutter nicht gehört zu haben. Franzine erkannte, dass seine Mutter nichts ausrichten konnte, Ferry indessen blickte den Jungen mit zornerfüllten Augen an, Thorsten begann zu wimmern und schmiegte sich an seine Mutter.
„Er hat noch etwas Scheu vor dir, das gibt sich wenn er dich besser kennt“, entschuldigte Annelie das Verhalten ihres Sohnes und umarmte ihn zärtlich. Ferry verhielt sich still, er konnte die Auffassung Annelies nicht nachvollziehen, für ihn war diese Frau zu unfähig ihr Kind zu einem normalen Menschen aufzuziehen. Die Scham verbot ihm aufzubrausen und seine Meinung hinaus zu schreien. Unterdessen stellte Senta eine große Kanne Kaffee auf den Tisch und deckte die mit Vergissmeinicht geblümten Tassen und Unterteller vor jedem Gast auf. Aus dem Backrohr holte sie ein großes Blech mit Apfelstrudel heraus und der Duft dieses köstlichen Gebäcks strömte in den Raum. Jeder bekam ein großes Stück serviert, alle aßen mit großem Appetit, nur Franzine würgte jedes Stück tapfer hinunter. Ein lautes Poltern durchbrach die essende Runde und Ferrys Vater Tanno stürmte zur Tür herein.
„ Da komme ich ja genau richtig“, rief er, trat auf Franzine zu und umarmte sie mit festem Druck. Er roch nach Alkohol und Tannennadeln, mit dunkler Knickerbocker bekleidet, kräftig an Statur, ließ er sich auf einen Sessel nieder, aß zwei riesige Stück Strudel und unterhielt die Anwesenden mit Witzen und Anekdoten aus seinem Leben. Der Nachmittag verflog im Nu, es wurde erzählt, gelacht und sogar gesungen, Thorsten schunkelte mit seiner Mutter, Pepp und Ferry besprachen ihren nächsten Ausflug der sie auf den Gipfel einer Alpe führen sollte, Franzine und Annelie schlossen Freundschaft und verabredeten sich schon nächste Woche in Pepps und Annelies Haus das nur einige Kilometer talaufwärts leicht zu erreichen wäre. Nach Einbruch der Dunkelheit verabschiedete sich Franzine von Ferrys Eltern und Verwandten, er brachte sie wohlbehalten wieder nach Hause und Franzine meinte, das dies ein gelungener Nachmittag gewesen war. Endlich war es überstanden, das Kennenlernen seiner Eltern verlief besser als sie es sich vorgestellt hatte. Nun lag ihrer Zukunft mit Ferry nichts mehr im Wege, die Weichen sind gestellt, ein neuer Lebensabschnitt der sie glücklich werden ließe und natürlich Ferrys Anhängerschaft, die sie sofort ins Herz geschlossen hatten, bedeuteten für sie ein sicheres Leben mit ihm, den Mann, den sie über alles liebte und begehrte. Keine Macht der Erde könnte sie noch aufhalten.
Die Begegnung mit Franzines Mutter Freya verlief weniger erfolgreich. Wenige Tage nach Franzines Besuch bei Ferrys Eltern, vereinbarten sie bei ihr zu Hause den Tag, um ihren Zukünftigen Freya vorzustellen. Auch Freya servierte Selbstgebackenes, erzählte von Eduard, der nun nicht mehr am Leben war und betrachtete mit Sorge ihre Tochter. Ihr ist nicht entgangen
welchen Blick Ferry in manchen Situationen an den Tag legte. Sofort fielen ihr seine starr wirkenden Augen auf, seine manchmal schwer zu verbergende aufbrausende Art und die lieblos, oftmals spöttischen unüberlegten Worte, die aus seinem Munde hervor kamen fast beleidigend wirkten. Er lachte laut auf, als Freya unabsichtlich ihre schön gestickte Tischdecke mit Kaffee bekleckerte. Franzine schien es nicht zu stören, sie war zu beschäftigt ihrer Mutter den Nachmittag bei Ferrys Familie genauestens zu erzählen. Neugierig sah sich Ferry in der hübsch eingerichteten Wohnung um und musste feststellen, dass hier Geschmack vorhanden war. Liebevoll platzierte Blumentöpfe aus denen es grünte und blühte, echte Meissner Porzellanfiguren arrangierte Freya durchdacht an den Kommoden, in der Vitrine stapelten sich Teller und Tassen mit echten Goldrand. Neidvoll betrachtete er die kultivierte Einrichtung, die bei ihm zu Hause nicht mal annähernd aufzuweisen war. Hier spiegelte sich Harmonie und Stil wider, seine Bewunderung hielt er in Grenzen, sein einziger Kommentar, dass es hier sehr nett wäre, war alles, was über seine Lippen kam.
Nachdem er gegangen war, fühlte Freya Erleichterung, ein Gespräch mit Franzine war nun unvermeidlich, ihre Sorge um ihre Tochter und ihr ungutes Gefühl bei diesen Menschen mussten sich Luft machen.
„Setz dich Franzine, der Abwasch kann warten“, sie nagte an der Unterlippe und suchte nach Worten.
„Ja Mama, wie gefällt er dir? Ich bin so glücklich mit ihm, seine Familie ist wirklich nett, ich hatte mich umsonst auf das Treffen gefürchtet, aber du kennst mich ja, wenn das Eis einmal gebrochen ist, dann füge ich mich schnell ein, Mama, er ist der absolute Traummann für mich, mit ihm will ich mein Leben verbringen.“ Franzine strahlte, sie schrie ihr Glück beinahe hinaus.
„Überlege dir das gut Kind, du weißt, ich brauche nur jemanden in die Augen zu sehen, dann erkenne ich schon was mit einem solchen Menschen los ist, und ich bin mir sicher, er wird dir viel Kummer bereiten, das lese ich in seinem Gesicht ab…“
„ Du übertreibst Mama, du bist keine Hellseherin oder so was in der Art, wie kommst du nur auf diesen Gedanken? Er ist der fürsorglichste Mann den ich kenne, du weißt, dass wir schon fast zwei Jahre miteinander gehen, noch ist nichts geschehen, aber bald werde ich seine Frau sein, noch vor der Heirat, er hat mich nie gedrängt, aber ich will es, wir gehören zusammen, das weiß nun die ganze Welt, bitte trübe mein Glück nicht, ich muss noch immer meine Zöpfe tragen, er mag sie, hättest du gedacht das mich mit dieser Aufmachung ein Mann anspricht? Noch dazu dieser gutaussehende Kerl den ich damals schon von weitem anhimmelte? Du kannst dir nicht vorstellen wie glücklich ich bin, welchen jungen Mädchen passiert das schon? Er hat ernste Absichten mit mir, sonst hätte er mich schon längst in sein Bett gelockt. Du musst das doch verstehen, nicht wahr Mama?“ Franzine ließ sich nichts einreden, niemand durfte sich über Ferry beschweren.
„Er ist böse, er wird dich unglücklich machen, ich bin sehr besorgt um dich, von nun an habe ich keine ruhige Minute mehr, aber merk dir, vor deinem 21. Geburtstag habe ich noch das Recht falls er dich heiraten möchte, dass ich meine Einwilligung verweigere. Dich leiden zu sehen, das kann ich nicht ertragen.“ Freya war den Tränen nahe.
