Читать книгу Finn und Tea bei den Kreuzrittern - Anja Obst - Страница 2
ОглавлениеAls Finn die Augen öffnete, sah er das Klettergerüst und das kleine Karussell vor sich. Moment, wie komme ich denn plötzlich auf den Spielplatz, dachte er. Ein Quietschen unterbrach seine Überlegungen und er drehte sich in die Richtung des Geräuschs. Niemand außer ihm war auf dem Spielplatz. Trotzdem bewegte sich die Schaukel ganz leicht. Finn steckte den rechten Zeigefinger in den Mund, hob ihn über seinen Kopf und murmelte dann:
»Hm, windstill.«
Wieso bewegte sich die Schaukel?
Er ging auf sie zu und bemerkte den schwarzen Lappen in der einen Ecke des Sitzbretts. Der Zweig am Boden kam ihm gerade recht. Vorsichtig stocherte er in dem Lumpen herum. Nichts passierte. Noch einmal bohrte er in das schwarze Etwas, diesmal kräftiger.
»Aua!«
Finn sprang intuitiv einen Schritt zurück. Mit dem Zweig wie ein Schwert auf den sprechenden Lappen gerichtet, blieb er lauernd stehen.
»Der wird dir nichts nützen«, sagte der Lappen.
Etwas Helles wühlte sich durch den schwarzen Stoff und fuchtelte dann wild hin und her. Gerade, als Finn sich fragen wollte, was das Ganze bewirken sollte, brach der Zweig bis auf ein klitzekleines Reststückchen zwischen seinen Fingern ab.
»Hey!«, entfuhr es ihm ungewollt. »Was soll das?«
»Das könnte ich dich genauso fragen. Einfach so auf unbedarfte Leute einstechen, wo kommen wir denn dahin?«
Es kam Bewegung in den Lappen. Das Helle entpuppte sich als Hände, die damit begannen, den schwarzen Stoff zu ordnen. Zwei Füße mit schwarzen Schuhen sowie einer roten und einer grünen Socke tauchten auf. Die eine Ecke des Tuchs war in Wirklichkeit ein langer, spitzer Hut, der auf einem runden Kopf mit einer riesigen Nase saß. Das Knäuel stellte sich auf seine Füße, wobei die Schaukel wieder quietschend vor und zurück schwang. Mit einer bogenförmigen Armbewegung aus dem Lappen kam sie abrupt zum Stillstand. Finn musterte das Ergebnis.
»Du bist eine Hexenpuppe.«
»Schlaues Kerlchen, Finn! Ich heiße Tea.«
»Ich heiße, äh, woher weißt du meinen Namen?«
»Ich weiß gaaaaanz viel!«, prahlte die knapp zwanzig Zentimeter große Puppe.
»Ach ja? Dann sag mir doch, wie alt ich bin.«
Tea gähnte. »Das ist viel zu einfach«, beschwerte sie sich. »Du bist noch acht, aber morgen wirst du neun.«
Finn überlegte. Dass er morgen Geburtstag hat, weiß ja wirklich die ganze Straße. Was würde sie wohl unmöglich wissen können? Er grinste.
»Wie heißt meine Mutter mit Mädchennamen?«
»Bärmann«, antwortete Tea in Sekundenschnelle.
Finn zog die Augenbrauen nach oben. Woher wusste sie das?
»Und meine Klassenlehrerin?«, fragte er etwas kleinlauter.
»Schulte.«
»Ha, falsch! Sie heißt Arnold!«, feixte Finn.
»Ja, jetzt, aber vor ihrer Hochzeit hieß sie Schulte.«
Mist! Da hatte Finn sich selbst ausgetrickst. Ob ihr Name vorher Schulte gewesen war, müsste er sie erst fragen.
»Gute Idee«, mischte sich Tea in seine Gedanken. »Aber sie wird sich wundern, warum du das wissen willst.«
Stimmt, dachte Finn. Aber Moment, woher wusste die Puppe, was er gedacht hatte?
»Ich sagte doch schon, ich weiß gaaaaanz viel.«
»Was ist das hier nur für ein bescheuerter Traum«, murmelte Finn und spielte dabei mit dem abgebrochenen Zweig in seiner Hand.
