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SARAH BRENDEL

*1976

SARAH STELLTE SICH VIELE FRAGEN. Sie war sechzehn und dachte oft über ihr Leben nach. Sie überlegte: Warum lebe ich, wenn ich doch wieder sterbe? Welche Bedeutung hat mein Leben? Ihre Eltern lasen in der Bibel, aber auf Sarah wirkte sie eher wie ein altes Geschichtsbuch: richtig, aber trocken. Bis sie eines Abends darin etwas über Jesus las und plötzlich dachte: ›Das ist doch Wahnsinn! Da ist ein Mann, der sich Sohn Gottes nennt – und der hat der Welt immer nur Gutes getan: Er hat Kranken geholfen, da steht sogar, dass er Tote auferweckt hat. Und dann wird er von genau diesen Menschen ans Kreuz gebracht und getötet!‹

Sarah war total berührt von diesem Jesus und sie traf eine Entscheidung: Sie betete und sagte ihm, dass sie mit ihm leben wollte. Es begann etwas Neues für sie und dieses Neue machte sie so glücklich, dass sie anderen davon erzählen wollte. Und noch etwas Entscheidendes geschah: In ihrem trubeligen Zuhause mit sechs Schwestern und vielen Gästen entdeckte Sarah die Musik als einen Ruheort. In ihrem Zimmer brachte sie sich selbst das Gitarrespielen bei und komponierte Melodien zu ihren Tagebucheinträgen.

Mit ihrer Mutter besuchte sie manchmal das Frauengefängnis im Ort, um den Frauen dort zuzuhören und ihnen zur Seite zu stehen. Irgendwann lud ein Pfarrer sie ein, im Männergefängnis ein kleines Konzert zu geben. Als Sarah das Gebäude mit den Gittern und dem Stacheldraht betrat, war sie aufgeregt. Es herrschte eine düstere und bedrückende Stimmung. Doch als sie ihre Melodien spielte, sah sie die ersten Männer lächeln und spürte die ganze Atmosphäre heller werden. Sie staunte: ›Wow, Musik ist eine Herzenssprache, die Menschen berühren kann!‹ Dieses Gefängniskonzert spornte sie an, weiter Musik zu machen. Sie schrieb Lieder, nahm CDs auf und spielte Konzerte, manchmal zweihundertfünfzig im Jahr. Sie war sogar die erste deutsche christliche Künstlerin, die einen Plattenvertrag in den USA bekam.

Unterwegs auf Tour traf sie immer wieder Musiker, die ausgebrannt waren, die sich nach einem Zuhause sehnten und nach Gleichgesinnten, mit denen sie ihre kreativen Einfälle teilen konnten. Zwischen den Konzerten träumten sie und ihr Mann Stevie davon, wie schön es wäre, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen kreativ sein und CDs aufnehmen können. Und dieser Traum wurde auf unglaubliche Weise Wirklichkeit: Ein Freund aus Kanada, der begeistert war von ihrer Idee, kaufte für sie ein kleines Schloss in der Nähe von Dresden. Sarah und ihr Mann begannen, es mit einer anderen Familie und Freunden zu renovieren, ein Studio und Gästezimmer einzurichten. Heute leben fünf Familien im Schloss und Musiker aus vielen Ländern kommen, nehmen dort ihre CDs auf und sitzen am großen Holztisch zusammen.

Aber Sarah wollte nicht nur Musik machen. Sie wollte auch etwas bewirken. Sie fand, wenn ihre Musik nicht auch praktisch würde, wäre sie umsonst. Deshalb flog sie nach Indien und besuchte ein Heim für Mädchen. Manche von ihnen waren zwölf, manche auch vierzehn Jahre alt. Sie alle waren von Banden gekidnappt oder ausgenutzt worden. Manchen hatte man versprochen, dass sie in der Stadt arbeiten und heiraten konnten, aber in Wirklichkeit wurden sie verkauft. Eine Organisation hatte die Mädchen vor den Banden gerettet und die Täter vor Gericht gestellt, damit sie ins Gefängnis kamen. Sarah sang mit den Mädchen und merkte wieder einmal, wie heilsam Musik ist. Es gibt nicht immer Worte, aber manchmal sagt eine Melodie alles, was man spürt und ausdrücken möchte.

2014 flog Sarah dann nach Israel. Eine Freundin lud sie ein, für Freunde zu spielen, die aus Eritrea in Afrika nach Israel geflohen waren. Sarah las viel über die Fluchtgeschichten dieser Menschen und schrieb ein Lied für sie. Sie war gespannt, die Geflüchteten selbst kennenzulernen. Einer von ihnen reichte ihr in Tel Aviv zur Begrüßung die Hand. Er hatte keine Finger mehr. Auf der Flucht war er gefangen genommen und gefoltert worden und man hatte ihm die Finger abgehackt. Sarah ließen diese Begegnungen nicht mehr los und sie begann zusammen mit Stevie zu überlegen, was sie tun konnten. Sie organisierten Konzerte und sammelten Gelder. Aber sie hatten immer das Gefühl, sie müssten noch praktischer werden. Aber wie?

