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2 1914: Die Welt in Aufruhr Der Kriegsbeginn als Zäsur

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Eine Woche nach Kriegsbeginn, zur Zeit der allgemeinen Mobilmachung, schreibt ein Mann namens Wilhelm einen eiligen Brief an seine Familie:

»Hoffentlich trifft Euch dieser Brief noch zu Hause an, denn in einigen Tagen werdet Ihr wohl Abschied nehmen müssen, wer hätte das wohl geglaubt, daß die Welt mal so in Aufruhr geraten könnte jetzt bin ich 20 Jahre vom Militär frei und kann noch in den Krieg ziehen […].«1

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Urplötzlich und ohne Vorwarnung, so scheint es, bricht der Krieg in das private Leben ein, macht individuelle Lebensentwürfe zunichte und stürzt die Menschen ins Ungewisse. Das Bild einer in Aufruhr geratenen Welt zeigt, dass der heraufziehende Krieg nicht nur als Bruch in der eigenen Biographie, sondern zugleich als globale Katastrophe von historischem Ausmaß wahrgenommen wird. Die Vermischung des eigenen privaten Lebens mit überpersönlichen Weltereignissen, die als so komplex empfunden werden, dass ein Verstehen unmöglich gemacht wird, ist mit einem Gefühl des Kontroll- und Autonomieverlusts verbunden. »[Es] ist gut«, schreibt Wilhelm, »das unser Vater das nicht mehr erlebt hat, leider bist Du liebe Mutter nun ganz allein.«2 Alle bisher gekannten Gewissheiten und Sicherheiten haben keine Gültigkeit mehr. So schreibt eine Frau an ihren gerade nach Frankreich eingerückten Nachbarn: »[Wir] haben nun lange Jahre zusammen gelebt und jetzt muß es so noch kommen.«3 Der Krieg als Zäsur ist ein zentrales Motiv in den Feldpostbriefen des Kriegsbeginns.

Die weit verbreitete Verunsicherung bezüglich der sich überschlagenden Ereignisse manifestiert sich in den Briefen und Karten in einem lakonischen Stil. Im September 1914 berichtet ein Soldat von seiner Ausbildung, die in aller Eile durchgeführt wird:

»Wier müssen am Morgen um 5 Uhr aufstehen, u. ausrücken bis ½ 12 Uhr, dann von ½ 3–8 Uhr, das schlaucht nicht wenich. Unser Majohr meint uns daß wier in 4 Wochen ausgebildet sein sollen, dann geht nach Münsingen u. Scharfschießen, u dann geht’s Rußland zu […].«4

Dem Medium der Feldpostkarte ist es geschuldet, dass einschneidende biographische Ereignisse wie die Fahrt nach Russland auf knappe Eckdaten reduziert werden und so die existenzielle Dimension des Mitgeteilten nur erahnt werden kann. Ausschlaggebend ist außerdem die Tatsache, dass – je nach Milieuzugehörigkeit und Bildungsgrad – das schriftliche Ausdrucksvermögen vieler Menschen aufgrund fehlender Schreiberfahrung in der Vorkriegszeit schnell an seine Grenzen stößt.5 Zudem liegt die Vermutung nahe, dass selbst erfahrenere Briefschreiberinnen und Briefschreiber oft nicht imstande waren, die völlig neue Erfahrung eines Krieges in schriftliche Sinnzusammenhänge zu stellen. Eine persönliche Ebene, die Einblicke in das innerste Empfinden der Schreibenden gewährt, findet sich in den untersuchten Briefen und Postkarten somit äußerst selten:

»Wir rücken bis 15. aus nach der Grenze. Schreibe mir bald einmal. Gott schütze dich.«6

Während sich aus diesen drei kurzen Sätzen, die ein Soldat Anfang August auf einer Feldpostkarte an einen Freund richtet, keinerlei Rückschlüsse auf die emotionalen Vorgänge des Briefschreibers ziehen lassen, sind diese doch symptomatisch für die sprachlichen Diskurse und Briefkonventionen der damaligen Zeit. Die Aufforderung, bald zu schreiben, zeigt, dass die primäre Aufgabe der Feldpost nicht der detaillierte Austausch von Informationen, sondern die Aufrechterhaltung von persönlichem Kontakt war. Die Wendung »Gott schütze dich« am Ende der Postkarte erhält durch ihre Formelhaftigkeit beschwörenden Charakter. Dies zeigt sich auch in folgendem Brief, den eine Mutter Ende August an ihren Sohn richtet:

»Lieber Ernst ich bete Tag und Nacht für Euch lieben Kinder, das Euch der liebe Gott überall beschützen mag wo ihr seid. Friedrich hat ein Testament gemacht falls er nicht wieder kömmt, mir das Haus gehört, ich damit machen kann was ich will ist das nicht braf von ihn.«7

Der Verweis auf das tägliche Gebet kann als Bewältigungsstrategie verstanden werden, die in den traditionellen Formen der Religiosität verhaftet ist, und der Briefschreiberin angesichts der verunsichernden Ereignisse Orientierung vermittelt. Auch das erwähnte Testament ist weit mehr als eine bloße finanzielle Absicherung, zeugt es doch von dem Bedürfnis, in einer unüberschaubaren Situation mit ungewissem Ausgang die Kontrolle zu behalten.