„Und was ist damit?“ schrie Franzine und zog an ihren beiden Zöpfen, „ diese Biester sollen doch auch so lange an meinem Kopf bleiben, du machst mir mein Leben kaputt“, weinend lief Franzine aus dem Wohnzimmer. Mit sorgenvollem Gefühl, machte sich Freya an die Arbeit.
Ferrys Ausdruck in seinem Gesicht ließ so manche zusammenzucken, doch wenn er seinen Mund zu einem Lächeln verzog, wurde selbst der hartnäckigste Zweifler beugsam und fand einen Funken Milde in seinem ausdrucksstarken Zügen, die sich nur selten herabließen um auf den Gegner mit Geduld einzugehen. Diplomatie war nie seine Stärke gewesen, seine mit Nachdruck gesprochenen Worte klangen fordernd und unberechenbar. Es fand sich kaum jemanden in seinem Umfeld, der ihm zu widersprechen wagte. Er strahlte Autorität und Härte aus, eine Handvoll Mitmenschen, zu denen er sich hingezogen fühlte, bewunderten seine Haltung, legten dies als innere Stärke und Selbstbewusstsein aus. Menschen, die ihm wohlgesonnen entgegentraten, belohnte er mit Zuneigung, seine gute Seite trat in den Vordergrund. Bei Franzine fühlte er sich sogar geborgen, hatte er doch schon längst entdeckt, dass sie fast aufopfernd um ihn besorgt war, ihre Liebe spürte und in ihr die Frau seines Lebens sah. Trotzdem hatte er nicht vor, seine bestimmten Freiheiten aufzugeben, sich gewisse Unabhängigkeiten zu bewahren. Der Drang in die Ferne zu schweifen überfiel ihn wie ein Regenschauer. Schon seit geraumer Zeit plante er nach Italien zu fahren, nach San Giovanni Rotondo, seinen lang gehegten Traum endlich wahr zu machen, dem von ihm bewunderten Geistlichen persönlich zu treffen und seine Wundmale aus der Nähe zu betrachten. Seine Gedanken kreisten um den populären Wunderheiler Pater Pio, seine Hochachtung an dem bedeutendsten Kapuziner kannte keine Grenzen, denn vielleicht, wenn Gott es will, besteht die Hoffnung auch seine Mutter Senta zu heilen, die an einer schweren Herzkrankheit und an Asthma litt. Oft fiel sie nieder und rang nach Luft, ihr Gesicht bläulich verfärbt, gab ein Bild des Entsetzens ab. Immer wieder schaffte sie es auf die Beine zu kommen, aber was, wenn eines Tages der Tod in sie fuhr, ihre Familie in Stich ließe und für immer fort wäre? Ferry war fest entschlossen so bald als möglich seine Reise anzutreten und Pater Pio um Hilfe zu bitten. Vorerst brauchte Franzine nichts davon zu erfahren, über Religion und seine Glaubensansichten hatten sie noch nie gesprochen. Das hat noch Zeit, wer weiß wie sie es aufnehmen würde, denn schließlich ist in ihrem Zuhause kein einziges Heiligenbild oder Kruzifix zu sehen gewesen.
Einige Tage später erstand er ein gebrauchtes Motorrad, das Senta und Tanno finanzierten, regelte die Anmeldung, bekam ein Nummernschild und schon bald konnte ihn niemand mehr aufhalten. Er kundschaftete die Reiseroute aus, studierte die Straßen nach Italien, rechnete den Benzinverbrauch aus, versuchte das Geld, das ihm Senta zusteckte, so gut wie möglich zu sparen. Von einem Freund bekam er eine Satteltasche geschenkt die er sich auf dem Gepäcksträger schnallte und die wichtigsten Habseligkeiten hineinstopfte. Der Tag der Abreise rückte näher, seine Vorstellungen eine gesunde Mutter durch die Wunderheilung Pater Pios zurück zu erhalten, war Priorität geworden, nichts anderes hat nun Vorrang, auch Franzine musste eine Weile warten, sie wird überrascht sein, was er dann zu berichten hätte. Dies würde sie in Staunen und Freude versetzen und einer Heirat stand dann nichts mehr im Wege. Ob sie das verstehen könnte? Vermutlich würde sie versuchen, ihn von seiner Reise abzuhalten, ja vielleicht sogar seinen Plan auszureden, Unverständnis ernten und vielleicht sogar darüber lachen. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen und beschloss, ohne jeglichen Abschied abzureisen und seiner Braut kein Sterbenswörtchen zu verraten. In ein paar Wochen würde er zurück sein, mit freudigen Nachrichten aufwarten, den romantischsten Heiratsantrag den man je gesehen hatte zelebrieren und Franzine den besten Ehemann abgeben, den die Welt je gesehen hat. Senta wird vor Gesundheit strotzen, dank seiner Fürsprache bei Pater Pio, auf den nun alle Hoffnungen ruhten. Das graue Motorrad war überladen, die Satteltaschen hingen dick an jeder Seite des Hinterrades herunter, die zusammengerollte Schlafmatratze war auf dem Gebäcksträger geklemmt. Ferry strahlte, es sollte eine abenteuerliche Reise nach Italien werden, die er nie vergessen sollte.
Ferry war wie vom Erdboden verschluckt. Franzine konnte es sich nicht erklären wo ihr geliebter Freund abgeblieben ist. Eine Woche war schon vergangen und er hatte sich nicht bei ihr gemeldet. Es verstrichen schon mal Tage, wo sie sich nicht trafen, drei oder vier, doch noch niemals blieb Ferry eine Woche ohne sie zu benachrichtigen fern. Sorge bereitete sich in ihr aus und Mutter Freya kam ihr kein Stückchen entgegen. Seine Eltern aufzusuchen wagte sie nicht, das käme einem Nachlaufen gleich, dieser Blöße wollte sie sich nicht aussetzen. Eine Woche ohne Ferry, sie hatte nicht die geringste Ahnung wo er sich aufhalten könnte.
„Du solltest dir keine Gedanken machen Franzine“, Freya sah dies mit erleichterten Gefühlen entgegen, „er wird schon wieder auftauchen, Männer sind nun mal so gebaut, sie kümmern sich nicht darum wie man dabei leidet und fühlen sich nicht verpflichtet, auch mal Bescheid zu sagen wenn sie anderwärtige Interessen haben. Ich denke, er braucht mal eine Auszeit von dir.“ Freya war sich nicht bewusst, wie tief ihre Worte in Franzines Herzen bohrten, die sich sofort einbildete, dass hier eine andere Frau im Spiel war. Sie saßen im Wohnzimmer, Franzine versuchte sich mit einem Buch abzulenken und Freya stickte an ihrem Tischläufer.
„Mama, wie kannst du nur? Ich mache mir die größten Sorgen und du sprichst von Auszeit, wenn er morgen noch immer fort ist, gehe ich zu seinen Eltern, mir ist es egal was die denken, auch was du denkst, ich kann nicht so einfach hier sitzen und gar nichts tun.“ Nervös strich sich Franzine über ihre Zöpfe, ihr Hass auf sie war ungebändigt, tief bohrte sie ihre Fingernägel in das Geflecht um sich abzureagieren.