»Das ist kein Traum.«
»Natürlich ist das ein Traum. Es gibt keine sprechenden Puppen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das weiß doch jeder!«
»Na, dann werde ich dich eines Besseren belehren, und zwar . . . «
»Jetzt!«
»Happy birthday to you! Happy birthday to you! Happy birthday, lieber Fihinn, happy birthday to you!«
Finn riss die Augen auf und schaute in die strahlenden Gesichter seiner Eltern. Seine Mutter hielt eine Kirschtorte mit neun brennenden Kerzen in der Hand, sein Vater wedelte hinter ihr mit zwei bunt verpackten Geschenken.
»Alles Gute, mein Sohn!«, rief die Mutter, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss. Die Torte schlingerte auf dem Teller gefährlich nah an den Rand.
»Danke, Mama. Vorsicht!«
Schnell griff Finn zum Teller, damit sein Lieblingskuchen mitsamt der Kerzen nicht noch auf seiner Bettdecke landet. Ein Holzstückchen fiel dabei, von allen unbemerkt, zu Boden.
»Herzlichen Glückwunsch, Finn!«
Nachdem der Vater die Geschenke auf sein Bett gelegt hatte, umarmte auch er seinen Sohn.
»Mach auf!«
Finn nahm das größere der beiden Päckchen, riss es auf und warf das Papier einfach neben sein Bett. Seine Enttäuschung war nicht zu übersehen. Er hatte gehofft, die ersehnte Ritterburg in den Händen zu halten, stattdessen war es ein schweres Buch.
»Weil du doch immer so viel fragst, dachten wir, ein Lexikon könnte dir Spaß machen.«
Finn ließ die Seiten mit den vielen Bildern, aber noch viel mehr Text, durch seine Finger laufen und stoppte. Ausgerechnet die Seite mit dem Eintrag über die Kreuzritter lag nun offen vor ihm. Er nahm das kleinere der beiden Geschenke. Dies konnte unmöglich eine ganze Ritterburg sein. Es war auch viel zu leicht. Er warf das Geschenkband zu dem zerknüllten Papier auf dem Boden.
»Schmeiß doch nicht alles so achtlos hin, Finn!«
Seine Mutter sammelte kopfschüttelnd das Geschenkpapier auf.
»Der halbe Wald liegt ja auf deinem Bettvorleger«, und dabei präsentierte sie Finn das Holzstückchen auf ihrer Hand.
Das kann doch nicht sein! Finn starrte auf die Reste des kleinen Astes aus seinem Traum. Wie kommt der auf einmal in die Hand von seiner Mutter?
»Was ist denn los? Du bist ja ganz weiß auf einmal!«
»Äh, nichts.«
»Pack doch weiter aus!«, ermunterte ihn sein Vater.
Finn nickte und bemühte sich, diesem kleinen Zweig keine weitere Beachtung zu schenken. Als der Karton endlich ausgewickelt war und Finn ihn herumdrehte, entfuhr ihm ein Schrei. Hinter der durchsichtigen Plastikverpackung stand Tea.
»Nun, gruselig sieht sie schon aus«, bemerkte sein Vater, »aber doch nicht zum Schreien.«
»Ich war gerade mit ihr zusammen«, stammelte Finn und zog die Bettdecke ein Stückchen höher, »auf dem Spielplatz.«
»Du musst geträumt haben, Finn.« Seine Mutter strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Aber es fühlte sich so echt an.«
»Manchmal scheinen Träume sehr realistisch. Das ist normal, und, ja manchmal auch verwirrend im ersten Moment, wenn man wieder wach ist.«
»Sie sah genauso aus. Haargenau!«
Finns Eltern warfen sich einen argwöhnischen Blick zu. Kann es sein, dass ihr Sohnemann die Wohnung vor seinem Geburtstag schon nach den Geschenken abgesucht hatte?
»Hexen sehen doch alle gleich aus«, sagte seine Mutter.
»Ähnlich, ja, aber nicht exakt gleich«, beharrte Finn. »Tea hatte auch eine rote und eine grüne Socke an.«
»Tea?«, fragten seine Eltern unisono.
