Читать книгу Finn und Tea bei den Kreuzrittern - Anja Obst - Страница 4
ОглавлениеFinn wurde plötzlich ganz schwarz vor Augen. Doch dann tauchte ein roter Farbsteifen auf. Die Farbe änderte sich erst langsam in orange, dann gelb, wurde grün und schließlich blau. Der Wechsel der Farben wurde mit jeder Sekunde schneller. Sie flossen ineinander und er sah ein Farbspektrum, das in keinem Malkasten zu finden war. Irgendwann blitzte es nur noch kurz und grell auf. In seinem Magen drehte sich alles, als ob er Achterbahn fahren würde. Nur ohne den Wind in seinen Haaren. Die zuckenden Blitze wurden langsamer und die Farbspirale wieder deutlicher. Als der bunte Strudel ruhiger und blasser wurde, konnte er plötzlich Formen erkennen. Menschen. Pferde. Und Kioske. Immer klarer wurde das Bild. Er war nicht mehr in seinem Zimmer, sondern auf einem Marktplatz mit staubiger Erde.
Die Menschen trugen komische Kostüme aus fleckigem Leinen. Einige trugen geflochtene Körbe mit Gemüse. Ein Mann zog eine meckernde Ziege hinter sich her. Die Kioske entpuppten sich als Verkaufsstände für Obst und Gemüse. An manchen baumelten einfache Kochtöpfe aus Kupfer vom Dach, auf dem Tresen lagen Löffel und Schalen aus Holz in unterschiedlichen Größen. In kleinen Gehegen quiekten Schweine oder drückten sich Hühner aneinander. Statt Autos gab es Pferdefuhrwerke, die Waren aller Art geladen hatten. Es roch wie im Stall.
»Oh Gott, wo sind wir?«
Finn drehte sich suchend im Kreis, entdeckte dabei kleine Häuser aus Holz ohne Fensterscheiben und blieb schließlich mit Blick auf ein pompöseres Haus hinter dem Marktplatz stehen.
»Wann sind wir, das wäre die bessere Frage«, meldete sich Tea nah an Finns Ohr. Sie hatte es sich auf seiner Schulter gemütlich gemacht.
»Tea, was ist passiert???«
»Nur Theorie ist doch langweilig, oder?«
Ein Reiter galoppierte haarscharf an Finn vorbei und warf ihn fast in den Dreck. Finn hustete. Himmel, ist das staubig hier! Als er seine Hose ausklopfen wollte, sah er erst, dass diese und auch sein Hemd ebenfalls aus dem groben Stoff waren, aus dem alle hier anscheinend ihre Kleidung gemacht hatten. Dabei kratzte er doch fürchterlich.
»Das ist Leinen«, erklärte Tea. »Der wird aus Flachs hergestellt, deswegen kratzt er so. Die Baumwolle, aus der deine T-Shirts meistens hergestellt sind, kam erst später nach Europa.«
»Tea, wo sind wir???«
Die Puppe riss ihre Arme nach oben und schwenkte dann den linken, als präsentierte sie ein berühmtes Gebäude oder einen Tisch mit einem edlen Festmahl.
»Willkommen im Mittelalter!«
Bevor Finn begreifen konnte, was Tea gerade gesagt hatte, wurde er zum zweiten Mal fast über den Haufen geritten. Oben auf den Pferden saßen zwei leibhaftige Ritter! Tea schob seinen weit aufstehenden Mund wieder zu. Eine Menschenmenge umkreiste ihn, die sich langsam Richtung Stadtmitte schob. Über den flachen Häusern sah Finn die Türme einer Kathedrale herausragen.
»Lass uns mitgehen!«, schlug Tea vor.
Etwas überrumpelt von der ganzen Situation, und auch, weil ihm in dem Gewühl kaum eine andere Chance blieb, folgte Finn widerspruchslos der Anweisung. Mit langsamen Schritten fügte er sich in den Strom aus Menschen ein. Die Gerüche, die in seine Nasen drangen, waren ihm alle bekannt. Es war eine Mischung aus Schweiß, Stallgeruch und Toilette. Etwas aber schien zu fehlen. Erst als er ein Pferdefuhrwerk vorbei rumpeln sah, fiel ihm auf, dass es keine Autos und keine Abgase gab. Aber wie auch? Autos waren ja noch gar nicht erfunden! Er war im Mittelalter! Tatsächlich!
Tea hatte auf diesen Moment der Erkenntnis gewartet.