„Ich gehe spazieren, ich halte es hier nicht aus, ich brauche Luft, vielleicht begegne ich ihm ja.“ Voller Hoffnung zog sie ihre Jacke und Schuhe an und verschwand nach draußen. Lange schlenderte sie durch den Ort, traf ehemalige Schulfreunde, ein paar Nachbarn liefen ihr über den Weg, doch Ferry blieb verschwunden.
Dann kam ihr ein rettender Gedanke, ja, seine Schwägerin, Annelie, sie hat mich ja eingeladen, ob ich zu ihr fahren und nach ihm fragen soll? Nicht lange überlegt, stieg sie in den nächsten Bus, der sie vier Stationen weiter den Weg zu Annelies Haus einschlagen ließ.
Schon bald hatte sie die kleine Siedlung am Ortsrand erreicht. Eine Zeile neuerbauter Reihenhäuser mit spielenden Kindern davor, bot ein gepflegtes und lebhaftes Bild. Einfamilienhäuser die mit einem Vorgarten und Umzäunung ausgestattet waren taten sich links und rechts auf. Fast am Ende des Weges stand Annelies und Pepps schmuckes Einfamilienhäuschen. Das Hausnummernschild 39 war groß über der Eingangstür mit verschnörkelten Ziffern angebracht. Ein riesiger Gemüsegarten mit exakt angelegten Beeten, Salat und Gemüsepflanzen in penetrant genauen Abstand, standen aufrecht und bereit zu reifen in der sorgfältig begossenen Erde. Da entdeckte sie eine gebückte Gestalt die sich mit flinken Händen in der Erde zu schaffen machte. Annelie war gerade dabei das letzte Unkraut aus dem Kohlrabi Beet zu jäten.
„Guten Tag Annelie“, rief Franzine, die keine Scheu zeigte und über den weiß gestrichenen Zaun blickte.
„Franzine, o das ist aber eine Freude, grüß dich Gott, ich bin gerade fertig geworden“, freudig legte sie ihre Handschuhe ab, die von der Erde dick bedeckt waren und lief zum Gartentor um Franzine einzulassen. Eine heftige Umarmung überraschte sie angenehm, Annelie war entzückt ihre Schwägerin in spe zu sehen.
„ Bitte komm herein, ich freue mich so auf deinen Besuch, Pepp und Thorsten sind im Wohnzimmer, tritt weiter bitte….“
Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatten führte sie Annelie in das Wohnzimmer das sich hell und geräumig präsentierte, das große Panoramafenster erfüllte den Raum mit warmen Sonnenstrahlen.
Franzine nahm Platz und Annelie wusch sich die Hände. Pepp kam dazu, sein dünner grauer Mantel war mit sämtlichen Farben bedeckt, er schüttelte Franzines Hand und zeigte sich ebenfalls erfreut.
„Ich male wieder ein Bild“, verriet er ihr, jetzt erblickte Franzine auch die Ölgemälde, die überall an der Wand angebracht waren. Landschaften mit herrlichen Gebirgsspitzen, die offene See mit einem altertümlichen Schiff, Pferdebilder, ein Dackel und zwei Katzen auf einer Wippschaukel, dahinter eine waldbewachsene Landschaft. Franzine staunte, sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Pepp stand lächelnd daneben und ließ sie seine Werke in aller Ruhe bewundern. Seine Initialen entdeckte sie rechts unten und die Jahreszahl seiner fertig gewordenen Kunstwerke.
„Sie gefallen dir, nicht wahr?“ Und ob sie das taten, ganz vertieft konnte sich Franzine kaum abwenden.
„Fantastisch, du bist ein echtes Talent, verkaufst du auch, oder veranstaltest Ausstellungen?“
„In unserer Sparkasse gibt’s in zwei Jahresabständen eine Vernissage, mit etwas Glück verkaufe ich auch ein paar Exemplare, leben kann ich davon nicht, ist auch nur ein Freizeithobby von mir, “ Pepp ließ seinem Stolz freien Lauf. Annelie kam zurück und hätte fast ihren Sohn Thorsten die Tür in den Rücken gerammt. Erst jetzt bemerkte Franzine, dass er bäuchlings mit unzähligen Buntstiften um sich herum auf den Fußboden lag und in einem Heft jede Seite mit einer anderen Farbe vollkritzelte.
„ Hallo Thorsten, ich hab dich gar nicht gesehen“, Franzine ging zu ihm hin um ihn zu begrüßen. Auf seinem Heft starrend nahm er keine Notiz von ihr. Sanft strich sie über seinem Kopf und lächelte ihn an. Er aber kritzelte ungestört in seinem Heft weiter. Annelie zuckte mit den Schultern, diesmal wies sie ihn nicht zurecht.
„Komm Franzine, lassen wir ihn, ich will seine kreative Entwicklung nicht unterbrechen, schließlich wäre es möglich, dass er seinem Vater nachgerät und ein berühmter Maler wird.“
Franzine nickte, nahm am großen Wohnzimmertisch Platz und dachte an ihr Anliegen, dass sich nun doch schwerer erwies, als angenommen.
„Willst du ein Glas Coca Cola, du musst sicher durstig sein“, Franzine nickte, „ ja, bitte“, eine Erfrischung wäre jetzt nicht das schlechteste. Annelie brachte ihr die wohlschmeckende Limonade. Thorsten wimmerte am Boden, auch er wollte etwas trinken und zeigte stumm auf das gefüllte Glas vor Franzine. Sofort sprang Annelie auf und rannte in die Küche.
„Ich hab ganz auf dich vergessen, mein Schatz, hier hast du auch ein Glas.“ Franzine trank einige Schlucke, es schmeckte köstlich. Thorsten leerte sein Glas in einem Zug, nahm mehrere Buntstifte in die Hand und bemalte seine Heftseiten weiter.
„Jetzt wo Ferry abgereist ist, fühlst du dich sicher einsam, ich hoffe nur, er kommt mit einer guten Nachricht wieder zurück.“ Franzine betrachtete Annelie verwundert, sie verstand kein einziges Wort, was Annelie ihr zu sagen versuchte.
„Wie bitte, was meinst du? Wo ist er?“ Fast in Panik nahm sie wieder ihr Glas und trank wieder einige Schlucke aus ihrem Glas.
„O, ich sehe du weißt es noch gar nicht, hat er dir nichts gesagt? Er ist mit dem Motorrad nach Italien aufgebrochen, er will Pater Pio aufsuchen, Senta ist schwer krank und er erhofft sich Heilung durch ihn. Er hat dir kein Sterbenswörtchen verraten? Das finde ich nicht gerade taktvoll von ihm.“ Annelie betrachtete sie erstaunt. Franzine fühlte einen Stich in der Magengegend, sie brauchte einige Sekunden um ihre Sprache wieder zu finden.
„Ich hatte keine Ahnung“, sagte sie leise, „auch nicht, das seine Mutter krank ist, Pater Pio, ich hab mal von ihm gehört, ist er wirklich auf den Weg dorthin?“ Franzine konnte sich kaum vorstellen dass ihr Freund diesen Unsinn ernsthaft in Erwägung zog. Skeptisch betrachtete sie Annelie.
