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| 3 | VERLORENE STADT DES LEBENS
ОглавлениеEs gibt ein, man weiß nicht welches, süßes Geheimnis über
dieses Meer, dessen sanfte schreckliche Regungen auf eine
gewisse verborgene Seele in der Tiefe hinzuweisen scheinen …
Und es ist so, dass auf diesen Meeresweiden, diesen sanft
wogenden nassen Prärien und Blutäckern aller vier Kontinente,
die Wellen unaufhörlich steigen und fallen wie Ebbe und Flut;
denn hier mischen sich Millionen Schattierungen und Schatten,
ertrunkene Träume, Schlafwandlereien, Tagträumereien;
alles, was wir Leben und Seele nennen, liegt träumend,
träumend still; wälzt sich wie die Schläfer in ihren Betten;
schafft mit seiner Unrast die ewig rollenden Wellen.
HERMAN MELVILLE, MOBY-DICK
Der amerikanische Maler Elihu Vedder verlieh dem Geheimnis des Meeres im Gemälde »Memory« von 1870 Gestalt.
Für diese Aufnahme von NGC 602 kombinierten Astronomen die Daten von drei Teleskopen. Der Sternenhaufen liegt etwa 200 000 Lichtjahre entfernt in der Zwerggalaxie Kleine Magellansche Wolke (KMW), die um unsere Milchstraße kreist. Da diese Region der KMW weniger Metalle, Gase, Staub und Sterne enthält, könnte sie als Modell für die Geburt von Sternen im frühen Universum dienen.
Als unsere Galaxie, die Milchstraße, jung war, gerade einige Milliarden Jahre alt, war sie weitaus produktiver als heute. Damals, vor etwa sieben Milliarden Jahren, gebar sie dreißigmal mehr Sterne: ein Feuersturm der Sternenschöpfung. Unser Stern entstand später, vielleicht gibt es uns deshalb. Ältere, massivere Sterne starben und vermachten uns im Verlauf weiterer fünf Milliarden Jahre ihre schwereren Elemente. Diese verdichteten sich und lieferten das Material für die Planeten und Monde in unserem Sonnensystem. Auch wir bestehen aus diesem Sternenstoff.
Lodernde rosafarbene Wasserstoffwolken umhüllten die neugeborenen Sterne. Die Gravitation formte sie um. Hellblaue Haufen älterer Geschwistersterne und amorphe Gas- und Staubansammlungen verschmolzen mit den rosa Wolken und wurden zu der Galaxie, die wir heute unser Zuhause nennen.
Das Universum bildet Galaxien. Galaxien bilden Sterne.
Einer dieser Sterne wird zur Supernova, deren Schockwellen aus Materie die Wolke aus Gas und Staub verwirbeln. Sie beginnt, sich zu verdichten und zu drehen, sie flacht sich zu einer Scheibe ab. Die Beule in ihrer Mitte blitzt plötzlich auf, im gleißend hellen Licht einer Fusionsreaktion. Unsere Sonne ist geboren.
Funkelnde grüne Jets schießen aus der Sonne und regnen wie Smaragdflitter auf die umliegende Scheibe. Unser Stern spendet seinen Welten kostbare Mineralien – glitzernde Diamanten und grünen Olivin, ein wichtiger Stoff in unserer Geschichte.
Die Scheibe dreht sich weiter und gliedert sich in konzentrische Ringe. Einer der Ringe fängt an sich zu verklumpen und wächst, bis er eine kugelrunde Welt ist. Das ist Jupiter, der erste Planet der Sonne.
Sterne bilden Planeten, Monde und Kometen.
Gas und Staub verklumpen, weitere Welten beginnen zu wachsen und stoßen zusammen. Planeten formen sich, kollidieren mit Brocken auf ihrem Weg, wachsen zu immer größeren Welten und fegen ihre Bahn um die Sonne frei. Diese zukünftigen Planeten und Monde sind voller organischer Moleküle – den chemischen Bausteinen des Lebens. Sie sind die Erbschaft aus dem Tod anderer Sterne.
BRINGT DER KOSMOS LEBEN SO NATÜRLICH HERVOR, wie er Sterne und Welten bildet? Um das zu erfahren, tauchen wir jetzt immer tiefer in die Vergangenheit ein, durch eisenreiches, blutrotes Wasser hindurch auf den Boden eines Meeres.
