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ОглавлениеMARGARETE STEIFF
1847–1909
MIT ZWÖLF JAHREN begann Margarete nachmittags nach dem normalen Unterricht, noch eine »Nähschule« zu besuchen. Vermutlich dachte sie damals schon daran, dass es ein passender Beruf sein könnte, denn sie saß im Rollstuhl. Mit anderthalb Jahren war sie an Kinderlähmung erkrankt und ihr linker Fuß war seither vollständig, der rechte teilweise gelähmt. Ihr rechter Arm schmerzte oft, weshalb sie nun mit links nähte und es ihr nicht leichtfiel. Ohnehin war sie viel lieber draußen. Als Kind hatte sie schon immer darum gebettelt, dass irgendjemand aus dem Haus sie nach draußen trug. Dann saß sie im Leiterwagen und streichelte die vorbeikommenden Hunde und Katzen, erzählte kleineren Kindern, auf die sie in ihrem Wagen aufpassen sollte, fantasievolle Geschichten oder begeisterte die anderen Kinder mit ihrer sonnigen und lebhaften Art für Spiele, bei denen sie von ihrem Wagen aus das Kommando gab. Zweimal fuhr sie mehrere Monate zu Kuraufenthalten bei einem tiefgläubigen Arzt. Während ihre Mutter sehr streng war, ging es im Haus des Arztes viel fröhlicher und spielerischer zu. Margarete durfte mit den anderen Kindern sogar ausgelassen über den Boden rutschen, und wenn ihre Kleider dabei kaputtgingen, wurden sie einfach geflickt – undenkbar bei ihrer Mutter. Außerdem hörte Margarete biblische Geschichten, lernte Lieder und auf Gott zu vertrauen.
Zu Hause begann der Alltag wieder. Morgens wurde eine Frau dafür bezahlt, sie in den Klassenraum zu tragen. Bis nachmittags ging der Unterricht, über die Mittagszeit gab es zusätzlich Konfirmandenunterricht, danach Nähschule. Ihre beiden älteren Schwestern beendeten – wie damals üblich – mit vierzehn Jahren die Schule und zogen als Dienstmädchen in Haushalte, in denen sie kochten, sauber machten und Kinder hüteten. Margarete blieb allein mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Fritz zu Hause und lernte mit ihm begeistert auch Fächer, die damals sonst Jungs vorbehalten waren. Auch wenn ihre Mutter es gern sah, wenn ihre Tochter abends früh ins Bett ging, ließ Margarete sich von ihren Freundinnen zu fröhlichen Ausflügen im Mondschein abholen.
Mit dreizehn wurde sie konfirmiert und bekam den Konfirmationsspruch: »Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2. Korinther 12,9 LUT). Wer weiß, ob der Pfarrer schon sah, dass Gott ihr eine gute Portion Mut mitgegeben hatte und sie mit ihrer Behinderung Frieden schließen sollte. Später jedenfalls schrieb sie in ihr Tagebuch: »Das war noch ein langes Suchen nach Heilung, bis ich mir selbst sagte: ›Gott hat es für mich so bestimmt, dass ich nicht gehen kann, es muss auch so recht sein.‹ «
Als Margarete ebenfalls mit vierzehn die Schule abschloss, setzte sie ihre Ausbildung in der Nähschule fort und verdiente zugleich mit Handarbeiten und später auch mit Unterricht im Zitherspielen ihr eigenes Geld. Als sie beim Stadtpfarrer für seine Tochter nähte, brachte sie eines Tages der kleine Sohn mit dem Fuhrwerk nach Hause. »Ich war sehr waghalsig und gar nicht ängstlich im Fahren«, schrieb sie in ihr Tagebuch. Deshalb durfte der Pfarrersjunge die Pferde energisch antreiben, sodass der Wagen durchs Dorf sauste. Das Fuhrwerk geriet jedoch außer Kontrolle und kippte um. Margarete brach sich den linken Fuß und hatte schmerzhafte Verletzungen im Gesicht. »Aber es war halt so schön, auch mal schnell voranzukommen«, verteidigte sie sich in ihrem Tagebuch.
Als Margarete fünfzehn war, kehrten ihre beiden Schwestern nach Hause zurück und eröffneten eine Damenschneiderei mit Hutmacherwerkstatt. Statt Kleidung auszubessern oder zu besticken, fertigten sie nun eigene Kleider, Tischdecken und Hüte und waren ihre eigenen Chefinnen. Eines Tages fanden sie in einer Modezeitschrift eine Anzeige für Nähmaschinen, die erst zwanzig Jahre zuvor erfunden worden waren, und kauften sich eine. Dummerweise konnte Margarete das Schwungrad mit ihrem rechten Arm kaum bedienen. Doch sie gab nicht auf und fand heraus, dass sie die Maschine umdrehen und mit links antreiben konnte.