„Er ließ es sich nicht ausreden, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann ihn keiner mehr aufhalten, er hat nicht viel Geld mitgenommen, er hofft auf Gnade und Hilfe, er wird sich schon durchschlagen, in ein paar Wochen ist er wieder zurück, du brauchst dir absolut keine Sorgen machen Franzine, vielleicht hat er Glück. Das Wohl seiner Mutter liegt ihm sehr am Herzen, sie zu verlieren könnte er nicht verkraften.“
Pepp saß stumm daneben und schüttelte den Kopf. Er konnte den Fanatismus seines Bruders ebenso wenig verstehen wie die anderen Familienmitglieder. Franzine war wie erstarrt. Ferry ein gläubiger Mensch? Warum hat er nie davon gesprochen? Warum wissen es alle, nur sie nicht? Weshalb hatte er es ihr verschwiegen? Ihr ungutes Gefühl wuchs zu einem unerträglichen Unwohlsein an.
Blass nippte sie wieder an ihrem Glas und wusste nicht was sie denken sollte.
„Ich sehe, das nimmt dich sehr mit“, meinte Annelie, besorgt strich sie ihr über die Schulter.
„Wenn er zurück ist, werde ich mit ihm sprechen müssen, ich habe für solche Geschichten nichts übrig, ich kann es nicht fassen, es ist so unwirklich für mich, an solche Sachen habe ich noch nie geglaubt, diese Seite an Ferry kannte ich nicht.“ Franzine fühlte Enttäuschung in sich aufsteigen.
„Andrerseits musst du bedenken, dass er seine Mutter liebt, er würde alles für sie tun, das zumindest lässt Ferry in einem guten Licht erscheinen, bedenke das bitte, er wird schon wissen, was er tut. Rede mit ihm, wir schafften es nicht, ihn davon abzubringen. Vielleicht hast du mehr Glück. Mein Mann und ich glauben auch nicht daran, Pepp ist ganz anders als sein Bruder, nun, er ist um drei Jahre älter, aber natürlich ist das kein Grund um wenigstens zu versuchen, ihn ein bisschen zu verstehen.“ Annelie richtete einen kurzen Blick zu Pepp.
„Mein Bruder ist besessen von diesem Pater, er liest zu viel von diesem Zeug, besorgt sich Bücher und Informationen aller Art von ihm, wir haben es aufgegeben ihn davon abzubringen.“ Pepp starrte ratlos vor sich hin und schüttelte leicht den Kopf. Franzines Unbehagen nahm Ausmaße an, fast spürte sie Brechreiz, als sie von Ferrys Besessenheit hörte. Konnte das alles wahr sein?
Thorsten drehte sich auf den Rücken und zerriss die Blätter von seinem Heft, warf sein leeres Glas um und sah kein einziges Mal zu ihnen herüber. Annelie versuchte Franzine zu trösten, mitfühlend strich sie immer wieder über ihre Schulter. Was tat sich hier auf? Was geht in Ferrys Inneren vor? Quälende Fragen bohrten sich in Franzines Gehirn. Kannte sie Ferry doch nicht so gut wie sie dachte?
„Natürlich verstehe ich, dass er seine Mutter liebt“, sagte Franzine leise, „ich verstehe nur nicht, dass ich nichts von seinen Glaubensinteressen weiß. Ich wusste nicht, wie weit er gehen würde, was, wenn er keine Hilfe von diesem Pater erhält? Was, wenn die Enttäuschung so groß ist dass er eine Dummheit begehen könnte? Und wenn ihm was passiert, einen Unfall hat oder umgebracht wird?“
„An so etwas darfst du nicht mal ansatzweise denken, er ist ansonsten klug, ihm wird nichts zustoßen. Ich sehe schon, deine Fantasie geht mit dir durch, du wirst sehen, er wird wohlbehalten wieder zurück sein.“ Annelie’s Worte taten ihr gut, positiven Einfluss konnte sie nun gut gebrauchen.
„Du hast recht, ich rege mich umsonst auf. Danke Annelie, ich werde versuchen das alles zu verstehen, es ist so neu für mich. Weißt du ungefähr wann er zurück sein wird?“
„Ich denke in vier oder fünf Wochen, vielleicht auch schon früher, er ist eben abenteuerlustig, das muss man einem Mann auch lassen, ein bisschen Freiheit gewähren und die Augen manchmal zudrücken, nicht wahr Pepp?“ Annelie blinzelte ihren Mann an der sich langsam erhob und wieder zu seiner Staffelei wollte.
„Hat mich sehr gefreut Franzine, komm bald wieder, du bist hier immer herzlich willkommen.“ Er verabschiedete sich von ihr mit einem sanften Händedruck und stieg in sein Atelier in den ersten Stock hinauf. Thorsten erhob sich vom Fußboden und schlenderte wie ein Betrunkener auf die beiden Frauen zu.
„Lass das Thorsten“, sagte Annelie, „ geh schön aufrecht, du wirst noch mal einen krummen Rücken kriegen.“ Er überhörte die Bemerkung und taumelte durch das Wohnzimmer, schlenkerte mit den Armen und versuchte das Geräusch eines Autos nachzumachen.
„Er macht nur Spaß, ich sehe ihn schon als einen berühmten Mann vor mir stehen, er hat nämlich viele Talente, man muss den Kindern ihre Freiräume lassen, findest du nicht?“
„Natürlich“, meinte Franzine und dachte bei sich, dass dieser Junge ein sonderbares Auftreten an den Tag legte.
Eine Woche später erreichte Ferry völlig erschöpft die Provinz Foggia in Süditalien. Hartnäckig sein Ziel verfolgend: das Krankenhaus Casa Sollievo della Sofferenza in San Giovanni Rotondo.
***
Sechs Wochen verstrichen ohne ein Lebenszeichen von Ferry. Franzine war am Ende aller ihrer Kraft. Nicht mal eine Karte hatte er geschickt. Sie verbrachte ihre Tage und Nächte mit kaum auszuhaltenden Sorgen um ihn, gab sich selbst die Schuld an seinem Verschwinden. Sie verzog sich in ihr Zimmer und war kaum ansprechbar. Freya litt mit ihrer Tochter, jeder Versuch ihr das Leben zu erleichtern schlug fehl. Fast bis zu einem Skelett abgemagert, lag Franzine in ihrem Bett und blickte leer an die Wand. Wenn Annelie nicht gewesen wäre und ihr dies nicht mitgeteilt hätte, sie hätte nicht die geringste Ahnung gehabt was mit ihm los war. Ferry, seine Nähe vermisste sie, die Ungewissheit schien sie fast zu töten. Die Angst um ihn lähmte ihr fast den Atem. Freya beschloss den Arzt zu rufen als Franzine schon tagelang das Essen verweigerte. Sie telefonierte bei einer Nachbarin, die ebenfalls besorgt den Kopf schüttelte. Doktor Mayer kam nach zwanzig Minuten und besah sich Franzine mit bedrückter Miene.
„Sie muss an den Tropf“, meinte er ungehalten, „ notfalls auch künstlich ernährt werden, du willst doch wohl nicht in die Psychiatrie. Ich werde Ihnen einen Rettungswagen schicken, ein paar Tage im Krankenhaus werden sie wieder aufpäppeln.“ Freya schlug die Hände vors Gesicht, das der Kummer bei ihrer Tochter solche Ausmaße angenommen hat, war ihr unerklärlich. Doktor Mayer gab ihr noch eine Bekräftigungsspritze und verabschiedete sich mit einem festen Handschlag. Franzine lag stumm da, ihre müden Augen waren nun geschlossen.