Vor langer Zeit, vor über vier Milliarden Jahren, als unsere Welt jung war, gab es eine Stadt aus Türmen, die 15 bis 30 Meter hoch aufragten. Ihre Fundamente waren tief im Meeresboden verankert. Es dauerte Zehntausende Jahre, um diese Stadt zu bauen. Doch in dieser Welt gab es noch kein Leben. Wer errichtete diese unterseeischen Hochhäuser? Die Natur. Sie baute sie aus Kohlendioxid und Calciumcarbonat, demselben Mineral, das in Muschelschalen und Perlen steckt.
Eine wieder aufgetauchte verlorene Stadt des Lebens? Türme aus porösem Kalkstein, dem Tuff, ragen aus der Landschaft Kaliforniens. Sie sind keine 1000 Jahre alt und kamen zum Vorschein, als der Wasserspiegel des umgebenden Sees sich absenkte.
Unsere ruhelose Erde brach auf, kaltes Meerwasser strömte in den heißen, felsigen Erdmantel, reicherte sich mit organischen Molekülen und Mineralien wie dem grünen Olivin an. Diese Mischung erhitzte sich, schoss mit großer Kraft wieder heraus und wurde in den Poren des Carbonatgesteins eingeschlossen, aus dem die Türme wuchsen. Die Poren waren Brutschränke, sichere Orte, an denen sich die organischen Moleküle anreicherten. Auf diese Weise wurden die Felsen zum ersten Heim des Lebens. Es war der Anfang, zumindest in unserer Ecke des Kosmos, einer andauernden Zusammenarbeit zwischen den Mineralien der Erde – den Felsen – und dem Leben.
Als sich Wasser und Kohlendioxid zu organischen Molekülen verbanden, die zum Ursprung des Lebens führten, wurden Wasserstoff und Methan freigesetzt. Dieser Prozess hinterließ Risse im Gestein. Wissenschaftler suchen Wasser, wenn sie auf anderen Welten nach Leben suchen, denn es ist die Grundvoraussetzung für Leben. Heute suchen sie auch nach Anzeichen der Serpentinisierung, die mit dem Prozess, der Leben ermöglicht, eng verbunden ist.
Und findet die Wissenschaft ein so schönes Bild für den Ursprung des Lebens wie Michelangelos Gotteshand, die Adam zum Leben erweckt? Organische Moleküle, die Bauelemente des Lebens, sammelten sich in den mikroskopischen Poren des Mörtels der Unterwassertürme. Die Moleküle bestanden aus Atomen, so wie alles – auch wir. Inmitten der verstreuten organischen Moleküle flitzten leuchtende Energiepunkte umher, die Protonen.
Nur Energie konnte die leblosen Moleküle beleben. Diese kam aus der Reaktion des alkalischen Wassers, das in den Türmen eingeschlossen war, mit dem sauren Wasser des Ozeans. Man vermutet, dass dieser Prozess die ersten selbstreproduzierenden Moleküle antrieb, die Vorläufer der RNS- und DNS-Moleküle. An den inneren Wänden der Poren lagerten sich weitere kleine Moleküle an. Diese Vorgänger der Lipide bildeten die ersten Zellmembranen. Im Laufe der Zeit lösten sich die hydrothermalen Türme mit den zahllosen Poren auf. Doch die komplexen Moleküle – die ersten Zellen der Erde – blieben intakt. Sie entwickelten sich zu fortpflanzungsfähigen Mikroben.
Diese Vision vom Ursprung des Lebens ist der plausibelste Schöpfungsmythos der Wissenschaft, den wir bis heute haben. Die Hypothese führt die lange getrennten Disziplinen Biologie, Chemie, Physik und Geologie zusammen.
EINIGE FORSCHER MEINEN, dass sich das Leben zuerst in den Felsen festsetzte. Aber das Leben wollte vom ersten Tag an ausbrechen und neue Welten erobern. Nicht einmal der große Ozean konnte es zügeln. Als das Leben entstand, sah der Planet völlig anders aus als heute. Ein Meer bedeckte fast die ganze Erdoberfläche. Eisen färbte das Wasser rot, der Himmel war ein gelboranger Nebel und nicht blau. Die Umlaufbahn des Mondes lag noch näher an der Erde. Die Atmosphäre war ein Kohlenwasserstoffsmog. Es gab keinen Sauerstoff und nichts, was ihn atmen wollte. Purpurrote Vulkankrater bildeten das Land. Das Leben gestaltete die Welt, das Meer und den Himmel neu. Aber es handelte nicht immer im eigenen Interesse. Eines Tages hätte es sich fast selbst vernichtet.