»Es ist das Jahr 1145», sagte sie nun, »und wir sind in der italienischen Stadt Vetralla. Lass uns mal weitergehen.«
Finn drängelte sich durch eine kleine Menschengruppe und stellt sich dann zu ein paar Kindern, die fröhlich in einer kleinen Pfütze spielten. Nur zwei von ihnen trugen weiche Lederschuhe ohne Sohlen, und die waren nicht nur dreckig, sondern auch schon kaputt. Bei dem einem Kind schaute fast der ganze große Zeh durch ein Loch hervor.
Plötzlich hielten die Kinder inne mit ihrem Spiel. Gespräche, von denen bis eben noch ein paar Fetzen zu Finn gedrungen waren, verstummten. Stattdessen ging ein leises Raunen durch die Menschenmenge. Finn reckte sich, konnte aber nicht erkennen, was da vorne los war. Er schob sich durch die Massen, bis er fast ganz vorne stand. Dann aber bewegte sich der ganze Pulk wieder weg, Finn wurde unweigerlich mitgeschoben. Vor dem östlichen Stadttor kamen alle wieder zum Stehen.
Dort hatte sich ein Mann in einer gewaltigen Robe aufgebaut, umringt von vielen anderen in ebenso pompösen Gewändern. Einige Kirchenmänner stellten sich vor ihm auf, um zu hören, was er verkünden wollte. Finn stand mit dem einfachen Volk weit hinten, sehen konnte er gar nichts. Tea stupste Finn an und zeigte auf einen Mauervorsprung. Gewandt kletterte Finn hinauf. Ah, nun hatte er einen kompletten Überblick über das Spektakel!
»Das ist übrigens Papst Eugen III«, erklärte Tea und zeigte auf den Mann mit der gewaltigen Robe.
Finn konnte nicht alles verstehen, was der Papst nun untermalt mit theatralischen Bewegungen seiner Arme von sich gab. Als er einen Satz mit ›das Leiden der Christen‹ aufhörte, jubelten die Zuhörer.
»Was hat er gesagt?«
»Das Leiden der Christen im Osten müsste beendet werden«, rief Tea laut in Finns Ohr.
Die Menschenmenge brauste erneut auf, ohne dass Finn wusste, warum.
»Die Heiligen Städte müssten befreit werden«, soufflierte Tea den nächsten Teil der Ansprache.
Immer wieder johlten die Anwesenden bei den Satzpausen des Papstes. Tea winkte jedoch nur ab. »Blabla«, machte sie mit den Lippen. Dann, kurze Zeit später, als Finn gerade begann, sich zu langweilen, zeigte sie nach vorne. Finn sah, wie sich einer der Kirchenmänner in den Staub kniete.
Plötzlich war alles still und er hörte deutlich den Mann sagen:
»Ich bitte ehrfürchtig um die Erlaubnis, den zweiten Kreuzzug führen zu dürfen.«
Der Papst nickte großzügig und die Menge jubelte. Viele schwenkten kämpferisch ihre Arme.
»Das ist ja wie im Theater«, rief Finn.
»Und damit hast du mehr Recht, als du glaubst. Der letzte Teil eben war nämlich einstudiert und kein spontaner Entschluss des Mannes.«
»Wozu das denn?«
»Damit auch die anderen von der Begeisterung angesteckt werden und auf Kreuzzug gehen wollen. Es hatte doch schon einen Kreuzzug gegeben, der erste Kreuzzug 1095, von dem ich vorhin erzählt hatte«, erklärte Tea. »Zu dem hatte Papst Urban II aufgerufen, nachdem Jerusalem eingenommen wurde. Papst Eugen III, den du hier siehst, will jetzt zum zweiten Kreuzzug aufrufen, weil nun Edessa belagert wurde. Edessa ist der erste von den Kreuzfahrern gegründete Staat. Papst Eugen hatte aber Probleme, Verbündete für seinen Kreuzzug zu finden. Erst als er König Konrad III aus Deutschland und den französischen König Ludwig VII zum Mitmachen gewinnen konnte, war es beschlossene Sache.«
Ein Reiter versuchte, sein Pferd durch die Menschen zu treiben. Es trippelte nervös von einem Huf auf den anderen und schnaubte panisch. Als die beiden direkt neben Finn an der Mauer standen, murmelte Tea ein paar Worte in das Pferdeohr. Sofort wurde es ruhig.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte der Reiter Finn begeistert.