»So hatte sie sich vorgestellt.«
»Ach, ihr habt auch miteinander gesprochen? Was hat sie denn gesagt?«
»Na, dass sie Tea heißt«, Finn zog die Stirn kraus, »und dass sie gaaaaanz viel weiß.«
»So, so«, murmelte der Vater, »dann hätten wir uns das Lexikon ja sparen können.«
»Papa, du nimmst mich nicht ernst!«
Finns Mutter drehte ihren Kopf zur Seite und tat, als ob sie husten müsste.
»Was ich ernst nehme«, sagte sie dann bemüht locker, »ist eine gute Grundlage für den Tag. Lasst uns endlich frühstücken!«
Finns Vater zog die Decke weg und hob seinen Sohn aus dem Bett. Heute durfte er zur Feier des Tages im Schlafanzug frühstücken. Über die Schulter seines Vaters warf Finn einen letzten Blick auf die Packung mit der Hexenpuppe, die halb unter der Decke vergraben war. Nur den langen Hut und das Gesicht bis zur Nase konnte er hinter dem Plastik sehen. Ihm war, als ob sie ihm zuzwinkerte.
»Ich weiß, das meiste kann man auch im Internet finden, aber ein Buch ist noch immer etwas Handfestes, oder?«
Finns Mutter hatte gerade den letzten Teller in die Spülmaschine gestellt und stand nun hinter ihrem Sohn. Finn saß noch am Esstisch und schmökerte in dem neuen Lexikon. Wenn Bilder von Schiffen und Burgen zu sehen waren, blätterte er immer etwas langsamer.
»Stimmt«, pflichtete er ihr bei, »zum Lesen finde ich Bücher auch oft besser als einen E-Reader. Aber die sind halt praktisch.«
Finns Mutter legte ihre Arme um seine Schultern und fragte fast beiläufig:
»Die Puppe gefällt dir nicht so sehr, oder?«
»Geht so.«
»Du hast ja auch Recht, was will ein Junge schon mit einer Puppe.«
Die Mutter lächelte.
»Aber als ich sie im Laden sah, musste ich an das Mobile denken, das über deinem Babybett hing. Erinnerst du dich? Da hingen statt der üblichen Tiere oder Monde und Sterne Halloween-Figuren dran. Hexen, Magier, Gespenster und so. Mit denen hattest du, als du dann größer warst, auch noch lange Zeit gespielt. Vor allem mit der Hexe, die die schwarze Katze auf der Schulter hatte. Du hast ihr sogar einen Besen gebastelt.«
»Ja, stimmt, an die Figuren erinnere ich mich.«
Finn zögerte.
»Dass sie eine Puppe ist, stört mich ja auch gar nicht.«
Etwas unbehaglich löste er sich aus der Umarmung und drehte sich zu seiner Mutter.
»Sie ist nur so unheimlich.«
»Weil du sie schon vorher gesehen hattest?«
»Ja, genau!«
»Bist du sicher, dass du nicht den Karton schon zufällig hier irgendwo gesehen hattest?«
»Ganz bestimmt nicht! Ich suche nicht mehr nach Geschenken, ehrlich!«
Die Peinlichkeit, als er vor dem letzten Weihnachtsfest beim Stöbern in den Schränken seiner Eltern erwischt wurde, trieb ihm noch nachträglich die Schamesröte ins Gesicht.
Die Mutter setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Dann ist es natürlich ein sehr großer Zufall, dass du ausgerechnet in der Nacht zu deinem Geburtstag von dieser Hexe träumst.«
»Es war kein Traum!«
Finn sprang auf und wühlte im Mülleimer.
»Hier«, rief er dann und hielt das kleine Holzstückchen nach oben, »mit diesem Zweig habe ich in sie reingepiekst, aber sie hat den einfach mit ihrer Zauberkraft zerbrochen. Das ist alles, was davon übrig ist.«
Er setzte sich wieder an den Tisch.
»Den kannst du doch irgendwann vom Spielen draußen mit reingebracht haben.«
»Nein, ganz sicher nicht!«
Finn stütze seinen Kopf auf die Hände.
Seine Mutter fegte einige Brötchenkrümel vom Tisch und schlug vor:
»Komm, wir packen sie gemeinsam aus, ja? Willst du sie holen?«
Finn nickte zögerlich.