Das disruptive Potential des Krieges, der die Fundamente des bisherigen Lebens erschüttert, ist eng verknüpft mit einer unbestimmten Endzeitstimmung. Anders jedoch als in vielen literarischen Werken, die auf die Zeit der Mobilmachung Bezug nehmen, ist in den Feldpostbriefen von einem heilsgeschichtlichen Erneuerungsgedanken oder gar von Kriegsbegeisterung nichts zu spüren. Während etwa in Thomas Manns Der Zauberberg der Krieg als reinigender Donnerschlag bezeichnet wird, der die Welt ins Chaos stürzt, nur um aus ihren Trümmern »einmal die Liebe steigen«8 zu lassen, ist in den Briefen oft eine gänzlich profane Zukunftsangst sowie der damit verbundene Wunsch nach Absicherung vorherrschend: Der bereits erwähnte Wilhelm habe seiner Schwester geraten, »sie sollten sich trauen lassen, Papiere und Aufgebot brauchen sie jetzt ja nicht, dann kriegt Auguste doch im Notfall Unterstützung […].«9 Und während Emil Sinclair in Hermann Hesses Demian das Motiv des Riesenvogels Abraxas beschwört, der sich schicksalhaft aus dem Ei kämpft – »das Ei war die Welt, und die Welt mußte in Trümmer gehen«10 –, schreibt eine Frau angesichts der Tatsache, dass ihre beiden Brüder in den Krieg gezogen sind: »Hoffentlich sind sie noch gesund und munter dies ist eine zu traurige Zeit für uns alle.«11 In den Feldpostbriefen ist das in der Literatur weit verbreitete reinigende Erweckungserlebnis fast komplett abwesend.12 Der Topos von der alten Welt, die in einem karnevalesken »Weltfest des Todes«13 zugrunde gehen muss, damit aus ihren Trümmern eine geläuterte und bessere Menschheit entstehen kann, ist lediglich in intellektuellen und künstlerischen Kreisen verbreitet, die sich vom Krieg eine Befreiung aus erstarrten gesellschaftlichen Strukturen erhofften. In die Lebenswirklichkeit der meisten Milieus – ungeachtet, ob bürgerlich, ländlich oder von Arbeitern dominiert – ist dieser Diskurs kaum vorgedrungen.14

Lediglich in abgeschwächter und zur Floskel erstarrter Form finden sich Anklänge davon in den Feldpostbriefen und -karten des Kriegsbeginns, die jedoch trotz der scheinbar transportierten Euphorie nicht als Kriegsbegeisterung interpretiert werden sollten. Im August 1914 schreibt ein Soldat an seinen Bruder: »Und jetzt gehts mit frohem Mut. Mit Gott für König und Vaterland.«15 In der sakralisierten Überhöhung der eigenen Nation gehen Religion und Nationalismus eine semantische Verbindung ein und beinhalten einen identitätsstiftenden Effekt: Der Einzelne ist eingebettet in das Kollektiv der Nation, wodurch nicht nur dem eigenen Dasein, sondern auch dem Krieg an sich ein höherer Sinn verliehen wird.


