Читать книгу kurzgeschichtet - Anita Koschorrek-Müller - Страница 11
ОглавлениеDer Weberknecht
Müde stand ich im Bad vorm Waschbecken. Als ich mein Gesicht im Spiegel erblickte, war ich erschüttert.
„Mein Gott, sehe ich alt aus“, schoss es mir durch den Kopf. „Erschöpft, müde.“
Gestern sah ich noch jünger aus, aber das war 24 Stunden her. Ich putzte meine Zähne, spülte den Mund, warf den Kopf in den Nacken und gurgelte. Mein Blick streifte die Decke und ich zuckte zusammen. In der linken Zimmerecke, über dem Waschbecken, saß eine Spinne. Eine von dieser dünnen Sorte mit staksigen, klapprigen acht Beinen.
Ich hasste Spinnen. Es hatte sich tief in meine Erinnerung eingegraben, wie meine Mutter früher ihren Pantoffel auszog, draufhaute und so diese hässlichen Tiere ins Jenseits beförderte. Übrig blieb ein Fleck auf der Tapete, an dem ich manchmal, außer dem dicken Klecks, noch ein dünnes Knickbein erkennen konnte.
Ich hatte mir in meiner ersten Wohnung eine sauberere Methode angewöhnt, diesen Tieren den Garaus zu machen. Ich nahm den Staubsauger mit dem langen Rohr, betätigte den roten Kippschalter, saugte den widerlichen Gast ein und meine Tapete sah aus, als hätte es nie ein Spinnentier gegeben. Mit den Jahren fand ich diese Methode der Spinnenbeseitigung zu brutal. Ich dachte mit schlechtem Gewissen an das angesaugte Tierchen, das mit dem Luftstrom durch das Rohr katapultiert wurde und dessen Überreste im Staubbeutel landeten. Ich überwand meine Abneigung, nahm die Spinnen seither mit einem Handtuch von der Wand und schüttelte sie aus dem offenen Fenster. Diese Methode fand ich tapetenschonend und human, obwohl sich meine Wohnung im ersten Stock befand.
Ich war stolz, meine Spinnenphobie in den Griff bekommen zu haben. Zumindest so weit, dass ich nicht in Panik verfiel und mit kühlem Kopf die barmherzige Beseitigung des ungebetenen Gastes durchführen konnte.
Nun stand ich müde vorm Waschbecken und die Spinne saß so weit oben in der Ecke, dass ich nicht heranreichen konnte. Ich hatte keine Lust, auf einen Hocker zu steigen, den ich zu allem Übel erst holen musste, um das Tier zu entsorgen.
„Wart‘s ab, meine Liebe! Morgen bist du reif“, drohte ich der achtbeinigen Kreatur und ging zu Bett. Trotz meiner Müdigkeit konnte ich nicht einschlafen. Vieles ging mir durch den Kopf, auch die Spinne.
Wieso nannte ich sie „meine Liebe“? War es denn ein Weibchen? Oder waren Spinnen geschlechtslos?
Nein, das konnte nicht sein. Es gab doch diese „Schwarze Witwe“, die nach der Begattung das Männchen fraß. So ein Miststück! Kaum hat sie ihren Spaß gehabt, frisst sie ihren Kerl auf. Abartig!
Das Biest in meinem Badezimmer war bestimmt ein Weibchen, so zart wie die gebaut war. Eine Nacht gönnte ich ihr noch in meinem warmen Bad mit fließendem Wasser.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich frisch und erholt. Ich putzte mir mit Elan meine Zähne, spülte gurgelnd den Mund aus und schaute in die linke Zimmerecke. Die Spinne war weg.
„So ein Luder!“
Suchend schaute ich mich um. Nichts konnte ich entdecken, was auf eine Spinne hindeutete, kein Netz, keine langen gesponnenen Fäden, nicht der Hauch eines Spinnenbeins. Zu blöd! Ich wusste, ich würde nun tagelang jedes Mal, wenn ich das Bad betrat, eine Sichtkontrolle durchführen, bis ich die Spinne, es handelte sich um einen Weberknecht, auch Schneider oder Opa Langbein genannt, vergessen hatte.
Eines Tages würde sie wieder erscheinen, wie aus dem Nichts, sie oder eine ihrer Schwestern.
„Wieso“, dachte ich erneut, „war ich mir so sicher, dass es sich bei meinem Weberknecht um ein Weibchen handelte? Es heißt zwar DIE Spinne, aber DER Weberknecht!
Die Artikel in der deutschen Sprache sind sowieso wahllos gesetzt und was ist Weberknecht überhaupt für eine Bezeichnung, der Knecht des Webers oder die Magd der Weberin?“
Alles Quatsch! - Meine Spinne hieß Amanda und war weiblich. Punkt!
Zwei Tage später war Amanda wieder da. Sie saß in der Ecke über der Toilette und beobachtete mich neugierig.
„Amanda, so etwas tut man nicht“, sagte ich und wies das unerzogene Geschöpf in seine Schranken. Ich war in Eile, hatte keine Zeit mich um sie zu kümmern, und so bekam ihr Auszug einen Aufschub.
Am Samstag putzte ich das Bad und das war der Tag unserer Trennung. Amanda saß über dem Spiegelschrank und schnarchte leise vor sich hin. Mit einem besonders flauschigen Handtuch nahm ich sie von der Wand und schüttelte sie aus dem geöffneten Fenster. Sie würde den Fenstersturz sicherlich gut überstehen, denn meine jetzige Wohnung befand sich im Erdgeschoss.
Mit Adleraugen beobachtete ich die Steinplatten vorm Badezimmerfenster. Es dauerte eine ganze Weile bis ich sie entdeckte. Amanda humpelte, gestützt auf ein Stöckchen, auf die Hauswand zu.
Oh, Gott, sie hatte sich beim Sturz verletzt oder mein Griff mit dem doch so weichen Handtuch war nicht locker genug gewesen und ich hatte eines ihrer zarten Beinchen abgeknickt.
Ich blickte genauer hin. Tatsächlich, das dritte linke Bein war ausgekugelt und stand etwas schief vom winzigen Körper ab. Was hatte ich nur getan? Ich fühlte mich schuldig. Mit Entsetzen sah ich, dass sie begann die Wand zu erklimmen. Es sah ganz danach aus, als wollte sie wieder in mein Badezimmer gelangen. Ich erstarrte.
„Nein, Amanda!“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Du bleibst draußen.“
Doch sie kletterte weiter die Wand hinauf, winkte mir mit ihrer Krücke zu und rief mit zartem Stimmchen: „Bitte lass mich rein! Ich bin‘s Amadeus, dein Haus-Weberknecht!“
Schweißnass erwachte ich, sprang aus dem Bett und rannte ins Bad. Gott sei Dank, da saß sie noch, Amanda, links oben über dem Waschbecken und schlief.