»Soll ich mitkommen?«
»Quatsch!«
Vermutlich hat sie sowieso Recht, und er hatte sich alles nur eingebildet. Er hat doch keine Angst vor einer Puppe!
Nicht ganz so schnell wie sonst ging Finn die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Vor der offenen Tür blieb er stehen. Was, wenn sie doch lebendig ist? Und sogar nur darauf wartet, dass er alleine zurückkommt? Will sie ihn vielleicht verzaubern? Ihn in eine hässliche Kröte verwandeln wie im Märchen?
Finn hielt vor seiner Tür inne und reckte seinen Kopf nur so weit ins Zimmer hinein, bis er das Ende des Bettes sehen konnte. Die Schachtel lag noch immer halb verdeckt an der gleichen Stelle. Auch konnte er den schwarzen Schatten des Hutes unter der Folie erkennen. Finn schob seinen rechten Fuß zur Türschwelle und lauschte. Erst war alles still. Dann hörte er ein dumpfes Klicken. Danach ein leises Rauschen, das immer stärker wurde. Plötzlich verschwand das Rauschen und eine Art Summen erklang. Finn fixierte die Schachtel. Hatte sie sich bewegt? Nein! Aber woher kamen die Geräusche? Wieder ertönte ein Klicken und gleich darauf erneut. Das Summen setzte abermals ein. Er drehte leicht den Kopf und war dann sicher: Das kommt nicht aus seinem Zimmer. Finn stutzte kurz und schlug sich dann mit der Hand an die Stirn. Natürlich, in der Küche hatte das Lieblingsgerät seiner Mutter mit der Arbeit begonnen: die Spülmaschine!
Laut stieß Finn den angehaltenen Atem aus. Nur Prinzen werden verzaubert, aber keine Geburtstagskinder, redete er sich ein. Mit diesem Gedanken betrat er sein Zimmer, griff seinen Pullover, der auf dem Stuhl lag, und warf ihn auf die Schachtel. So verpackt schnappte er sich den Karton und lief hinunter in die Küche.
»Oh, gut, dass du dir deinen Pulli mitgebracht hast. Nur im Schlafanzug könnte es vielleicht doch schnell kalt werden«, empfing ihn seine Mutter. S
ie klappte das Lexikon zu und zog Finns Stuhl neben ihren.
»Ja, unheimlich sieht sie schon aus«, bestätigte die Mutter, nachdem Finn die Schachtel auf den Tisch gelegt und den Pullover angezogen hatte. Sie schob ihm den Karton zu. Noch stehend öffnete Finn die Schachtel und zog die Puppe heraus. Irgendwie kam er sich albern vor. Es ist schlicht eine Puppe. Mehr nicht.
»Oma und Opa kommen!«, rief der Vater aus dem Wohnzimmer.
Finns Mutter stand auf und fragte, als sie schon in der Tür stand:
»Kommst du?«
»Ja!«
»Ich bin gespannt, was dir deine Großeltern mitgebracht haben!«
Das war nicht die Stimme seiner Mutter!
Und schon gar nicht die des Vaters!
Finn schaute in das zerknautschte Gesicht der Puppe. Wo eben noch eine dünne Naht den grimmigen Mund angedeutet hatte, war nun ein Lächeln zu sehen.
»Nein, du träumst nicht.«
Tatsächlich, jetzt hatten sich auch die Lippen der Puppe bewegt!
»Ich muss träumen, Puppen reden nicht!«
Die schnelle Bewegung der kleinen Puppenhand bemerkte Finn gar nicht. Er spürte nur den leichten Schlag auf seiner Hand.
»Aua!«
Richtig weh tat es natürlich nicht, letztendlich hatte Tea ja nur weiche Stoffhände. Es war viel mehr der Schreck, weshalb Finn Aua schrie. Trotzdem rieb sich der Junge die Stelle, an der er getroffen wurde.
»Wieso . . . », begann er, » . . . was bist du?«, korrigierte er sich dann.
»Ich bin eine Hexe.«
»Aber du bist doch eine Puppe!«
»Ich bin eine Hexenpuppe«, betonte Tea.
»Finn, wo bleibst du denn?«
Sein Vater stand mit den Fingern an den Türrahmen tippend in der Küche.
