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Ein toller Hecht

Eine Woche Urlaub an der Nordsee im November. Warum nicht? Meine Unterkunft, die Pension „Kleine Möwe“, ist einfach, aber gemütlich, sauber und preiswert. Im Ort ist nicht viel los. Einige Geschäfte sind geschlossen, denn wer fährt schon im November an die Nordsee?

Die wenigen Menschen am Strand, die sich gegen die steife Brise stemmen, sind eingepackt in dicke Mäntel, Mützen und Schals. Gestern lachte die Sonne vom strahlend blauen Himmel und ich sah, wie sich zwei ganz hartgesottene Burschen, nur mit Badehose bekleidet, in die Fluten stürzten. Heute peitscht der Wind dunkle Wolken landeinwärts und die Sonne hält sich versteckt.

Fünf Minuten mit dem Fahrrad von der „Kleinen Möwe“ entfernt liegt das Hallenbad, das ich in dieser Jahreszeit dem offenen Meer vorziehe. Jeden Morgen, nach dem ausgiebigen Frühstück in meiner netten Pension, fahre ich mit dem Hollandrad zum Schwimmbad. Ich bin, wie in den vergangenen Tagen, einer der ersten Badegäste, und so mache ich es mir erst mal auf einer der Liegen bequem. Mit vollem Magen soll man nicht ins Wasser gehen. Ich warte ab, verdaue und beobachte die anderen Badegäste, die nach und nach die Schwimmhalle betreten. Vermutlich alles einheimische Dauerkarten-Inhaber und auch ein paar Urlauber sind dabei, so wie ich. Zwei ältere Damen ziehen bereits hoch erhobenen Hauptes ihre Bahnen, sonnenbankgebräunt, abgehärtet und quatschen 25 Meter hin und 25 Meter zurück, ohne Atemnot. Ein älterer Herr pflügt elegant durchs Wasser.

Am Rand des Beckens steht ein Mann mittleren Alters, unterhält sich mit dem Bademeister und vollführt Dehn- und Streckübungen. Jetzt wippt er auf den Zehen. Auf und nieder, immer wieder. Ist wohl ein ganz sportlicher, ein toller Hecht. Er schreitet zur kalten Dusche und lässt sich das Wasser auf die beginnende Glatze, den Rücken und auf den Bauchansatz prasseln. Mit einem nicht sehr eleganten Kopfsprung vom Startblock taucht er dann ins kühle Nass.

Ich verlasse meine Liege und gehe erst mal zum Warmduschen, kaltes Wasser ist mir ein Gräuel. Danach steige ich über die Leiter ins Schwimmbecken und freue mich auf den Luxus eines beheizten 25-Meter-Beckens, das ich mir nur mit vier anderen Schwimmern teilen muss. Erst fröstele ich noch ein wenig. Ich muss mich als passionierte Warmduscherin immer erst warmschwimmen. Bald habe ich meinen Rhythmus gefunden und ziehe mit kräftigen Schwimmstößen meine Bahnen. Nach der ersten Wende bemerke ich, dass der Fußwipper vor mir schwimmt. Sein Schwimmstil ist etwas unruhig und seine Bugwelle würde jedem Lastkahn auf dem Rhein Konkurrenz machen. Nach einigen Metern bin ich auf gleicher Höhe, ziehe an ihm vorbei und gelange so in ruhigeres Fahrwasser. Vor ihm zu schwimmen ist wesentlich angenehmer, als in seinem Kielwasser zu kraulen. Ich konnte nie besonders gut schwimmen, nur so für den Hausgebrauch, aber diesem tollen Hecht bin ich überlegen.

Ob er das verkraftet? Nein, er tut es nicht! Nach der ersten Wende bemerke ich, dass sein Schwimmstil hektischer wird, und er versucht mir nachzusetzen. Eigentlich mag ich es nicht, dieses Wettkampfverhalten, wer ist schneller, stärker, ausdauernder? Doch der Fußwipper belehrt mich eines Besseren. Plötzlich ist es mir wichtig, dass er mich nicht einholt, geschweige denn überholt. Ich lege noch ein bisschen zu! Nach zwanzig Bahnen komme ich mir irgendwie dämlich vor. Wem will ich denn etwas beweisen? Habe ich das nötig? Ich lege mich auf den Rücken und gleite zum Beckenrand. Mein Verfolger naht, wendet und gibt nochmal richtig Gas. Jetzt will er wohl demonstrieren, dass er noch was draufhat. Ich schwimme gemütlich ein paar Bahnen und mache am Beckenrand ein paar Lockerungsübungen. Er kommt angeschnauft, hängt sich auch an den Beckenrand, zieht seine Schwimmbrille aus und beobachtet mich aus den Augenwinkeln. Er hat gewonnen! Ich gönne ihm den Triumph.

Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Dieses Gesicht habe ich schon mal gesehen, doch hier im Wasser, mit nassen Haaren und den roten Kringeln vom Gummirand der Schwimmbrille um die Augen, kann ich ihn nicht zuordnen. Er hat bemerkt, dass auch ich ihn beobachte.

Schwungvoll stemmt er sich hoch, knallt, ohne eine Miene zu verziehen, sein Schienbein gegen den Beckenrand und verlässt das kühle Nass. Federnden Schrittes begibt er sich zur kalten Dusche. Er ist nicht sehr groß. Wären seine Beine parallel zueinander angelegt und würden im Bereich der Knie nicht auseinanderdriften, wäre er einige Zentimeter größer. Unter der Dusche vollführt er eine Art Veitstanz. Er hält den Kopf leicht geneigt, hüpft auf einem Bein, steckt den Finger ins Ohr und schüttelt sich. Auch ich habe manchmal nach dem Schwimmen Wasser im Ohr, bekomme aber mit weniger aufwändigen Übungen meine Gehörgänge wieder frei.

Ich verlasse ebenfalls, natürlich über die Leiter, das Schwimmbecken, mache einen großen Bogen um die kalte Dusche und freue mich schon aufs Warmduschen.

Eine halbe Stunde später gehe ich mit dem guten Gefühl, etwas für mich getan zu haben, zum Fahrradschuppen neben dem Hauptgebäude. Der Wind ist stärker geworden. Hoffentlich komme ich noch trocken in meine Pension. Zu spät! Erste dicke Tropfen fallen vom Himmel und dann schiebt sich eine Regenwand von der See her über den Deich. Auf dem Parkplatz geht ein Mann in sportlichem Outfit nervös hin und her und trotzt dem Regen. Es ist der wippende Kaltduscher, der tolle Hecht. Dann wird es ihm wohl doch zu nass, und er spurtet mit großen Schritten über den Platz zum Fahrradschuppen, um sich unterzustellen. Der Regen prasselt vom Himmel auf das Kunststoffdach über unseren Köpfen, und wir müssen, um keine nassen Füße zu bekommen, zusammenrücken. Er ist größer, als ich dachte. Wir sind fast auf Augenhöhe. Er hat braune Augen.

Sein Handy klingelt, und er tritt einen halben Schritt zur Seite. Mehr geht nicht, denn um uns herum haben sich große Pfützen gebildet.

Ich werfe einen Blick auf seine Schuhe, Sportschuhe mit Plateausohlen. Was es nicht alles gibt? Das ist auch die Erklärung für sein plötzliches Wachstum.

Mit dem Handy am Ohr wird er ziemlich laut.

„Es ist mir unbegreiflich, weshalb du das immer noch nicht hinkriegst. Wir haben das doch schon tausend Mal geübt! Wärst du rechtzeitig losgefahren, ehe es anfing zu regnen, hätte ich das Dach zumachen können. Aber nein, alles wieder auf den letzten Drücker! Jetzt stehe ich hier seit einer Viertelstunde, wie bestellt und nicht abgeholt, und du kommst mal wieder zu spät.“

Er schweigt, lauscht und runzelt seine hohe Stirn.

„Nein Gisela, ich gehe nicht zu Fuß bei diesem Wetter! Was denkst du dir überhaupt. Jetzt geh rüber zu Lüdenscheidts und bitte Herrn Lüdenscheidt, dass er dir behilflich ist und dann holst du mich sofort ab.“ …

„Ja, ich weiß, dass der ein Idiot ist. Wenn du dich nicht so dumm anstellen würdest, bräuchtest du auch nicht die Hilfe eines Idioten. Gisela, jetzt tu, was ich dir sage!“

Das Telefongespräch ist beendet. Arme Gisela, die hat es jetzt aber auf die Ohren gekriegt. Der tolle Hecht ist auf 180!