»Äh, das war ich nicht, das war, äh, sie.«
Finn zeigte auf die Puppe auf seiner Schulter.
»Kannst du mir den Trick verraten?«, fragte der Reiter, ohne sich im geringsten zu wundern, dass er doch mit einer Puppe sprach.
»Tut mir leid, das ist einfach ein Talent, das ich habe«, bedauerte Tea.
»Schade, ich bin nämlich nicht sicher, ob ich mir ihr«, der Reiter nickte zu seiner braunen Stute, »auf Kreuzzug gehen will. Sie ist einfach zu schreckhaft.«
»Du willst auf Kreuzzug gehen?«, unterbrach Finn.
»Ja, natürlich!«
»Toll!« Vor ihm stand also ein echter, zukünftiger Kreuzritter! »Aber wird das nicht auch gefährlich?«, warf Finn ein.
»Natürlich, es ist ja schließlich ein Krieg, den wir führen. Aber, wie der Papst ja gerade sagte: Wer auf der Fahrt dorthin oder in der Schlacht gegen die Heiden sein Leben verliert, dem werden seine Sünden vergeben.«
»Was sind denn Heiden?«, fragte Finn.
»Ungläubige! Wer nicht an Gott glaubt, ist ein Heide!«
»Ach ja, die Seldschuken glauben ja nicht an Gott, stimmt.«
Finn war überrascht, wie leicht das Wort Seldschuken plötzlich über seine Lippen kam.
»Sie glauben an Allah«, warf Tea ein.
»Wer ist denn Allah?«
»Das ist der Gott der Muslime.«
»Es gibt nur einen Gott«, meldete sich der Reiter wieder, »unseren!«
»Vielleicht sind die beiden ja ein und derselbe?«, versuchte Finn einzulenken. »Dann wären die Seldschuken auch keine Ungläubigen mehr und du müsstest gar nicht auf Kreuzzug gehen.«
»Es gibt nur einen Gott!«, wiederholte der Reiter stur.
»Okay, okay!«
»Okay? Was heißt das?«
»In Ordnung«, übersetzte Finn. »Sag bloss, das kennst du nicht?«
»Nein, noch nie gehört.«
»Kannst du auch nicht, mach dir keine Sorgen«, beruhigte Tea den Reiter und murmelte vor sich hin: »Das Wort ist noch gar nicht erfunden.«
Um abzulenken, fragte Finn:
»Wie heißt du eigentlich?«
»Leopold. Und ihr?«
»Ich heiße Finn und das ist Tea.«
»Was für merkwürdige Namen.«
»In meiner Zei . . . « Finn biss sich auf die Zunge. »In meinem Heimatort«, verbesserte er sich dann schnell, »sind das ganz geläufige Namen.«
»Wo kommt ihr denn her?«
»Köln«, antwortete Tea diesmal.
Finns Ohren leuchteten schon rot genug, fand sie. Der Junge konnte ja wirklich nur ganz schlecht lügen!
»Ah, schöne Stadt! Da wollte ich auch immer mal hin. Aber wie es aussieht, werde ich mich wohl vorher Richtung Osten bewegen.«
»Wann geht es eigentlich los?«
»Das weiß ich gar nicht. Aber es wurde ja auch gerade eben erst angekündigt. Bis die Vorbereitungen abgeschlossen sind, werden noch ein paar Wochen oder Monate vergehen.«
»Ich wünsche dir viel Glück!«
»Danke, das werde ich gebrauchen können. Aber vielleicht sehen wir uns ja vorher noch.«
»Ja, wer weiß! Mach es gut, Leopold.«
»Du auch, äh, Fänn?«
»Finn.«
»Ah, ja, Finn!«
Leopold ergriff die Zügel und lenkte seine Stute weg von der Mauer. Die vielen Zuschauer von vorhin hatten sich mittlerweile verstreut, nur wenige liefen mit Körben oder Waren über den Platz.
»Adieu!«, rief der Reiter und trieb sein Pferd in den Galopp.
»Adieu!«, rief Finn, obwohl er wusste, dass Leopold ihn nicht mehr hören konnte.
Finn drehte sich zu Tea und fragte:
»Sag mal, wieso findet Leopold es eigentlich nicht komisch, mit einer Puppe zu reden?«
»Weil ich ihn verhext habe natürlich!«
Tea pustete auf ihre Fingerkuppen, als ob sie sich gerade die Nägel lackiert hätte.