»Willst du Oma und Opa nicht begrüßen?«
Er lächelte, als er seinen Sohn mit der Hexenpuppe da stehen sah.
»Doch, natürlich, ich komme!«
Vorsichtig legte Finn Tea auf den Küchentisch.
»Wir haben noch genug Zeit zum Reden«, sagte Tea und setzte sich auf.
Mit einem Ruck drehte Finn sich um. Sein Vater war schon nach draußen zu seinen Eltern gegangen.
»Jetzt geh! Sonst fällt es auf«, befahl Tea. »Oder hast du schon Wurzeln geschlagen?«
Rückwärts, seine Augen noch immer auf Tea gerichtet, bewegte Finn sich langsam Richtung Küchentür.
»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte er.
»Ich werde dich erleuchten, später«, versprach Tea mit einem Augenzwinkern.
An der Tür blieb Finn stehen.
»Wo ist denn das Geburtstagskind?«, hörte er seine Oma rufen.
»Hier bin ich!«, rief Finn und blickte noch einmal zurück zum Tisch. Mit leicht zu den Seiten ausgestreckten Armen lag Tea da. Regungslos. Wie eine Puppe.
»Du bist ja noch im Schlafanzug!«
»Hallo, Oma!«
Finn schlug die Arme um die rundliche Dame und ließ sich von ihr kräftig drücken.
»Herzlichen Glückwunsch, mein Lieblingsenkel!«
»Haha!«, kommentierte Finn ihren Witz. Seine Mutter rollte die Augen, ging aber auf die unterschwellige Forderung ihrer Schwiegermutter nach mehr Enkeln nicht ein.
»Werde ich auch noch begrüßt?«
»Natürlich, Opa! Hallo!«
Auch er drückte seinen Enkel an sich, aber im Gegensatz zu der Umarmung seiner Oma konnte Finn dabei noch normal weiteratmen.
»Und, wie fühlt man sich mit neun Jahren?«
»Groß natürlich!«, antwortete Finn und kicherte.
»Stark auch?«
»Aber klar!«
»Lass mal sehen!«
Der Opa winkelte die Unterarme an und ließ seine Bizeps zucken. Finn tat es ihm nach. Sein Opa schmunzelte über die kaum sichtbare Anschwellung an Finns Oberarmen, dennoch befand er großzügig:
»Was für Muskeln! Dann kannst du mir ja helfen, etwas aus dem Auto zu holen. Das soll ich hier nämlich abgeben, allerdings weiß ich nicht, für wen es ist.«
»Wir können es ja auspacken und vielleicht wissen wir es dann«, ging Finn auf den Versuch seines Großvaters, geheimnisvoll sein zu wollen, ein. Ob er wirklich glaubt, Finn lasse sich so leicht zum Narren halten, fragte er sich?
Schwer war der Karton nicht, aber groß. Finns Arme reichten noch nicht einmal um den Karton herum. Immer wieder rutschte das verdammte Ding nach unten. Mehr stolpernd als gehend bewegte er sich vorwärts. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, ihn ganz alleine ins Haus zu tragen. Finn stellte den Karton mitten ins Wohnzimmer und riss das Papier in Streifen. Ein Gesicht mit Helm kam zum Vorschein. Die Schnipsel des Geschenkpapiers flogen nur so durch das Zimmer. Ein letztes Reißen und das Geheimnis war gelüftet! Mit leuchtenden Augen hielt Finn den Karton in die Lüfte:
»Schaut mal! Die Ritterburg!«
Um die begeisterten Kommentare der Erwachsenen kümmerte er sich aber schon gar nicht mehr. Kaum war der Karton offen, fischte er die kleinen Ritterfiguren mit ihren Pferden heraus und platzierte sie auf dem Teppich. Ganz unten lag die Tüte mit den Einzelteilen der Burg. Mit aller Kraft zerrte Finn an der Tüte. Als er auch mit seinen Fingern kein Loch in sie bohren konnte, nahm er kurzerhand den Mund zu Hilfe. Im wahrsten Sinne des Wortes zog er verbissen an der Tüte. Fast erwartete er, gleich seine eigenen Zähne in den Händen zu halten, so sehr mühte er sich ab. Doch noch immer blieb die Verpackung unversehrt. Wie ein Hund am Knochen nagte Finn schließlich eine Weile auf dem Plastik und zog dann mit einem Ruck erneut an dem Kunststoffbeutel. Sofort gab dieser nach und der komplette Inhalt flog im hohen Bogen durch den Raum.