„Es ist nicht zu fassen! Frauen und die Technik!“, ereifert er sich weiter.

„Moment mal“, melde ich mich zu Wort. „Keine Verallgemeinerungen bitte!“

„Jetzt haben wir seit vier Wochen einen neuen SLK, und meine Frau ist immer noch nicht in der Lage, das Dach zu schließen!“, erklärt er mir aufgebracht.

Worüber spricht dieser Mann? Was ist ein SLK mit Dach? Dazu fällt mir nur SKL ein und das heißt Süddeutsche Klassenlotterie, aber davon redet er bestimmt nicht. Ich vermute, dass es sich bei SLK um ein Auto handelt, vielleicht ein Cabrio?

Ich wechsele das Thema.

„Warum fahren Sie denn nicht mit dem Fahrrad? Hier an der Küste ist das Radwegenetz doch so gut ausgebaut, und für die Fitness ist es in jedem Fall von Vorteil. Oder besitzen Sie kein Rad?“

„Selbstverständlich besitze ich ein Rad, sogar zwei. Wir sind vorgestern erst angekommen und da habe ich mein Tourenrad erst mal zur Inspektion gegeben.“

„Ach, Sie machen hier Urlaub?“, frage ich nach. „Da bringt man doch eigentlich sein Fahrrad vor der Reise in Ordnung?“

„Wir kommen seit Jahren hier an die Küste, besitzen hier ein Ferienhaus. Nichts Großes, gerade mal 120 Quadratmeter Wohnfläche, und wir waren leider den ganzen Sommer in den USA. Das Tourenrad stand hier in der Garage und musste nun dringend überholt werden. Mein anderes Rad ist ein Triathlon-Rad“, erklärt er mir, während er milde lächelnd mein Hollandrad mustert, „also für Spazierfahrten vollkommen ungeeignet.“

„Ach, Sie machen Triathlon? Das hätte ich nicht gedacht! Na, hoffentlich können Sie besser Radfahren als Schwimmen!“

Das hat gesessen! Ich muss doch diesen Angeber auf Plateausohlen von seinem hohen Ross runterholen.

Ich lächle ihn an, den tollen Hecht. Seine braunen Augen werden dunkler, aber das kommt vielleicht vom Schatten der letzten Regenwolke, die der Wind zur Seite schiebt.

Er sucht nach Worten, doch in diesem Moment kommt ein silbergraues Cabrio angebraust.

„Ich werde abgeholt“, verabschiedet er sich knapp. „Auf Wiedersehen!“

„Ich muss auch los. Es hat aufgehört zu regnen. Schönen Tag noch“, antworte ich und schiebe mein Hollandrad aus dem Fahrradständer.

Der tolle Hecht geht zu seinem SLK und öffnet die Fahrertür.

„Steig aus! Ich fahre!“, kommandiert er seine Gisela. Gisela, klein und moppelig, steigt aus, wirkt etwas abgehetzt und antwortet: „Ja, Arno!“

Ich bleibe stehen, beobachte den Fahrerwechsel und habe ihn erkannt. Arno Schmidt, Schmidt mit d t, aus meinem Heimatort, dessen Mutter den Schreibwarenladen an der Ecke hatte. Toto, Lotto, Zeitschriften und Rauchwaren. Arno, der mit den braunen Augen und den O-Beinen, in den ich mal verknallt war, vor mehr als vierzig Jahren. Wir wurden nie ein Paar, weil Arno sechs Zentimeter kleiner war als ich. Damals dachte ich, ich würde daran zu Grunde gehen.

Mit einem Kavaliersstart braust der SLK vom Parkplatz. Ich blicke ihm lächelnd hinterher. Ich bin mir sicher, durch diese sechs Zentimeter ist mir einiges erspart geblieben, wohl auch ein Ferienhaus an der Nordseeküste. Ungeachtet dessen bin ich dem Schicksal dankbar.

Das Leben hält doch immer wieder Überraschungen bereit. Manchmal heißt die Überraschung Arno Schmidt, der gerne an die Nordsee fährt, im November.

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