»Ihm ist einfach nicht bewusst, dass ich eine Puppe bin.«
»Aber er sieht dich doch und muss dann auch sehen, dass du ganz klein und, nun ja, eben eine Puppe bist.«
»Muss er?«, fragte Tea.
Sie schaute sich um und forderte Finn auf, sich den Goldklumpen vor ihm im Sand genau anzuschauen. Er funkelte so sehr in der Sonne, dass Finn zwinkern musste.
»Nun, wie sieht der aus?«
»Wie Gold halt aussieht, gelb«, antwortete Finn mit krausgezogener Stirn.
»Dann schau doch noch mal genauer hin!«
Finn konnte kein Funkeln mehr entdecken. Dort, wo eben der Goldklumpen war, lag nun ein Stein in der gleichen Größe und mit den gleichen Unebenheiten.
»Wo ist das Gold?«
»Da war nie Gold. Das habe ich dir nur eingeredet.«
»Aber zu Leopold hast du doch gar nichts gesagt, woraufhin er dich für eine normale Person halten könnte.«
»Da kannst du mal sehen, dass auch vieles ohne Worte geht.«
Tea grinste breit. Wie unheimlich, dachte Finn, wer weiß, ob das, was ich sehe, tatsächlich immer da ist?
»Ist es, Finn«, beantwortete Tea die ohne Worte gestellte Frage. »Dieser Hexereien bediene ich mich nur, wenn es unbedingt notwendig ist.«
Finn blieb noch einen Moment auf dem Mauervorsprung stehen, verdaute die Information und sah sich dann noch einmal um. An einem der Verkaufsstände sah er ein mit Kreide geschriebenes Wort, pesce.
»Was ist denn ein Peske?«, fragte er Tea.
»Das ist italienisch und bedeutet Fisch.«
»Italienisch? Wieso steht das da auf Italienisch?«
»Na, überleg doch mal, welche Gründe könnte es wohl geben, dass hier alles auf Italienisch steht?«
Finn kratzte sich am Kopf.
»Wir sind in Italien?«, fragte er dann ungewohnt zaghaft.
»Benissimo!« Tea hob ihre Daumen, um sich die Antwort zu sparen, dass benissimo sehr gut bedeutet.
»Hm, wenn wir in Italien sind, dann sprechen ja alle Italienisch, oder?«
»Das kommt durchaus vor in Italien.«
Theatralisch verdrehte Tea ihre Augen.
»Aber wie kommt es, dass ich sie alle verstehe? Ich kann gar kein Italienisch!«
»Du stehst unter einem Bann«, flüsterte sie und fuchtelte mit den kurzen Ärmchen herum, wie ein Zauberer, kurz bevor er das Kaninchen aus dem Hut holt.
»Dem Bann meines magischen Translatomates!«
Die Bewegung der Arme hörte abrupt auf. Finn kicherte.
»Was für Tomaten?«
»Keine Tomaten, mein Translatomat!«, betonte sie. »Eine meiner besten Erfindungen, ach, was sage ich, die beste Erfindung aller Zeiten!«
Finn ist schon von ihrer Begeisterung angesteckt, ohne zu wissen, was das eigentlich sein soll.
»Der Translatomat verwandelt Sprachen. Und das ganz automatisch. Egal, welche Sprache dein Gegenüber spricht, bei dir kommt alles auf Deutsch an. Und alles, was du sagst, klingt in den Ohren der anderen wie deren eigene Sprache. Toll, oder?«
»Dann habe ich vorhin also Italienisch mit Leopold geredet?«
»Nein, er ist ja Deutscher«, lachte die Puppe. »Aber der Papst hatte vorhin auf Lateinisch gesprochen, aber das kam bei dir auf Deutsch an. Du siehst, jede noch so alte oder gar nicht mehr gebräuchliche Sprache wird, schwuppdiwupp, in Deutsch für dich verwandelt.«
»Du hast mich verhext???«
»Nein! Also, nicht wirklich.«
Die Puppe zupft verlegen an einem Faden ihres Gewands.
»Das ist einfach nur ein kleines Extra für die Reise. Sobald wir zu Hause sind, funktioniert das nicht mehr. Dann bist du wieder ganz der Alte!«
»Och, das ist ja doof!«
Finn begann gerade, sich für die neuen Fähigkeiten zu erwärmen, verhext hin oder her. Für den Englischunterricht hätte er das gut gebrauchen können!