»Ach, Mist!«
Auf Knien rutschend fegte Finn die verstreuten Kleinteile zusammen.
»Willst du nicht erst einmal das Papier wegräumen?«, fragte die Oma. »Sonst gehen noch Teile verloren.«
»Dafür ist es jetzt wohl zu spät«, entgegnete die Mutter mit Blick auf den kunstvoll aufgestapelten Haufen Plastikteile inmitten der Papierreste.
»Möchte noch jemand frischen Kaffee?«
Finns Opa hob zustimmend seine leere Tasse.
Ohne sich um den Ratschlag der Oma zu kümmern, begann Finn, die Burg aufzubauen. Schnell hatte er die Teile für das grobe Gerüst aussortiert, doch auch mit der Gebrauchsanweisung konnte er einige Teile nicht zuordnen.
»Hier fehlt doch was!«, murmelte er, während er mit der linken Hand die Seitenwände festhielt und mit der rechten nach dem vierten Eckturm suchte.
Er musste sich durch das ganze Papier wühlen, bis er endlich einen Turm fand. Allerdings passte der gar nicht in die Ecke. Wieder durchforstete Finn die Schnipsel. Dazu musste er sich recken und ließ die Seitenwände kurz los. Klack, klack, klack, wie ein Kartenhäuschen fielen die Wände in sich zusammen.
»Mist!«, fluchte Finn leise, sammelte den Turm ein und fing wieder von vorne an.
Der Vater und Opa diskutierten, wie immer, leidenschaftlich die Vor- und Nachteile neuer Automodelle und fachsimpelten, als wären sie die einzigen Experten auf der Welt. Für die beiden Damen im Haus ein guter Moment, in die Küche zu gehen und das Mittagessen vorzubereiten. Finn drehte ständig aufs Neue die Anleitung, suchte die entsprechenden Teile und fand trotzdem nicht die richtige Stelle, an denen diese sitzen sollten. Wenigstens konnte er schon mal ein stabilisierendes Vordach anbringen.
»Hier, die wird sonst dreckig während wir kochen.«
Seine Oma hielt ihm die Hexenpuppe hin. Finn setzte Tea mit dem Rücken an einen Sessel ihm gegenüber und wühlte sofort wieder in den kleinen Türmchen, Fenstern und Türen aus Plastik. Die Burg war viel, viel wichtiger als die Puppe!
»Das kommt rechts hinten auf den Turm.«
Finn hielt das Spitzdach nach oben und schielte zu Tea. Sie nickte. Ob ich gerade verrückt werde?, fragte er sich. Diese sprechende Puppe brachte ihn völlig durcheinander. Tea schüttelte den Kopf. Auch wenn sie das jetzt verneint, ist es ja keine Garantie, dass ich nicht an Wahnvorstellungen leide, folgerte Finn logisch. Sein lautes »Oh Gott, bitte nicht!« ließ die beiden Männer auf dem Sofa aufschauen. Sie fielen aber sofort wieder in ihre Diskussion zurück, als Finn, dessen ungeachtet, in dem Haufen Plastikteilchen weiter herumwühlte. Mit einem Blick zu Tea nahm er eine Tür in die Hand.
»Die gehört zu dem Stall, der fehlt aber noch komplett«, flüsterte die Puppe. »Da, die vier gleichen Wände gehören dazu.«
Innerhalb kurzer Zeit setzte Finn mit Hilfe von Tea den Rest der Burg zusammen, inklusive Stall und Zugbrücke.
»Das ging ja jetzt schnell!«
Finn fuhr herum. Die Stimme gehörte nicht Tea, sondern seiner Oma. Wie lange sie da wohl schon gestanden hatte?
Seine Oma wuschelte ihm die Haare.
»Aber ein schlaues Kerlchen wie du schafft so was ja auch in null Komma nichts!«
Teas Anweisungen hatte sie wohl nicht gehört. Zum Glück! Finn atmete tief durch und strich sich seine Haare wieder glatt. Er präsentierte den Erwachsenen das Bauwerk aus Plastik.