In der Zwischenzeit traf Ferry in seinem Heimatort ein. Zerlumpt, erschöpft und abgemagert steuerte er mit seinem Gefährt auf das Haus zu, indem seine Eltern lebten. Sein Gesicht war eingefallen und zerschunden, die Hände schwarz vom Motoröl, seine Hosen zerrissen, die dunkle Jacke hing an ihm herunter. Die Satteltasche schien leer zu sein, seine Schlafmatratze troff vor Schmutz. Kraftlos stellte er das Motorrad im Hof ab, langsam schritt er die Stufen zur Wohnung hinauf. Senta, die hocherfreut die Ankunft ihres Sohnes vom Fenster beobachtet hatte, lief ihm freudestrahlend entgegen. Gerade als sie die Eingangstür öffnete, kam Ferry schwankend über die Schwelle.
„ Sie haben mich nicht durchgelassen, sie haben mich nicht durchgelassen….“, rief er mit geschwächter Stimme und ließ sich kraftlos auf das kalkweiß gestrichene Bett in der Küche fallen.
(1969)
Franzine war inzwischen aufgestanden und stellte sich zum Fenster. Wie so oft blickte sie in den Wald, die leicht schwankenden Baumwipfel vermittelten ihr ein beruhigendes Gefühl. Dorothea hatte ihre Beine elegant übereinander geschlagen, legte sie etwas schief und saß wie eine richtige Italienerin auf der Bettbank. Franzine schwieg einen Moment um ihre Gedanken zu ordnen. Obwohl sie sich an jedes einzelne Detail entsann, fühlte sie sich schwach, die erste Hürde ihrer Beziehung mit Ferry hatte sie tapfer überstanden.
„Als er zurückkam war ich im Krankenhaus, ich konnte vor Schwäche kaum noch stehen, ich verweigerte jede Nahrung, ich trank nur noch ein paar Schlucke Tee pro Tag, nicht, dass ich es gewollt hätte, meine Speiseröhre war wie zugeklebt, ich konnte praktisch nicht schlucken.“ Langsam entfernte sich Franzine wieder vom Fenster und nahm neben Dorothea Platz.
„Ich kann dich nur bewundern Franzine“, meinte Dorothea und strich ihren blauen Kostümrock glatt, der unverkennbar, wie die dazupassende Jacke von Chanel stammte. „ Ich glaube kaum, das es sehr viele Frauen von deiner Sorte gibt, du wärst beinahe gestorben, aus lauter Liebe zu ihm, du fühlst jede Emotion doppelter als andere Menschen es vermögen, es kann Stärke versetzen, doch es kann auch vernichten.“
„Du hast recht Dorothea, es zerreißt mich innerlich jedes Mal wenn ich stark zu fühlen beginne, aber diese Erfahrung damals möchte ich trotzdem nicht missen, sie hat mich nur stärker gemacht.“
„Warum hat er dir nichts erzählt von dem was er vorhatte?“
„Er fürchtete, dass ich ihn zurückhalten würde, so wie seine Familie, außer Senta die ihm für die Reise ihr letztes Geld zusteckte, nicht weil sie darauf hoffte, dass sie durch diesen Pater geheilt werde, nein, sie gab es ihm aus abgöttischer Liebe zu ihm, nie schlug sie auch nur einen Wunsch von ihm ab, die beiden hatten ein besonderes Verhältnis zueinander.“
„Männer die eine zu gute Verbindung zu ihren Müttern haben, sind keine Männer….oh verzeih, ich hab jetzt nicht überlegt was ich sagte, du warst jung und verliebt…“, Dorothea blickte verlegen zu Boden.
„Schon gut Dorothea, du sprichst nur die Wahrheit. Jedenfalls blieb ich zwei Wochen im Krankenhaus, hing an Infusionen und manche Ärzte fragten mich über alles Mögliche aus. Was Organisches konnten sie nicht finden, ich hatte schon Angst dass sie mich mit dem „grünen Heinrich“ abholen kommen und mich in die Gummizelle stecken würden“, Franzine lachte, auch Dorothea lachte und die beiden Schwestern saßen beieinander, als wären sie all die Jahre nie getrennt gewesen. Bernadette spielte noch im Hof mit Pucki, es war schon fast Mittag vorbei und Franzine meinte, dass es Zeit wäre Bernadette zu holen und sie ihrer Tante vorzustellen. Im Treppenhaus traf sie Edna Edler die gerade einen alten, verschlissenen Teppich ausschüttelte. Staub wirbelte herum und Franzine rief nach Bernadette, die sogleich zur Stelle war.
„Sie können auch baden, unten im Keller gleich um die Ecke rechts, die weiße Tür, Sie brauchen aber einen Schlüssel dazu. Ich habe einen, ich borge ihn Ihnen gerne zum nachmachen“, meinte sie hervortuend während sie den Teppich wie wild ausschüttelte.
„Danke Frau Edler, ich wusste nicht, dass es hier ein Badezimmer gibt.“ Franzine hustete, der Staub trat in ihre Lungen und Bernadette lief die Treppe herauf.
„Na ja, Badezimmer ist zu viel gesagt“, meinte Edna, grinste und wollte schon in ihre Wohnung gehen als Dorothea in der Tür erschien. Den Mund weit offen, betrachtete Edna die elegante Frau die freundlich zu ihr rüberblickte und grüßte. Die Schwestern blickten sich an und lachten ungeniert. Edna Edler verschwand in ihrer Wohnung, Bernadette war unterdessen in die Wohnung gerannt. Ihre Finger waren rot von der Kälte, ihr Gesicht überhitzt, die Rennerei mit Pucki schien ihr nichts ausgemacht zu haben.
„Komm bitte her Bernadette, ich möchte dir eine sehr liebe Tante von dir vorstellen. Das ist meine Schwester, Tante Dorothea.“ Neugierig kam sie näher und reichte der von ihr schon vorhin begegneten Dame die Hand, setzte zum Knicks an und sagte: „Guten Tag, Tante Dorothea“, während sie gleich darauf wieder an Dorotheas super hohen Schuhen hinunterblicken musste.
„Wenn du groß bist, wirst du auch solch hohen Schuhe tragen“, meinte Dorothea und drückte das Mädchen zärtlich an sich. Franzine unterdrückte die Tränen der Rührung, servierte das Geschirr ab und setzte sich danach wieder hin.
„ So“, rief Dorothea, „es wird Zeit das wir ins Restaurant kommen, ich sterbe vor Hunger, du bestimmt auch, nicht wahr Bernadette, Franzine du natürlich auch“, sie lachten und Bernadette hüpfte herum, sie freute sich schrecklich auf dieses Erlebnis, auswärts essen zu gehen, bedeutete Wohlstand.
„Krieg ich auch Schlagsahne?? Bitte, bitte…..“, bettelte sie und Dorothea meinte, so viel sie wolle, bis ihr schlecht wird, auch ein großes Stück Torte dazu. Bernadette umarmte die neue Tante, küsste sie auf die Wange während sie wieder auf die hohen Schuhe an Dorotheas schlanken Füßen blickte.