»Und genau das geht nicht«, zerstörte die Hexe seinen verbleibenden Hoffnungsschimmer. »Diese Zeitreise, die wir hier unternehmen, ist nämlich ziemlich kompliziert. Wir reisen in der Zeit, aber auch zu anderen Orten, wie jetzt, nach Italien. Es machte aber keinen Sinn, hier zu sein, wenn du gar nichts verstündest. Also war ich so großzügig, dir ein paar Fähigkeiten zu schenken, für die Reise wohlgemerkt, die dir ganz nützlich sein können.«
»Aber warum darf ich die denn nicht auch zu Hause behalten?«
»Dreimal darfst du raten!«
»Weil es auffallen würde, dass ich plötzlich so viel weiß?«
»Siehst du, dein Gehirn kann ja doch arbeiten.«
»Haha, das könnte es auch, wenn ich schon alles wüsste!«
»Ja, meinst du? Weißt du, wie man Spaghetti mit Tomatensoße kocht?«
»Was ist denn das jetzt für eine Frage?«
»Weißt du es?«
»Nein.«
»Weil du es nämlich noch nie selbst machen musstest!«
»Aber es wäre doch viel praktischer, wenn ich schon wüsste, ohne es erst mühsam lernen zu müssen.«
»Wie langweilig wäre das denn? Du könntest nichts mehr ausprobieren. Du erlebtest nie, wie sich Erfolg anfühlt, wenn etwas gelingt. Oder wie Enttäuschungen dich zu neuen Ideen herausfordern. Es ist noch gar nicht so lange her, dass du stolz wie Oskar die fertig zusammen gebastelte Ritterburg präsentiert hast, oder? Das war doch ein tolles Gefühl!«
»Ja, stimmt. Aber so ein bisschen mogeln zu können im Unterricht kann doch nicht schaden.«
Finn grinste, wie er hoffte, gewinnend.
»Ah, du benutzt ja schon genau das Wort, weshalb es nicht geht!«
»Mogeln?«
»Mogeln!«
»Na gut, irgendwie hast du ja auch recht. Den anderen gegenüber wäre es unfair.«
Tea klopfte Finn auf die Schulter.
»Siehst du, nichts wissen hat auch seine guten Seiten.«
»Haha!«
»Da ist aber noch ein anderer, nicht unwesentlicher Punkt«, fuhr Tea fort.
»Und der wäre?«
»Ich würde dein Zukunft verändern, dürftest du das ganze Wissen mit in deine Zeit nehmen.«
»Wie denn das?«
»Na, weil ich dich in jemanden verwandelte, der du gar nicht bist. Ein Mathegenie zum Beispiel.«
»Ich fände das super!«
»Klar, aber das entspräche ja nicht der Wahrheit. Genau wie unsere Anwesenheit hier in der Vergangenheit ja auch Einfluss auf die Zukunft haben könnte. Das müssen wir aber verhindern.«
»Was könnten wir denn hier beeinflussen?«
»Oh! Sehr viel!«
Tea kletterte von seiner Schulter auf die Mauer und setzte sich auf Augenhöhe mit Finn in ein Loch, wo früher wohl mal ein Stein gewesen war.
»Bei einer Zeitreise landet man ja, wie der Name schon sagt, in einer anderen Zeit, entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Das bedeutet, dass alles schon passiert ist oder noch passieren wird. Konzentrieren wir uns mal auf die Vergangenheit.«
Finn nickte.
»Gut, alles was wir hier erleben, ist also bereits vor langer, langer Zeit passiert. Und es gibt sogar Aufzeichnungen darüber, in Geschichtsbüchern oder Lexika.«
»Klar, ich hab ja heute eins bekommen!«
»So, nun stell dir mal vor, wir veränderten die Vergangenheit, denn für uns ist sie ja gerade Gegenwart.«
»Was? Moment, nicht so schnell, das verstehe ich nicht!«
»Die Gegenwart ist die Zeit, in der man sich im Moment befindet, ja?«
»Ja.«
»Du bist doch jetzt hier, im Mittelalter, also eigentlich in der Vergangenheit, aber für dich fühlt es sich an wie deine Gegenwart, richtig?«
»Ja.«
»Für dich ist also die Vergangenheit dein Jetzt.«
Finn legte den Zeigefinger auf seinen Mund und grübelte, wie er sonst nur über Matheaufgaben grübelte. Irgendwie war das ja ein bisschen wie Mathematik. Kein Wunder, dass er nichts versteht.