»Toll gemacht, Finn!«, lobte die Mutter. »Du kannst sie gleich auf dein Zimmer bringen, es gibt nämlich bald Mittagessen.«
»Aber bevor du hochläufst, räumst du noch auf«, ermahnte die Oma.
Diesmal fügte Finn sich murrend der Anweisung, hob aber nur die größten Papierschnipsel auf, verstaute hastig die Plastikverpackungen in dem Karton und stellte diesen an die Seite. Tea setzte er in den Burgplatz und trug sie zusammen mit der Festung aus Plastik nach oben.
»Man, ich hatte echt Angst, dass meine Oma was gemerkt hat!«
»Keine Angst, ich passe schon auf.«
Tea hüpfte aus der Burg heraus und setzte sich auf den Fußboden mit dem Rücken zum Schrank.
»Ehrlich gesagt, bin ich noch immer nicht sicher, ob bei mir vielleicht nicht doch eine Schraube locker ist«, bemerkte Finn.
Auf allen Vieren krabbelte Tea zu Finns Fuß und zog sein Hosenbein hoch.
»Stimmt, hier, am Knöchel, da ist eine Schraube locker!«
»Haha«, machte Finn, überhaupt nicht amüsiert.
Tea stand auf und hob, demonstrativ beleidigt, die Arme. »Ach komm! Wir werden bestimmt viel Spaß zusammen haben!«
Finn kniff die Augenbrauen zusammen. Pah, Spaß! Mit einer Puppe? Und außerdem, gleich wird sich herausstellen, dass er alles nur geträumt hatte.
»Komm, das ist nicht fair! Ich habe dir geholfen, die Burg aufzubauen!«, beschwerte sich Tea.
»Das war ja nun keine besondere Sache, das hätte mein Opa auch gekonnt«, sagte Finn, ohne darüber nachzudenken, dass die Puppe gerade schon wieder auf seinen Gedanken reagiert hatte.
»Es gibt aber ein, zwei Dinge, die dein Opa nicht kann . . . »
»Was denn?«
»Finn, hilfst du bitte, den Tisch zu decken?«, rief sein Vater von unten.
»Ja, ich komme gleich!«, rief Finn zurück. »Und? Was denn nun?«, fragte er dann wieder zu Tea gewandt.
»Das kann ich dir doch nicht alles zwischen Tür und Angel erklären.«
»Weil es nämlich gar nichts gibt, was du besser als mein Opa kannst!«
Finn stand auf und schob das Hosenbein wieder runter. An der Zimmertür dreht er sich noch einmal um.
»Du bist ja ungläubiger als die Seldschuken«, murmelte Tea.
»Was?«
»Nichts, das erkläre ich dir viel später. Geh erst mal essen.«
»Wusste ich es doch! Nur heiße Luft.«
Er hielt inne und fragte:
»Soll ich dir was zu essen mit hoch schmuggeln später?«
»Das ist lieb, aber nicht nötig. Ich brauche weder Essen noch Schlaf!«
Somit wäre Tea ja pflegeleichter und günstiger als ein Hund, den sich Finn schon seit längerem sehnlichst wünschte.
»Aber mit dem hättest du nur ein Bruchteil so viel Spaß wie mit mir«, prophezeite Tea. Mit einem scheinheiligen Lächeln winkte sie ihm hinterher.
»Hast du dir die Hände gewaschen?«, fragte seine Mutter, als Finn in der Küche ankam.
»Ja!«, log Finn.
»Dann krempele dir mal die Hose vernünftig runter und bring die Teller rüber.«
Huch! Wie kommt das denn? Das Hosenbein, das er doch gerade heruntergeschoben hatte, war wieder bis zum Knie hochgerutscht. Wie ist das denn passiert? Vielleicht war das ja Tea gewesen! Aber wann? Und vor allem, wie? Und wieso hat er davon nichts mitbekommen?
Was ist das nur für ein merkwürdiger Geburtstag! Komische Träume, sprechende Puppen, eigenwillige Hosenbeine. Was mag wohl noch alles auf ihn zukommen? Aber selbst in seinen kühnsten Vorstellungen hätte Finn sich nicht ausmalen können, was ihn noch erwarten sollte.