Sie zogen sich ihre Jacken an, Franzine blieb in ihrem weiß-schwarzen Pepitakleid, das ihr Ignazia überlassen hatte, die Taille eng mit einem Lackgürtel zusammengeschnürt. Am Auto angekommen öffnete Dorothea den Kofferraum und beförderte eine große, rote glänzende Tüte zu Tage, sorgfältig mit purpurroten Taftband zugebunden, überreichte sie es Bernadette, die ein lautes, erstauntes Einatmungsgeräusch von sich hab und es freudig entgegennahm.
„Nicht alles auf einmal aufessen, versprichst du mir das?“ Dorothea blickte sie mit gespielter ernster Miene an.
„Mama, schau nur, ich habe ein Nikolauspaket bekommen, vorne sind der Krampus und der Nikolaus drauf, so ein großes hab ich noch nie gesehen.“ Bernadette freute sich wie eine Schneekönigin, sie konnte es kaum erwarten die prall gefüllte Tüte aufzumachen. Sie stiegen ein und fuhren sogleich los. Im gelben Haus aus dem Parterrefenster guckte ein kurz geschnittener, blonder Struwwelkopf neugierig heraus. Tanja hatte alles von der Ferne beobachten können. Sicher würde sie jetzt vor Neid platzen, dachte Bernadette und lächelte aus dem Autofenster hinauf zu Tanja, die für einige Augenblicke staunend dem Auto nachblickte. Schnell und sicher fuhr Dorothea durch einige Ortschaften die sie noch in Erinnerung hatte. Als Kinder mit der Klasse waren sie mehrmals da gewesen, damals im Sommer als der Blumenschmuck an den Häusern, jedes dicht mit Hängepflanzen und prachtvollen, blühenden Blumen an Balkonen und Fenstersimsen ausgestattet, das eine oder andere, zu übertrumpfen versuchten.
Vor einem schlossähnlichen Haus hielt Dorothea an.
„Da wären wir“, sagte sie vergnügt, „ bitte alles aussteigen und mir zu folgen.“ Franzine kam aus dem Staunen nicht heraus, Bernadette hüpfte aus dem Wagen. Das Restaurant gehörte der gehobenen Klasse an und Franzine fühlte sich hier fehl am Platze. Dorothea schien ihre Gedanken erraten zu haben.
„Das ist genau das richtige für uns, nur keine Angst meine Beiden, es wird euch bestimmt wundervoll gefallen, heute haben schlechte Gedanken keine Chance bei uns.“ Dorothea nahm beide in die Arme, schlenderten auf den mit beiderseits ausgestatteten, leuchtenden Nadelbäumen, den ebenfalls beleuchteten Eingang zu. Sie betraten einen gemütlichen Gastraum, hell, mit dunklen Tischen und Stühlen eingerichtet, Kerzen standen auf jedem der Tische, blütenweiße Tischtücher, die fast bis auf den Boden reichten, mit exakt genauen Bügelfalten waren darüber gelegt.
„Na kommt, beeilen wir uns, ich habe den Tisch zwar reservieren lassen, aber mein Magen hat schon einen rebellischen Schrei losgelassen.“ Sie lachten und marschierten schnurstracks an den Tisch den Dorothea reservieren ließ. Ein Täfelchen mit gemalten Blümchen stand in der Mitte, schräg mit verzierten Buchstaben stand „RESERVIERT“ kunstvoll darauf geschrieben.
„Wo willst du sitzen Bernadette“, fragte Dorothea und sah sich um. Franzine stand etwas verunsichert hinter ihr und wagte sich kaum einen Schritt nach vorne zu machen. Bernadette zeigte auf einen Sessel in Fensternähe. Sie nahmen Platz und schauten zur Theke, wo sich zwei Serviererinnen angeregt unterhielten. Einige Tische waren besetzt und fast auf jedem der Tische war das Kärtchen zu finden.
„Mama, was ist reserviert?“ flüsterte Bernadette Franzine zu.
„Das ist, wenn du eine Sache für einen bestimmten Zeitraum in Anspruch nehmen willst, siehst du, hier steht Tante Dorotheas Name darauf, die Uhrzeit wann wir ihn brauchen ist angegeben, dann kann keine andere Person den Tisch besetzen.“
„Keine andere Person darf dann bei uns sitzen?“ fragte Bernadette neugierig.
„Mit Erlaubnis des Gastes natürlich, wenn er ihn einladen will, aber nicht davor, verstehst du was ich meine?“ Bernadette nickte, sie dachte einen Augenblick nach dann sagte sie: „ Hin setzen darf sich kein anderer bevor wir da sind, jetzt weiß ich es.“
„Du hast eine sehr kluge Tochter“, meinte Dorothea und betrachtete Bernadette voller Stolz.
Die Bedienung kam, legte zwei kunstvoll in Leder gebundenen Speisekarten auf den Tisch und fragte nach den Getränken. Sie bestellten zwei Gläser Weißwein und Bernadette bekam Himbeersaft mit Mineralwasser aufgespritzt, was überall als „Kracherl“ bekannt war. Die sprudelte Kohlensäure hat es ihr angetan, langsam ließ sie die kleinen Bläschen auf ihre Zunge zerplatzen. Nachdem sie das Glas abgesetzt hatte lachten beide Frauen auf, das tiefrote Getränk zauberte einen rötlichen Schnurrbart über Bernadettes Oberlippe.
„Was meinst du Franzine, wollen wir es mit einem französischen Essen versuchen? Schnecken, Ente und Crepe Suzette? Du wirst begeistert sein, sieh mal, sie haben verschiedene Spezialitäten aus anderen Ländern anzubieten, italienisch, griechisch, mexikanisch und natürlich französisch. Ich kann dir nur empfehlen, die französische Küche auszuprobieren, es wird dir bestimmt schmecken.“ Dorothea zeigte ihr die Angebote und Franzine nickte einverstanden.
„Schnecken, oh ich weiß natürlich das sie eine Delikatesse sind, ich wäre nie auf die Idee gekommen diese schleimigen Tiere zu kochen.“ Sie lachte, ein Versuch war es auf alle Fälle wert.
Sie gaben die Bestellung auf, die Vorspeise wurde sobald aufgetragen, drei kleine Pfännchen auf einem Silberteller, jedes mit sechs kleinen Öffnungen wurde serviert. Schnecken in Kräuter-Knoblauchbutter, es bruzelte noch aus den Öffnungen und der köstliche Geruch stieg ihnen in die Nase. Dazu gab es Weißbrot, ein kleines Gabelchen lag daneben und zum ersten Mal in ihrem Leben probierten Franzine und Bernadette die knusprig gebackenen Weinbergschnecken.