Um Zeuge einer der katastrophalsten Epochen der Erdgeschichte zu werden, gehen wir im Kosmischen Kalender zurück. In unserer Ecke des Universums geschah nicht viel, bis etwa drei Milliarden Jahre nach dem Anfang der Zeit. Erst am 15. März begann sich unsere Galaxie herauszubilden und erst am letzten Augusttag, sechs Milliarden Jahre später, zündete unsere Sonne. Gleich danach formten sich der Jupiter und die anderen Planeten. Nur drei Wochen darauf, am 21. September, begann vermutlich in diesen kleinen Winkeln und Rissen auf dem Meeresboden das Leben. In den folgenden drei Wochen der kosmischen Zeit wuchsen immer mehr Vulkane aus dem Meer und ihre Eruptionen schufen die Landmasse.
Wir verstehen erst seit Kurzem, wie stark das Leben den Planeten gestaltete. Dabei fallen uns zuerst die grünen Weiten der Wälder und die sich ausbreitenden Städte ein. Aber das Leben verwandelte den Planeten lange vorher. Eine Milliarde Jahre, nachdem dieser winzige Funke am Meeresboden zündete, war das Leben bereits ein globales Phänomen. Das verdankt es Vorkämpfern, die noch immer existieren: den Cyanobakterien.
Die Cyanobakterien sind seit 2,7 Milliarden Jahren im Geschäft und fühlen sich überall wohl, in Süß- oder Salzwasser, heißen Quellen oder Salzgruben. Sie sind Alchemisten. Sie beherrschen, wozu wir trotz aller Wissenschaft und Technik nicht in der Lage sind: Sie verwandeln Sonnenlicht in Zucker, produzieren durch Fotosynthese ihre eigene Nahrung.
In den nächsten 400 Millionen Jahren färbten die Cyanobakterien den Himmel langsam blau, indem sie Kohlendioxid aufnahmen und Sauerstoff abgaben. Sie verwandelten nicht nur Himmel und Meer, sie drangen auch in die Felsen ein und veränderten sie. Sauerstoff wirkt zersetzend. Das Land verrostete, der Sauerstoff der Cyanobakterien wirkte auf die Mineralien wie ein Zaubermittel. Von den 5000 Mineralien der Erde entstanden etwa 3500 durch den vom Leben erzeugten Sauerstoff.
Die Erde gehörte einst den Cyanobakterien. Diese winzigen Einzeller waren die dominante Lebensform. Wo immer sie hinkamen, zerstörten und veränderten sie die Landschaft, das Wasser und den Himmel. Das war vor 2,3 Milliarden Jahren, im späten Oktober des Kosmischen Kalenders. Die Cyanobakterien teilten sich damals den Planeten mit anaeroben Lebensformen, die sich schon entwickelt hatten, bevor die Cyanobakterien die Erde mit Sauerstoff verschmutzten. Für sie war Sauerstoff Gift, doch die Cyanobakterien hörten nicht auf, die Atmosphäre damit anzureichern. Das war für die Anaerobier und fast alles andere Leben auf der Erde verheerend. Die Cyanobakterien verursachten die Große Sauerstoffkatastrophe. Von den Anaerobiern überlebten nur die, die zum Meeresboden flohen, tief in das Sediment, wo sie der Sauerstoff nicht erreichte.
Erinnern wir uns an die serpentinisierten Felsen am Meeresboden, die Wasserstoff und Methan ausströmen. Methan ist ein starkes Treibhausgas und war damals der wichtigste Faktor, der den Planeten warm hielt. Auch hier brachte der Sauerstoff alles durcheinander. Er oxidierte das Methan und heraus kam Kohlendioxid, ein viel schwächeres Treibhausgas. Das bedeutete, dass die Erde abkühlte und das grüne Leben auf dem Land zu sterben begann.
Im Zentrum der Grand Prismatic Spring im Yellowstone-Gebiet existiert kein Leben, daher ist das 71 °C heiße Wasser himmelblau. Ein Biofilm aus Mikroben in intensiven gelben und orangen Farbtönen fasst die heiße Quelle ein.