»So, nun ist deine jetzige Gegenwart aber eigentlich schon lange vorbei und zu allem Überfluss in Lexika dokumentiert. Die Vergangenheit sollte also nicht geändert werden. Denn das würde auch deine eigentliche Gegenwart verändern.«
»Okay, das verstehe ich.«
»Sehr gut!«
Tea hob ihren Daumen.
»Alles, was wir hier machen, darf die Geschichte auf keinen Fall beeinflussen.«
Sie machte eine kleine Pause.
»Darüber musst du dir aber keine Gedanken machen, ich passe schon auf, dass das nicht passiert. Aber im Grunde genommen ist deine Begegnung mit Leopold schon etwas, was große Konsequenzen haben könnte. Nehmen wir mal den Papst als Beispiel«, fuhr Tea nach einer kurzen Pause fort. »Stell dir vor, er wäre über dich gestolpert, hätte sich ein Bein gebrochen und deswegen nicht die Rede über die Kreuzzüge halten können. Die Kreuzritter wären dann vielleicht gar nicht oder erst später losgezogen. Die Leben aller Beteiligten und ihre Schicksale hätten sich verändert.«
Tea schaute Finn an und suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen, ob er sie verstanden hat. Von dem Jungen kam allerdings nur ein schwaches, langgezogenes »Okay«.
»Ein anderes Beispiel: Du weißt aus deinen Geschichtsbüchern, dass es die Kreuzritter gab.«
»Ja!«
»So, nun taucht jemand aus einer anderen Zeit auf, geht zum Papst und ersticht ihn.«
Finn kicherte und verzog dann sein Gesicht zu einer Grimasse mit geschlossenen Augen und heraushängender Zunge.
»Finn!«
Der mahnende Ton ließ Finn aus seiner Totenstarre aufschrecken. Und in der Tat sah Tea ihn sehr ernst an.
»Mit deinen Ritterfiguren zu spielen und sie sterben zu lassen, ist eine Sache«, sagte sie. »Wir sind hier allerdings im wirklichen Leben und begegnen echten Menschen. Es ist kein Spiel, das musst du dir immer vor Augen halten.«
Finn senkte den Kopf und scharrte mit dem Fuß im staubigen Sand.
»Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, denn dir kann nichts passieren und wir können jederzeit zurück. Für die Menschen hier«, Tea machte eine ausladende Armbewegung, »ist es die Realität.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.«
»Der einzige Unterschied ist, dass diese Realität hier schon vorbei ist. Das macht sie aber nicht unwirklicher. Vor allem nicht, wenn wir uns gerade in ihr befinden.«
Finn nickte schnell.
»So, und wenn in dieser vergangenen Realität etwas verändert wird, wie eben zum Beispiel ein Attentat auf den Papst, dann veränderte sich alles Nachfolgende ebenfalls. Vielleicht fänden dann gar keine Kreuzzüge statt, weil alle beschäftigt sind, einen neuen Pappst zu finden. Aber«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »in deinen Büchern wird davon berichtet. Das ginge aber nicht, weil es die Kreuzzüge ja dann gar nicht gegeben hätte. Verstehst du?«
»Ja, langsam fällt der Groschen«, bestätigte Finn.
»Die Ereignisse der Vergangenheit sind also praktisch in Stein gemeißelt und dürfen nicht verändert werden«, fasste Tea noch einmal zusammen.
Finn schaute auf den Platz, wo noch immer ein paar Menschen standen und diskutierten. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass alles, was er hier tut, eine Wirkung auf die Zukunft haben könnte. Aber die Zukunft ist ja praktisch auch schon vorbei, überlegte er.
»Richtig!«, mischte sich Tea in seine Gedanken. »Die Zukunft der Kreuzritter ist in deiner wirklichen Gegenwart im Lexikon aufgeschrieben, also bereits geschehen.«
»Ich glaube, ich habe es jetzt einigermaßen verstanden.«
Tea nickte ihm erfreut zu und klopfte ihm auf die Schulter.
»Wie gesagt, ich achte darauf, dass alles gut geht. Du kannst also völlig entspannt durch das Mittelalter laufen.«
Tea kletterte zurück auf seine Schulter. Plötzlich kam es Finn vor, als ob er in weiter Ferne die Stimme seines Vaters hörte. Noch bevor er Tea danach fragen konnte, tauchten die bunten Farben vor seinem inneren Auge auf und er raste durch den Zeittunnel. Noch völlig verdattert fand er sich in seinem Zimmer wieder.