„Das muss ich unbedingt Tanja erzählen“, rief Bernadette freudig aus, „ die wird sich wundern das ich schon Schnecken gegessen hab.“ Gekonnt führte sie die kleine Gabel in ihrem Mund und verdrehte die Augen, es schmeckte fantastisch. Franzine brachte drei Stück hinunter, obwohl es ihr mundete, verspürte sie kaum Hunger. Die Ente a la Orange mit Kartoffelgratin und verschiedenen feinen Salaten aß sie umso lieber. Bernadette war entzückt, noch nie hatte sie so ein gutes Essen vorgesetzt bekommen. Das Dessert, Crepe Suzette die flambiert serviert wurden, versetzte Bernadette in freudiges Erstaunen. Satt und zufrieden gab es als Abschluss einen süßen Cherry, auch Bernadette durfte ein Schlückchen kosten. Den halben Nachmittag verbrachten sie im Restaurant, Bernadette bekam noch ein großes Stück Elsässer Gugelhupf mit einer großen Portion Schlagsahne dazu. Nach dem Kaffee brachen sie auf, zufrieden und glücklich fuhr sie Dorothea wieder nach Hause. Tanja blickte wieder aus dem Fenster und Bernadette sah wieder aus dem Auto zu ihr hinauf und rieb sich dabei ihr Bäuchlein.
In dieser ausgelassenen Stimmung vergaßen sie vollständig auf das bevorstehende Problem. Keiner dachte in diesem Augenblick daran, dass Bernadette mit Tante Dorothea mitgehen musste, es ihr so schonend wie möglich beizubringen und ihr verständlich machen, dass sie für acht Monate von ihrer Mutter weggeholt wird. Die Stimmung war mit Glücksgefühlen durchtränkt, das Lachen schallte von den alten, von den weiß gekalkten Wänden wider, gesättigt und voller Zufriedenheit saßen sie in der großen Küche und die Fröhlichkeit hatte überhand genommen. Nachmittags spielten sie „Schwarzer Peter“, das Kartenspiel, dass auch Bernadette schon früh gelernt hatte und das altbekannte „Mensch Ärgere Dich Nicht“ Brettspiel. Bernadette vermochte die Kästchen vollständig aufzuzählen, sie wusste genau, wenn sie ein Kegelchen wieder in ihr Haus zurückstellen musste, dass sie gefeuert wurde und wieder von vorne ihr Glück versuchen musste. Das alte Radio war eingeschaltet. Der alte Hit von Silvana Magnano, „Anna“, ein feuriger Rumba der zwischen den fünfziger Jahren Schlagern temperamentvoll ertönte, ließ die ausgelassene Frauenrunde wohlgemut mitschunkeln.
….Hay! Tengo ganas de bailar…..lauthals versuchte Bernadette den Text mitzusingen, mit gerötenden Wangen klatschte sie in die Hände, das Lied brachte sie alle in Bewegung.
....Un nuevo compas, Dicen todos cuando me venpasar....
Dorothea verstand die gesungenen Worte Silvana Magnanos, lachte laut und überließ Bernadette ihre eigene Formulierung.
…. Chica, donde vas….
…. Me voy p'a bailar….
…. El bayon! ....
Sie vergaßen völlig die Zeit, draußen war es stockdunkel. Um halb neun Uhr abends saß Bernadette mit halb zugefallenen Augen bei Tisch. Dorothea hatte noch unterwegs einige Kuchenstücke besorgt, die Reste lagen noch auf den Tellern, Bernadette aß als einzige ihr großes Stück auf.
„Nun wird es Zeit für unsere Kleine“, meinte Dorothea und stapelte die Teller auf. Nachdem sie sie in der Spüle abgestellt hatte, führte sie ihre Nichte in das Schlafzimmer. Franzine folgte und zog Bernadette das Nachtgewand an. Dorothea lächelte glücklich.
„Rutsch in die Mitte, wir beide kommen bald nach, schlaf schön“, Franzine küsste sie auf die Wange und Tante Dorothea tat es ihr nach. Bernadette gehorchte und rieb sich müde die Augen.
„Gute Nacht, meine Kleine“, Dorothea drückte sie noch fest an sich.
„Gute Nacht Tante Dorothea, gute Nacht Mama“, sagte sie schläfrig und schloss die müden Augen. Die beiden Frauen gingen leise in die Küche zurück.
Plötzlich überfiel Franzine eine heftige Traurigkeit, schon morgen wird sie ihre Tochter für lange Zeit nicht mehr sehen. Dorothea bemerkte ihren Zustand, mitfühlend nahm sie ihre Schwester in die Arme und versuchte sie zu trösten.
„Ihr wird es an nichts fehlen, mein Mann richtet schon ein nettes Zimmer für sie her, wir werden alles tun, damit sie glücklich ist, bitte mach dir keine unnötigen Sorgen. Deine Arbeit hat nun Vorrang, lebe dich erstmal ein, wenn sie zurückkommt findet sie eine strahlende, schöne Mutter vor. Wir werden es schaffen, beide, du brauchst nun Kraft, es wird alles gut gehen.“ Stumm nickte Franzine, ein schwaches Lächeln brachte sie zustande und umarmte ihre Schwester.
„Morgen müssen es wir ihr sagen, ich weiß nicht wie sie es aufnehmen wird, sie war noch nie von mir getrennt. Sie ist ein tapferes Mädchen, ich hoffe nur, dass ich das Weinen zurückhalten kann wenn sie in das Auto steigt. Nein, das wird nicht funktionieren, ich sehe mich schon als heulendes Elend….Dorothea, du musst mir helfen.“
„Das ist doch selbstverständlich, wir beide werde es ihr schonend beibringen, es war ganz gut, dass wir es ihr nicht schon heute gesagt haben, sie war so fröhlich, es war richtig, also nun lächle wieder, du wirst sehen, dass sie womöglich Freude daran haben wird mit mir mitzufahren. Acht Monate, die gehen auch vorbei, das ist kein großer Berg den man nicht bezwingen kann.“
„Ich werde mich zusammenreißen, ich werde es durchstehen, mein Kind in guten Händen zu wissen ist sehr viel wert. Ich danke dir, Dorothea.“ Neuer Mut machte sich in Franzine breit, sie atmete tief ein, Tränen standen in ihren braunen Augen, doch sie fühlte sich elend.
Bernadette war aus dem Bett gekrochen und trippelte leise zur Tür. Sie hörte die beiden Frauen sprechen und verharrte wie erstarrt in der Dunkelheit. Was hatte ihre Mutter da eben gesagt? Sie würde weinen?
„Ich helfe dir natürlich morgen Bernadettes Sachen zu packen, wir werden nur das Nötigste mitnehmen, sie wird ganz neu eingekleidet, sie wird sich freuen wenn wir beide in Venedig einkaufen gehen. Oder wir fahren nach Udine hinauf, das wird ihr bestimmt gefallen. Nun bitte keinen Trübsinn mehr, es wird sich alles zum Besten entwickeln, ich kann dir das versprechen.“ Leise hörte Bernadette Dorotheas Stimme durch die Tür.
„Nur der Augenblick des Abschieds wird mich zerreißen, das verstehst du doch, nicht wahr Dorothea?“ Verzweifelt hielt sie ihre Schwester fest.
„Natürlich verstehe ich das gut, aber mach dich doch nicht fertig, morgen wird es anders aussehen, bitte vertraue mir. So, und jetzt möchte ich deine Geschichte weiterhören. Was passierte mit Ferry als er nach Hause kam? Wie ging es mit euch beiden weiter?“
Bernadette hatte sich wieder ins Bett gelegt. Völlig verstört flossen ihr die Tränen über die Wangen. Sie musste morgen mit Tante Dorothea mitfahren, sie musste weg von ihrer Mutter, weg von Tanja, weg von Pucki. Hatte sie das nur geträumt, oder war es Wirklichkeit. Leise schluchzte sie in ihr Kissen. Für wie lange musste sie wegbleiben? Für immer? Endlich schlief sie ein, während Stimmfetzen ihrer Mutter leise durch die Tür drangen.