Im Burgess-Schiefer in den kanadischen Rocky Mountains ist eine Unzahl an Lebewesen aus der Zeit der kambrischen Explosion vor etwa 500 Millionen Jahren versteinert. V. L. N. R.: Trilobit (Pagetia bootes), Armfüßer (Micromitra burgessensis), Weichtier (Eldonia ludwigii) und Gliederfüßer (Molaria spinifera).
Die polaren Eiskappen dehnten sich aus und bedeckten den gesamten Planeten, bis die Erde ein überfrorener Ball war, umhüllt von Schnee und Eis. Die Cyanobakterien als dominante Lebensform des Planeten vernichteten sich fast selbst. Ein ernüchternder Gedanke für alle, die diese ökologische Nische heute besetzen.
VOR ETWA 2,2 MILLIARDEN JAHREN gab es den ersten globalen Winter. Er dauerte einige 100 Millionen Jahre, vom 2. bis zum 6. November des Kosmischen Kalenders, bis gewaltige Vulkanausbrüche das Eis durchbrachen und sich die Lava über die Oberfläche ergoss. Der Entfesselungskünstler Leben konnte sich aus dem eisigen Griff des Todes befreien. Das Eis zog sich zu den Polen zurück.
Die toten Cyanobakterien hinterließen ein planetenweites Reservoir an Kohlendioxid. Die Vulkanausbrüche schleuderten es in die Atmosphäre, was den Planeten erwärmte und das Eis schmelzen ließ. In der folgenden Jahrmilliarde setzten Leben und Gestein ihre komplizierte Beziehung fort und eroberten den Planeten ungeachtet von Eis- und Warmzeiten.
Dann, vor 540 Millionen Jahren, am 17. Dezember des Kosmischen Kalenders, geschah etwas Wundervolles. Der Himmel war blau und aus dem Ozean erhoben sich zwei große Kontinente und einige Inselketten. Das Leben, das bis dahin aus Mikroben und einfachen Vielzellern bestand, startete plötzlich durch. In der kambrischen Explosion entwickelten sich Beine, Augen, Kiemen und Zähne. Die Artenvielfalt nahm rasend schnell zu. Unzählige Kriechtiere breiteten sich auf dem Planeten aus: gepanzerte Trilobiten; Vetulicolia, muschelähnliche Kreaturen mit Kiemen; Hallucigenia, kopflose Würmer mit Stacheln; und viele andere.
Wir wissen nicht, was es dem Leben erlaubte, schlagartig so eine Vielfalt auszubilden, doch es gibt einige plausible Theorien. Durch die Vulkanausbrüche war der Calciumgehalt im Meer sehr hoch, und das Leben fand mithilfe des Gesteins einen Weg, sich ein Rückgrat und eine Schale zuzulegen. Mit diesem Panzer konnte es nun stärker wachsen und auf unbewohnte Gebiete vordringen – das Land.
Oder die Vielfalt entstand aufgrund des Schutzschildes der Cyanobakterien. Mit dem Sauerstoff in der Atmosphäre bildete sich die Ozonschicht, wodurch das Leben das sichere Meer verlassen und das Land besiedeln konnte, ohne von den Ultraviolettstrahlen der Sonne gegrillt zu werden. Milliarden Jahre lang dümpelte das Leben nur vor sich hin, nun begann es zu schwimmen, zu laufen, zu hüpfen und zu fliegen.
Oder es kam zu einer Art evolutionärem Wettrüsten zwischen konkurrierenden Lebensformen. Eine Art wie der Anomalocaris, eine gigantische gepanzerte Garnele, bekam lange Greifer, mit denen sie ihre Beute, die Trilobiten, umdrehte, um an ihre verwundbare Stelle zu kommen. Das funktionierte, bis die Trilobiten eine gegliederte Schale entwickelten, mit der sie sich zur Verteidigung zu einem gepanzerten Ball zusammenrollen konnten. Der Trilobit überlebte und hinterließ weitere Nachkommen. Anomalocaris starb aus.
Oder lösten Viren die kambrische Explosion aus? Wir betrachten sie immer als Nemesis des Lebens, aber so schlecht sind sie nicht. Viren tendieren zur Schlamperei. Vielleicht ließen sie auf ihrer Reise von Wirt zu Wirt DNS-Stückchen zurück, und einige der Wirte veränderten sich durch die abgelegte DNS auf eine Weise, die im Hinblick auf ihre Umwelt günstig war.