Eines Tages kam ihr Mann mit der Idee nach Hause, das alte Gasthaus im Dorf, das schon lange leer stand, zu mieten und für Geflüchtete herzurichten. Sarah war skeptisch. Wäre das nicht mehrere Nummern zu groß für sie? Und könnten sie als Familie so viel Geld aufbringen? Sie beteten und fragten Freunde und hatten den Eindruck, sie sollten den Schritt wagen. Es fühlte sich an wie bei Petrus, der sich traute, mitten auf dem See aus dem Boot zu steigen und auf dem Wasser zu laufen, als Jesus es ihm sagte.

Der Bürgermeister fand, sie müssten eine Bürgerversammlung abhalten, bevor geflüchtete Menschen in ihr kleines Dorf zögen. Denn manche Dorfbewohner waren ziemlich fremdenfeindlich eingestellt. Sarah fand das merkwürdig. Sie hatte in ihrer Kindheit mehrere Freunde aus der Türkei und aus Vietnam gehabt. Aber in Ostdeutschland hatten bisher nur wenige Menschen aus anderen Kulturen gelebt und Unbekanntes macht manchen Angst. Die Bürgerversammlung fand an einem grauen, verregneten Tag statt und die Stimmung, die Sarah und ihren Freunden entgegenschlug, war kalt und kritisch. »Was macht ihr, wenn die kriminell werden?«, fragten die Leute.

Sarah vertraute darauf, dass Liebe am Ende immer stärker sein würde als alle Angst. Sie betete jeden Tag, dass eine Familie mit Kindern in ihr altes Gasthaus zog und dass Gott sie hier beschützte. Und es kam tatsächlich eine Familie: Mecid mit seiner Frau, fünf Töchtern und einem kleinen Sohn. Sie waren vor den Taliban geflohen, die schon seinen Bruder und seine Nachbarn ermordet hatten. Sarah, ihre Familie und ein paar Freunde besuchten die Familie am Anfang jeden Tag. Sie aßen und tranken Tee zusammen und spielten mit den Kindern. Als die Dorfbewohner die nette neue Familie kennenlernten, waren die meisten beruhigt. Manche brachten Apfelkuchen und Möbel vorbei. Nur wenige blieben feindselig. Doch zwei anonyme Drohbriefe bekam Sarah auch. Aber sie bereute ihre Entscheidung nicht. Die afghanische Familie lernte Deutsch, lebte sich ein und zog anderthalb Jahre später in die Stadt. Ein zweites Haus im Nachbardorf wurde Sarah und ihren Freunden angeboten. Auch das renovierten sie und drei syrische Familien fanden hier nach Krieg und Flucht einen Zufluchtsort. Und so nannten sie dann auch ihre Arbeit: Refugeeum – ein Mix aus den englischen Worten für Flüchtling und Zuflucht.

Als die Fluchtrouten geschlossen wurden, fragte Sarah sich, was jetzt mit den Geflüchteten geschah. Sie hörte von überfüllten Flüchtlingslagern im Mittelmeerraum, in denen Menschen vor sich hin vegetieren und nirgendwohin können. Sie weinte viel über die Situation und redete mit Gott: »Sei barmherzig, da musst du doch was machen!« Eines Tages kam es ihr so vor, als sagte eine leise Stimme: »Sarah, tu du doch was! Du hast Hände, du hast Füße, mach dich doch auf den Weg.«

Und Sarah machte sich auf den Weg. Sie besuchte Flüchtlingslager in Griechenland und lernte viele Flüchtlinge kennen. Im vom Krieg zerbombten Aleppo in Syrien mietete sie mit ihrem Verein eine Villa und sie schufen auch hier einen Zufluchtsort: Kinder bekommen dort fünfmal in der Woche ein Frühstück, Unterricht und manchmal auch ein Mittagessen. An Menschen, die innerhalb Syriens fliehen mussten, verteilen sie Brot und manchmal Lebensmitteltüten mit Reis, Joghurt, Zitronen – und was sie in diesem Land sonst noch für die Spenden besorgen können, die sie bekommen. Und Sarahs Geschichte ist noch längst nicht zu Ende.

Sie würde sich nie eine Heldin nennen. Sie ist Musikerin, Mama und Freundin ohne viel Geld oder Einfluss, aber mit einem großen Herzen und einem großen Gott. Sie hat einfach angefangen, das zu tun, was sie tun konnte – und dabei immer ein bisschen mehr gewagt. Ihre Erfahrungen hat sie in ihrer CD »Among 10.000« verarbeitet, denn Musik bleibt einfach ihre Herzensprache.



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