Unwirsch, mit dumpfem Knall, ließ Edna Edler ihr Bügeleisen auf das Brett fallen. Ihr Mund war nach unten gezogen, mit schwungvollen Bewegungen ließ Edna das Bügeleisen auf Udos Arbeitsanzug hin und her gleiten. Nicht ganz sauber, war sie doch gewillt, ihrem Mann den blauen Overall so gut als möglich glatt zu bügeln. Udo, der wieder sein gewöhnliches Bier trank, am Tisch lümmelte und so tat, als würde er in der Zeitung lesen, brummte vor sich hin.
„Ah, hörst du“, Edna schnaubte, „jetzt ist es endlich still da drüben, na, die haben ja toll gefeiert, so was dummes, was hat die denn schon zu feiern? Weißt du was? Die ist ihrem Mann weggelaufen, ja, so sieht sie mir aus, diese hoch frisierte Möchtegernstrahlefrau! Ignazia hat wohl einen Knick in der Pupille!“ Sie stieß einen Schrei aus, sah gegen die Tür und war aufgewühlt mit ihrer Arbeit beschäftigt.
„Kannst du nicht einmal still sein und Ruhe geben? Lass sie doch, ist doch schon ruhig drüben.“ Gelangweilt blickte Udo wieder in seine Zeitung.
„Und was, wenn es noch immer laut wäre? Das möchte ich sehen, wenn du morgens in aller Frühe deine verzerrte Visage aus dem Bett zerrst.“ Edna war außer sich vor Wut.
„Ruhe!“ schrie Udo und knallte mit seiner geballten Faust auf den Tisch.
„Schrei nicht so, drisch nicht so herum, Curd schläft nebenan, und hau mir meine Möbel nicht kaputt, verdammt noch mal!“ Edna konnte sich kaum beherrschen.
„Das liebe Söhnchen wird nicht aufwachen, hat du nicht bemerkt, dass er immer wortkarger wird? Weißt du, was ich glaube?“ Udo drehte sich Edna und ihrem Bügelbrett zu und grinste.
„Was weißt du schon, na, sag es mir doch, aber keine Umschweife diesmal, ich kenne dich doch, deine Antworten muss man sich erst zusammenreimen.“ Nun hatte auch Edna ein Grinsen um ihren Mund. Doch böse blickte sie zu Udo hinüber.
„Nun…wenn du es noch nicht bemerkt hast, mir ist es schon aufgefallen, dein Sohn, unser Sohn, hat sich…..sagen wir mal, sich wieder umgesehen.“ Udos spöttisches Grinsen hasste Edna, sie hasste sein aufgedunsenes Gesicht, sie hasste seine ständig verschmutzten rauen Hände, und jetzt verfluchte sie ihren Ehemann, in dieser Minute hätte sie ihn am liebsten angesprungen und ihm die Gurgel zugedreht.
„Was zum Teufel meinst du, was ist mit Curd los? Umgesehen, wonach? Sag mal, willst du mich ärgerlich machen? Mach keine Witze mit mir.“ Sie stand steif bei ihrer Arbeit, ihre Augen auf Udo gerichtet, die reine Neugierde verriet. Jeden Moment könnte Udo aufspringen und ihr eine Ohrfeige mitten ins Gesicht schlagen. Doch er blieb sitzen.
„Meine Liebe“, er räusperte sich laut, „ unser Ableger hat sich in unsere neue Nachbarin verguckt.“
Edna hielt inne, sie war plötzlich ganz still, sah nach der Schlafzimmertür hinter der Curd vermeintlich schlief. Sie dachte nach, sie bügelte und hustete. Dann, nach einigem Überlegen nickte sie….lächelte mit ihrem faltigen Mund und rief: „Fantastisch. Hast du die Frau gesehen, die heute zu ihr gekommen ist? Das muss eine reiche Witwe sein, ich hab das so im Gefühl, sie sehen aus wie Zwillinge, wenn die andere besser beinander wäre natürlich, aber eines weiß ich: Sie sind verwandt miteinander.“
„Hör auf zu träumen und mach mein Zeug fertig“, Udo sprang auf und spuckte in die Spüle, drehte das Wasser auf und ließ seinen Auswurf in den Abfluss fließen.
„Eigentlich habe ich gar nichts dagegen“, meinte Edna, „auch wenn der kleine Balg da ist, ich finde sie süß, wenn Curd sie haben will, ich stehe ihm nicht im Wege.“
„ Du sollst mein Gewand fertig machen, außerdem habe ich für deine Spinnereien nichts übrig! Geh in den Keller, nimm den großen Korb mit und bring mir Bier herauf, es ist unfasslich was du dir da zusammendichtest…!“
Udos Geduld war zu Ende, seine Frau konnte man nur als berechnend beschreiben. Wen kümmert es schon, wen Curd nach seiner Scheidung wieder auserwählt? Er sollte sich doch erholen, für eine neue Beziehung hätte er zumindest jetzt keine Zeit, keinen Bedarf. Selbst der dümmste Mensch sollte in dieser Situation Verständnis haben, auch Edna, die gerade Udos blauen Arbeitsanzug faltete und ihn auf die Bank neben den Tisch hinlegte.
Curd saß gebeugt in seinem Bett. Er hatte alles mithören können und rieb sich gedankenvoll die Augen. Er verspürte Müdigkeit, eine lang anhaltende Müdigkeit, die nicht weichen wollte. Er nahm das Glas Wasser vom Nachttisch und trank einen großen Schluck daraus. Nein, dies sollte nur eine kurzfristige Lösung sein, das Leben bei den Eltern, die alles sind, nur nicht aufgeschlossen oder weltoffen, musste baldmöglichst der Vergangenheit angehören. Enge, drückende Gedanken, die die Seele zuzuschnüren versuchten, wollte er nicht in sein Inneres lassen. Hatte er nicht schon diesen Ausdruck bei seiner neuen Nachbarin entdecken können? Es war wohl schon zweimal, als er ihr im Treppenhaus begegnet ist, sie hatte immer freundlich gegrüßt, sie war immer adrett und sauber angezogen, sie lächelte und sie hatte eine Tochter, die genau in dem Alter sein musste, als seine eigene Frau das Kind vor Jahren verloren hatte. Eine Frau die es schwer hatte, eine Frau, die ihr Leben zu meistern versuchte. Genau das, was ein Mann wie Curd sich immer vorgestellt hatte, eine Frau, die sich nie unterkriegen lässt.
Edna schaltete das Bügeleisen aus, ging in den Vorraum, nahm den großen geflochtenen Korb und begab sich, fest auf den Stufen aufstampfend, wieder in den Keller hinab.
„Sie steigt schon wieder in den Keller“, meinte Franzine, als sie Ednas Schritte vom Stiegenhaus durch die Tür hörten. „ Hörst du sie wie sie aufstapft? Sie holt das Bier, ihre Männer haben immer Durst.“ Dorothea lachte, „Man will nicht glauben, wie manche Menschen arm an Verstand und Interessen sind.“ Und damit gab Franzine ihrer Schwester Recht.