Die beispiellose Artenvielfalt, die im Kambrium beginnt, könnte auch das Ergebnis aller dieser Theorien sein oder von Ursachen, die wir noch nicht kennen. Warum auch immer: Das Leben besaß Kraft genug, um sich aus jedem Gefängnis der Erde zu befreien. Und Hunderte Millionen Jahre nach der kambrischen Explosion wird der Tag kommen, an dem es sogar der Erde entkommt. Das Leben lässt sich nicht einschließen.
DIE SPUR DES LEBENS zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen, erforderte eine neue Art von überdisziplinärer Wissenschaft. Der Mann, dem wir sie verdanken, floh vor den unerbittlichsten Mördern der Geschichte und verspottete sie auf Schritt und Tritt.
Victor Moritz Goldschmidt war so brillant, dass ihm die Universität Oslo 1909 mit 21 Jahren eine Stelle anbot, ohne dass er einen Abschluss hatte. Drei Jahre später erhielt er den Fridtjof-Nansen-Preis, die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Norwegens.
Als einer der ersten Forscher betrachtete er die Erde als System. Er wusste, dass es, um ein Gesamtbild zu erhalten, nicht genügte, sich nur in Physik, Chemie oder Geologie auszukennen. Das war in der Anfangszeit der Erforschung der Elemente, bevor man die instabilen Elemente im Periodensystem jenseits des Urans, die Transurane, kannte.
Im 19. Jahrhundert machte die Chemie große Fortschritte im Verständnis der Natur und der Eigenschaften der Chemikalien. Die Chemiker waren überzeugt davon, dass die Grundelemente aus unteilbaren Atomen bestehen. Verschiedene Atome haben verschiedene chemische Eigenschaften, und wenn sie miteinander reagieren und Moleküle bilden, entsteht diese verblüffende Vielfalt an Substanzen in der Welt – Luft, Wasser, Metalle, Mineralien, Proteine. Einige Moleküle, wie Wasser, sind sehr einfach. Andere, wie Proteine, aus denen das Leben aufgebaut ist, sind unglaublich komplex und umfassen manchmal Millionen von Atomen. Aber jeder Stoff im Kosmos ist letztendlich nur aus einigen Dutzend, in unterschiedlicher Weise und Zahl kombinierten Grundelementen aufgebaut.
In den 1860er-Jahren entdeckte der russische Chemiker Dmitri Mendelejew bei der Suche nach einer Systematik der Elemente, dass sich durch ihre chemischen Eigenschaften (Reaktivität, Entflammbarkeit, Toxizität und so weiter) natürliche Achtergruppen ergeben, wenn man die Elemente nach dem zunehmenden Atomgewicht anordnet. Doch wenn man diese Gruppen in einer Tabelle anordnete, gab es Zeilen mit Lücken. Mendelejew vermutete, dass die Elemente für diese Lücken noch nicht entdeckt waren, und sagte die chemischen Eigenschaften einiger von ihnen richtig voraus.
Dmitri Mendelejew arbeitete fortwährend an verbesserten Tabellen des Periodensystems. Sein Ausgangspunkt war diese Notiz vom Februar des Jahres 1869. Damit schuf er ein erstaunlich tragfähiges System zum Verständnis der Materie.
Goldschmidt nutzte diese neue Erkenntnis, um sein eigenes, noch heute angewendetes Periodensystem zu erstellen. Damit konnte er erkennen, wie Kristalle und komplexe Mineralien aus grundlegenden Elementen aufgebaut sein könnten. Sein erweitertes Periodensystem erhellte, wie diese Elemente einige der majestätischsten geologischen Strukturen der Erde bilden, den Himalaya, die weißen Klippen von Dover, den Grand Canyon. Goldschmidt entdeckte die Fundamente der Geochemie und erkannte, wie sich die Materie in den Bergen entwickelte.