Schließlich heirateten ihre drei Geschwister und zogen aus. Ein wenig mulmig war Margarete schon zumute. Was würde aus ihr werden? Für unverheiratete Frauen war es damals nicht einfach, genug zu verdienen. Für sie, die nicht laufen konnte, galt das umso mehr. Doch sie hatte schon eine Idee. Statt nur mit Stoff zu nähen, wollte sie auch mit Filz arbeiten. Der Mann ihrer Patentante hatte vor einigen Jahren im Ort eine Filzfabrik eröffnet und Margarete schwebte vor, aus seinem Material Kleidung und Wohnutensilien herzustellen. Der Mann ihrer Cousine beriet sie in unternehmerischen Fragen und ermutigte sie, sich damit selbstständig zu machen. Auf eigene Rechnung kaufte sie Filz und anderes Material ein und nähte eine Kollektion – erfolgreich, wie sich bald herausstellte. Mit einem Geschäft in Stuttgart vereinbarte sie eine größere Abnahme von Unterröcken und daneben nähte sie Kindermäntel und andere Kleidung für Privatabnehmer. Bald konnte sie sogar mehrere Näherinnen beschäftigen, ließ eine Rampe an ihr Haus bauen und stellte eine Hausangestellte ein, die sich um alles Mögliche kümmerte. Um Werbung für ihre Kleidung und anderen Produkte zu machen, ließ sie einen Katalog drucken und schaltete Anzeigen.
Zwei Jahre nach Gründung ihres Filzgeschäfts entdeckte Margarete in einer Modezeitschrift ein Schnittmuster, das ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen und den Grundstein für ein riesiges Unternehmen legen würde. Dabei war das Schnittmuster ganz unscheinbar: ein kleiner Filzelefant. Entworfen worden war er wohl als Nadelkissen, in dem man Nähnadeln hübsch aufbewahren konnte, aber Margarete beschenkte damit ihre Neffen zu Weihnachten. Sie probierte auch gleich mehrere Größen aus, um sie für den Verkauf anzubieten. Auf dem in der Nähe gelegenen Heidenheimer Markt war das »Elefäntle« ihr erster Verkaufsschlager. Sechs Jahre später wurden schon über fünftausend Elefanten verkauft und Margarete nähte weitere Tiere: Affen, Esel, Pferde, Kamele und andere.
Nun wurde die Werkstatt im Haus von Margaretes Eltern endgültig zu klein. Zusammen mit ihrem Bruder Fritz plante sie ein neues Gebäude mit einem Ladengeschäft im Erdgeschoss und einer behindertengerechten Wohnung im ersten Stock. Immer wieder wohnten Mitglieder ihrer Großfamilie bei ihr, zu vielen ihrer Nichten und Neffen hatte sie eine gute Beziehung, nicht nur weil sie immer neue Kuscheltiere hatte und auch sonst gern Geschenke machte. Mit einigen ihrer Nichten und Neffen schrieb sie sich Briefe und ermutigte sie auch im Glauben. Als ihre Nichte Eva als Dienstmädchen arbeitete, erkundigte sie sich: »Gibt es auch Musik im Haus? Gibt es gemeinschaftliche Andacht? Wenn nicht, vergiss das Beten für dich allein nicht.«
Margaretes Qualitätsanspruch war hoch. Ihr Werbespruch lautete: »Für Kinder ist nur das Beste gut genug!« Nicht nur ihre Näherinnen und Stopferinnen suchte sie höchstpersönlich aus und wies sie in die Arbeit ein, auch alle Muster für die Tiere der neuen Kollektion nähte sie selbst. Es wurden nur die besten Materialien verwendet. Tiere mit kleinen Schönheitsfehlern sortierte sie aus. Schließlich verkaufte sie ihre Spielwaren sogar nach London und New York.
Auch mehrere ihrer Neffen stiegen in die Firma ein. Ihr kreativer Lieblingsneffe Richard hatte an der Stuttgarter Kunstgewerbeschule und in England studiert, als er mit zwanzig bei ihr anfing. Er fertigte viele Skizzen von Tieren an, die zur Grundlage für neue Entwürfe wurden. Ein paar Jahre später entwarf er einen Plüschbären, dessen Arme und Beine man sogar bewegen konnte. Präsentiert wurde er bei der Leipziger Spielwarenmesse – und tatsächlich bestellte der Chefeinkäufer eines New Yorker Kaufhauses dreitausend Exemplare! Damit war der Grundstein gelegt für ein großes Wachstum des Familienunternehmens Steiff, das Margarete mit ihrem Mut und Schwung, mit ihrem Perfektionismus und Gottvertrauen gegründet hatte.