Abb. 4: Gruppenbild württembergischer Soldaten

Angesichts der Mobilmachung greift im August 1914 eine allgemeine Erregung um sich, der sich beinahe niemand entziehen konnte. Doch nur selten war eine überschwängliche, rauschhafte Euphorie die Ursache für die Menschenansammlungen in den großen Städten. Oftmals trieb das Bedürfnis nach Informationen zu den aktuellen Geschehnissen die Menschen auf öffentliche Plätze – ein Phänomen, das jedoch auf die größeren urbanen Zentren des Deutschen Reichs beschränkt blieb.16 Die Feldpostbriefe sind diesbezüglich bemerkenswert vage. So steht auf einer Postkarte aus Straßburg neben der Abbildung des Münsters geschrieben: »Ich habe mich Freiwillig ins Feld gemeldet.«17 Die Beweggründe für diese Handlung gehen aus der Postkarte jedoch nicht hervor. Es steht ein breites Spektrum an Deutungsangeboten zur Verfügung: Statt einer genuinen Kriegsbegeisterung waren oft Gruppenzwang und die damit verbundene »Scham vor dem Nebenmann«18 ausschlaggebende Entscheidungsfaktoren. Derjenige, der sich nicht freiwillig zum Kriegsdienst meldete, lief Gefahr, als feige und unmännlich gebrandmarkt und auf eine semantische Ebene mit den daheimbleibenden Frauen, Alten und Kranken gestellt zu werden.19 Durch die freiwillige Meldung wurde die eigene Männlichkeit unter Beweis gestellt und der Grundstein für die diskursive Gleichsetzungen ›Mann und Front‹ beziehungsweise ›Frau und Heimat‹ gelegt. Viele Freiwillige waren zudem von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt und betrachteten ihre Teilnahme am Krieg als nationale Pflicht.20 Eng damit war die Auffassung verknüpft, Deutschland werde der Krieg aufgezwungen und müsse sich entsprechend verteidigen. So wird beispielsweise auf einer Karte vom Oktober 1914 das Motiv vom deutschen Soldaten als »Vaterlandsverteidiger[…]«21 reproduziert und die defensive Rolle des Deutschen Reiches unterstrichen.

Es ist kein Widerspruch, dass trotz alledem ein Großteil der Bevölkerung die Mobilmachung sowie die bevorstehenden Kriegsereignisse als existenzbedrohende Krise empfand. Aus diesem Grund waren körperliche Gebrechen aller Art bereits zu Beginn des Krieges ein willkommener Grund, sich den drohenden Kampfhandlungen zu entziehen. Eine Mutter schreibt im August 1914 an ihren Sohn:

»[…] Heinrich ist wieder gekommen wegen seinen Bruchschaden der ist jetzt untauglich geschrieben Wilhelm ist schon 2 mal wieder gekommen ob er nun noch mal weg mus, weis man noch nicht ist denn dein Herzleiden besser, hast du gar keinen Grund das du wieder zurück kömmst.«22


Abb. 5: Soldat in Uniform, vermutlich Kriegsbeginn

Während viele Männer aufgrund von soldatischen Männlichkeitsidealen zögerten, in die Heimat zurückzukehren, waren vor allem die Familienangehörigen bestrebt, ihre Verwandten so schnell wie möglich wieder nach Hause zu holen – entweder mit körperlichen Begründungen oder aufgrund von wichtigen Arbeiten im Familienbetrieb und auf dem heimischen Hof, die eine Reklamierung rechtfertigten. Doch genauso wenig, wie die oben erwähnten Briefausschnitte eine euphorische Kriegsbegeisterung belegen, dürfen eine vage Zukunftsangst und die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende als politisch motivierte Kriegsgegnerschaft missverstanden werden. 1914 wird in den Feldpostbriefen kaum über gesellschaftliche Zusammenhänge oder gar die Ursachen für den Kriegsausbruch reflektiert.23 Wird der Krieg abgelehnt, geschieht dies meist nicht aus politischen Gründen, sondern weil dieser wie eine Naturkatastrophe in das Leben der Menschen einbricht und persönliche Lebensentwürfe zunichtemacht. Ausschlaggebender Faktor ist hierbei die Sehnsucht nach dem Leben der Vorkriegszeit, in dem ein unpolitisches Dasein in der privaten Sphäre der Familie möglich schien. So berichtet ein Mann auf einer Karte an seinen Neffen von der Verletzung eines gemeinsamen Bekannten – »Schuß durch beide Oberschenkel« – und schließt mit dem Wunsch: »Wenn doch der liebe Gott helfen wollte, daß dieser schreckliche Krieg bald zu Ende wäre.«24 Dennoch liegt der formelhaften Friedenssehnsucht keine dezidiert pazifistische Geisteshaltung zugrunde, was die folgende Schlussformel des Briefes deutlich macht: »Hoffentlich kriegen unsre Feinde bald die nötige Dresche, daß die Gesellschaft das Wiederkommen vergißt.«25 Ein möglichst schneller Sieg ist in der Ansicht vieler Zeitgenossen die einzige Voraussetzung für ein baldiges Kriegsende. Der Feind, der überwunden werden muss, bleibt dabei bemerkenswert schemenhaft. »Verkloppt die Franzosen man tüchtig und dann kehrt glücklich bald zurück«26 schreibt eine junge Frau namens Ella im September 1914 ihrem Verlobten und bedient dabei den floskelhaften Topos vom schnellen Offensivsieg, der aus einer anderen, vorindustriellen Zeit zu stammen scheint. Dass der aktuelle Krieg mit den Kriegen des 19. Jahrhunderts nicht vergleichbar ist, stellt folgender Kartenschreiber bereits drei Monate nach Kriegsbeginn fest:

»[…] aber wenn Gott will werden wir bald die Heimatreise antreten als Sieger denn unsere alten Krieger hatten es im Jahr 70 blos mit einer Macht zu tun aber wir jungen Krieger haben es mit vielen Mächten zu tun in diesem ersten Jahr hat es schon mehr Kameraden gekostet wie 70 das kanße Jahr. Heute den 25 haben unsere Kameraden wieder vierzichtausend Rußen gefangen kenommen wir werden mit Rußland und Frankreich verdich wenn Gott wiel und dan geht es an den Lumpichen Engländer […].«27

Trotz der Erkenntnis, dass der aktuelle Krieg mit den traditionellen Kategorien nicht mehr bewertet werden kann, weil die Weltlage um einiges komplexer geworden ist, tritt in diesem Briefausschnitt ein äußerst bemühter Siegesoptimismus zutage, der Hand in Hand mit der fatalistischen ›Wenn Gott will‹-Floskel geht. Die nur scheinbar widersprüchliche Kombination aus Friedenssehnsucht, Durchhalteparolen und stereotypen Feindbildern wird auch in folgendem Brief deutlich:

»Hoffentlich kommst du bald wieder. Hier aus Boffzen sind schon 6 tot. Es giebt eine große Trauer im deutschen Lande. Aber nur nicht den Mut verlieren. Haue nur tüchtig drauf los. Sonst noch alles beim Alten. Auf Wiedersehen! Macht Freude!!«28

Die Versicherung von Normalität steht konträr zu den vorangehenden Aussagen, wonach im ganzen Land große Trauer herrscht, ist jedoch – genau wie der beschwörende Sprechakt am Ende – ein typisches sprachliches Mittel in Feldpostbriefen, um auf semantischer Ebene das Leben der Vorkriegszeit herbeizuschreiben.

Das Bewusstsein, dass mit dem Krieg die alte Zeit zu Ende gegangen ist, geht aus folgenden Zeilen hervor:

»Am Donnerstag hat der Unterricht wieder begonnen, allerdings nur Halbtagsunterricht, da ein Schulhaus in ein Lazarett verwandelt wurde.«29

Unbewusst wird die Quintessenz des Krieges in einem eindrucksvollen sprachlichen Bild zusammengefasst: Schulhäuser werden in Lazarette verwandelt; der allumfassende Militarismus hat buchstäblich das humanistische Bildungsideal annektiert. Jeder Lebensbereich ist vom Krieg durchdrungen, jede Gesellschaftsschicht und Altersstufe davon betroffen. Der Krieg reicht weit ins zivile Leben hinein und etabliert den Ausnahmezustand, der laut Giorgio Agamben in kriegführenden Nationen zum neuen »Paradigma des Regierens«30 wird und die grundlegenden Rechte des Einzelnen außer Kraft setzt. Weiter heißt es auf der Karte:

»Die Weinberge sind in der ganzen Nordpfalz durch die Rebenschädlinge ohne Ausnahme gänzlich vernichtet. Kein Weingert liefert auch nur den geringsten Ertrag. Doch wird dieser enorme Verlust mit Gleichmut ertragen. Niemand spricht in dieser ernsten Zeit von Schädigung.«31

Der Krieg hat oberste Priorität, alles andere ist zweitrangig. Den Menschen in der Heimat obliegt eine moralische Verpflichtung, die Soldaten im Feld durch das gleichmütige Ertragen von Entbehrungen zu unterstützen. So ist 1914 in der Bevölkerung noch die Vorstellung vorherrschend, die »ernste Zeit« habe den positiven Nebeneffekt, dass sich die Menschen durch sie auf das Wesentliche besinnen. Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung sich nach dem Ende der Kriegshandlungen sehnt, wird der Krieg per se nicht infrage gestellt, sondern als »unausweichliches Fatum im Sinne göttlicher Fügungen und katastrophaler Naturereignisse«32 hingenommen. So ist die Anfangszeit des Krieges von einer großen Ambivalenz geprägt: Auf der einen Seite ist ein allgemeiner öffentlicher Erregungszustand zu beobachten, der in einer Welle von freiwilligen Meldungen zum Kriegsdienst resultiert und so den Topos von der Kriegsbegeisterung befeuert. Zugleich ist die Zeit von Angst vor dem Kommenden sowie einer nostalgisch gefärbten Friedenssehnsucht geprägt. Diese beiden Wahrnehmungsmuster widersprechen einander lediglich auf den ersten Blick und können als verschiedene Ausprägungen desselben Grunddiskurses gewertet werden, dem keine Kriegsbegeisterung, sondern vielmehr Kriegsentschlossenheit zugrunde liegt. Lediglich die Nuancierung dieses Diskurses kann variieren und deckt die gesamte Bandbreite positiver wie negativer Reaktionen ab.

Briefe aus dem Krieg

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