1929 traf er eine fatale Entscheidung und nahm einen Ruf an die Universität Göttingen an, die extra für ihn ein neues Institut einrichtete. Er soll dort seine glücklichsten Jahre verbracht haben, bis 1933 Adolf Hitler an die Macht kam. Goldschmidt war Jude, aber nicht religiös. Hitler änderte für ihn alles. Goldschmidt erklärte sich mit der örtlichen jüdischen Gemeinde öffentlich solidarisch. Als die Nationalsozialisten eine Ahnennachweispflicht einführten, erklärte Goldschmidt im Gegensatz zu vielen anderen auf seinem Formular stolz, dass seine sämtlichen Vorfahren Juden waren. Hitler und Hermann Göring, der Gründer der Gestapo, teilten ihm 1935 persönlich in einem Brief seine fristlose Entlassung mit. Der Forscher rettete sich nach Norwegen, nur mit den Kleidern am Leib.
Goldschmidt konzentrierte sich in seiner Forschung auf Olivin, jenes grüne Mineral, das schon bei der Ausbildung des Sonnensystems entstanden war. Es hielt höchsten Temperaturen stand, und Goldschmidt vermutete als Erster, dass es beim Ursprung des Lebens eine Rolle gespielt haben könnte. Hochreinen Olivin nennt man Peridot, er wird poliert und als Schmuck eingefasst. Goldschmidt fand neue Anwendungen dafür, etwa um Schmelz- und Brennöfen auszukleiden. Spätere Generationen erkannten, dass die Hitzefestigkeit auch für Atomreaktoren und Raketen ideal war.
An der Entstehung und chemischen Evolution des Lebens hatte Olivin vermutlich einen entscheidenden Anteil.
Goldschmidt fragte sich aber auch, ob es Olivin überall im Kosmos gibt. Das war der Anfang der sogenannten Kosmochemie. Doch für ihn bekam eine traditionellere Form der Chemie viel größere Dringlichkeit. Am Vorabend der Invasion Norwegens durch die Nazis zog er Schutzkleidung an und fertigte sich Zyanidkapseln an. Er trug sie versteckt mit sich herum, damit er sich umbringen konnte, falls die Gestapo ihn abholen würde. Als ihn ein Kollege fragte, ob er auch eine haben könnte, antwortete Goldschmidt: »Gift ist nur für Chemieprofessoren. Sie als Physiker werden ein Seil benutzen müssen.«
1942 hämmerte die SS mitten in der Nacht an seine Tür. Goldschmidt steckte das Zyanid in seine Tasche. Er wurde zuerst in das Konzentrationslager Berg gebracht, eine Zwischenstation auf dem Weg nach Auschwitz, ein Ort, der – wie er Freunden mit schwarzem Humor erklärte – »nicht sehr empfohlen wurde«. Blass und ausgemergelt wartete er als einer von 1000 Juden am Pier, um deportiert zu werden, als ihn ein Trupp Soldaten aus der Reihe holte. Als sie sich näherten, spielte er mit der kleinen blauen Kapsel in seiner Tasche. Doch er entschied sich zu warten; es würden sich weitere Gelegenheiten ergeben, die Giftkapsel zu nehmen.
Goldschmidt war den Nazis als Wissenschaftler zu wichtig, um ihn zu töten. Man schlug ihm vor, außerhalb des Lagers wohnen zu können, wenn er seine Wissenschaft in den Dienst des Reiches stellte. Goldschmidt ergriff die Chance und nutzte den Vorteil, den er gegenüber seinen Entführern hatte – sein Wissen. Er spielte mit ihnen. Er sandte ganze Abteilungen auf die fruchtlose Suche nach nicht existierenden Mineralien und ließ sie glauben, dass diese kriegsentscheidende Rohstoffe seien. Wäre die List durchschaut worden, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet.
Ende 1942 wusste die norwegische Widerstandsbewegung, dass Goldschmidt in ernster Gefahr war, und organisierte seine Flucht nach Schweden. Den Rest des Krieges verbrachte er in Schweden und später in England, wo er für die Alliierten arbeitete. Seine Gesundheit erholte sich nie von den Kriegsstrapazen. Victor Goldschmidt starb 1947. Gegen Ende seines Lebens schrieb er eine Arbeit über komplexe organische Moleküle, die seiner Meinung nach zum Ursprung des Lebens auf der Erde führten. Diese Thesen sind bis heute für unser Verständnis davon, wie Leben entstand, zentral. Goldschmidt erfuhr nie, dass die nachfolgenden Generationen von Geochemikern ihn als Gründer dieses Faches betrachteten.
Sein letzter Wunsch enthielt eine einfache Bitte: Er wollte verbrannt werden und die Urne sollte aus dem Material bestehen, den er für den Stoff des Lebens hielt – sein geliebter Olivin.