Читать книгу Die Frau meines Vaters - Anja Röhl - Страница 8

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Es ist Sonntag, der 9. Mai 1976 um 5.10 Uhr, als die junge Frau die Haustür hinter sich zuzieht und sich auf den Weg zur Arbeit macht. Hätte sie an diesem Tag nicht Frühdienst, würde man sie um diese Zeit kaum auf den Straßen von Berlin-Neukölln zwischen wankenden Alkoholikern und unausgeschlafenen Hundebesitzern beobachten können. Wie gewöhnlich nimmt sie die U-Bahn, die sie in den Süden des Stadtteils bringt, vorbei an den grauen Arbeitervierteln, den Fassaden, an denen der Putz abblättert, hin zu Gärten mit zwitschernden Vögeln, violettem Flieder und weißen Obstblüten, hinter denen kleine Reihenhäuschen aneinander kleben. Wie gewöhnlich betritt sie das Neuköllner Krankenhaus durch das vom übermüdeten Pförtner bewachte Tor, fährt mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock zu ihrem Arbeitsplatz und macht sich sogleich daran, die Patienten zu waschen und zu betten, Verbände auszuwechseln und Spuckgläser auszuleeren. Als sie Herrn K. das Frühstück bringt, erzählt er ihr wie jeden Tag mit Handzeichen so viele verschiedene Dinge, dass sie im Nachhinein nicht mehr sagen kann, ob der alte Herr nicht doch von seiner Stimme Gebrauch gemacht hat. Ihre Schicht an diesem Tag ist schon fast vorüber, und während sie auf dem Flur hastig zu Mittag isst, kommt ihr eine andere Schülerin entgegen. Sie hält so viele Gläser in den Armen, dass die junge Frau sich verpflichtet fühlt, ihr Mittagessen auf einem Tisch abzustellen und ihr einige abzunehmen. Gemeinsam betreten sie den Spülraum.

Die junge Frau wäscht gerade ein Glas aus, als die andere ihr beiläufig mitteilt: »Hast du schon gehört, Ulrike Meinhof hat sich in ihrer Zelle erhängt.«

Die junge Frau wendet ihr den Kopf zu, sieht hinter ihr die Sonne gleißend hell durch das Fenster scheinen, vor dem sich die schwarze Silhouette abhebt, und fragt mit tonloser Stimme: »Was?«

»Das kam den ganzen Morgen in den Nachrichten.«

Das eben ausgespülte Glas fällt klirrend zu Boden. Die junge Frau sinkt gleichfalls zu Boden. Aus ihrem Mund dringt ein Schrei. Leute laufen zusammen. Der anderen Schülerin ist die Szene unangenehm. Die junge Frau reagiert nicht mehr, sie hört auch nicht auf zu schreien. Es ist nur ein einziges Wort, was laut auf den Flur hinaus hallt: Nein!

Eine Schwester kommt, eine Spritze in der Hand, die sie der jungen Frau in den Arm sticht.

Einige Zeit später erwacht sie. Noch immer benommen von der Spritze, bemerkt sie die völlige Ruhe, die sie umgibt. Als sie die Augen öffnet, blickt sie in die unangenehm funkelnden Augen der Oberschwester, die sie mit schneidend strenger Stimme etwas fragt, auf das sie keine Antwort bekommen wird: »Was ist denn mit Ihnen los, Schwester Anja?«

Die Worte hallen im Kopf der jungen Frau wider.

Die Frau meines Vaters

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