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Die Heimat
ОглавлениеEin Stadtpark mit See im Zentrum von Nürnberg. Bayerisches Bergpanorama gibt es woanders, den Horizont dominiert eine klotzige Hochhaussiedlung. Tischtennisplatten, Radwege, Tretboote und eine Schwimmbucht warten auf Menschen mit Freizeit. Quarzsand schimmert rötlich am Ufer, das Café Strandgut ist offen. Die – laut Hinweisschild – »Insektenfreundliche Wiese« hat jemand gemäht. Der Herbst ist da, Deutschland wappnet sich gegen ein Aufbranden der Coronapandemie.
An einem Freitagvormittag im späten September biegt der schwarze Dienst-BMW des bayerischen Ministerpräsidenten sekundengenau pünktlich auf den Parkplatz. Kaum ist Markus Söder ausgestiegen, zückt seine Pressesprecherin das Handy: »Wir sind da.« Söder hat keine Zeit zu verlieren. Auch hier nicht. An seinem Platz in Bayern, dem Wöhrder See.
»Mein Platz ist in Bayern.« Diesen Satz hat Markus Söder den Sommer über in jedes Aufnahmegerät und jede Fernsehkamera diktiert. An manchen Tagen zehnmal hintereinander, hat Söder mitgezählt. Immer, wenn das Gespräch gegen Ende des Interviews auf die Frage kam, ob er in naher Zukunft Angela Merkels Erbe antreten wolle. Immer antwortete Söder: »Mein Platz ist in Bayern.«
Aber wie lange noch? Söders Standardantwort hat vor allem eine Funktion: Sie hält ihm alle Optionen offen, unterdrückt seine Ungeduld, überbrückt das lange Warten auf die Entscheidung innerhalb der Union. Wer als CSU-Mann aus Bayern Kanzlerkandidat im Bund werden will, kann nicht einfach sagen: »Ja, ich will.« Er muss von der CDU, der großen Schwester, gerufen werden. Erst nachdem die Schwesterpartei einen neuen Vorsitzenden gewählt hat, könnte dieser Ruf kommen.
Eigentlich hätte die CDU bereits im April 2020 ihre unsichere Führungsfrage klären wollen. Corona durchkreuzte diesen Plan. Genauso wie die Ambitionen der CDU-Kandidaten Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen. Als Corona-Krisenmanager profilierte sich nur einer: Markus Söder, dessen Platz in Bayern der Wöhrder See in Nürnberg ist.
Er spaziert los, leger gekleidet, trägt Jeans, hellblaue Wildlederschuhe und einen dunkelblauen Windbreaker mit Bayern-Wappen auf Brusthöhe. Er ist gut gelaunt, so wie immer, wenn er in seiner Heimatstadt Journalisten empfängt. Er dränge sich ungern in den Vordergrund, behauptet er, als typischer Franke sei er schüchtern. Kein Witz. Die Franken seien ein defätistisches Volk. Er verdeutlicht die Behauptung mit einem Beispiel. Ein Oberbayer sagt in der Metzgerei: »A Gelbwurst, bittschön!« Der Franke hingegen fragt: »Gelbwurst habts nicht, gell?«
Vom Fränkischen ins Hochdeutsche übersetzt heißt Söders Satz vom Platz in Bayern vermutlich: »Ich wäre gerne Kanzler, traue mich aber nicht, es laut zu sagen.«
Als Markus Söder Ministerpräsident von Bayern werden wollte, hat er das auch nie öffentlich kundgetan. Trotzdem wusste irgendwann jeder, was er will und dass er will. Bei Söders Kanzlerambitionen ist es anders. Gut möglich, dass zum ersten Mal nicht Söder zum Amt, sondern das Amt zu Söder kommt. Weil sich die Direktkandidaten der Union bei der Bundestagswahl 2021 mit ihm als Zugpferd bessere Chancen ausrechnen, ihren Wahlkreis zu gewinnen, als mit Laschet, Merz oder Röttgen.
Dieses Kalkül schmeichelt Söder. Er kennt aber auch den Ausgang der Bundestagwahlen 1980 und 2002. Erst scheiterte Franz Josef Strauß als CSU-Kanzlerkandidat, dann Edmund Stoiber. In interner Runde soll Söder gesagt haben: Kanzlerkandidaturen seien wie Russlandfeldzüge. Man marschiere frohgemut los und kehre vernichtet geschlagen zurück. Außerdem vergleicht er eine Kanzlerkandidatur aus Bayern gerne mit einem Endspiel des FC Bayern München in der Champions League. Da wolle auch nicht ganz Deutschland die Münchner siegen sehen. Was er nicht sagt, aber ganz genau weiß: Bei Nationalspielen und großen Wettbewerben wie der WM oder der EM jubeln die Deutschen den Profis aus Bayern ohne Wenn und Aber zu. Obwohl sie für den Stern des Südens spielen.
So defensiv Söders Standardantwort vom Platz in Bayern klingen mag: Zurückhaltung ist eine Tugend, die ihm nicht in die Wiege gelegt wurde. Vor zehn Jahren, erklärt Söder am Wöhrder See gewohnt selbstbewusst, war dieser Ort ein »Tümpel«. Die Kommunalpolitiker seiner Heimatstadt Nürnberg hatten den Stausee nach dem Krieg anlegen lassen, um die Altstadt vor dem Hochwasser der Pegnitz zu schützen. In der Folgezeit verebbte der See, Unkraut überwucherte die Ufer. »Es war alles voller Schlamm und Algen«, erinnert sich Söder. So klingt der Beginn einer guten Heldengeschichte. Mit ihm in der Hauptrolle.
2010 verkündet Söder seinen Plan für die »Wasserwelt Wöhrder See«. Er ist damals seit zwei Jahren Umwelt- und Gesundheitsminister im Freistaat. Sein Amt hat er in »Lebensministerium« umgetauft und dessen Zuständigkeit für die Wasserqualität bayerischer Seen in bestem Beamtendeutsch um den Bereich der »innerstädtischen Hydrokultur« erweitert. Er finde Politik dann gut, sagt Söder, »wenn sie nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Realität funktioniert«. In Euro gesprochen heißt das: 15 Millionen flossen seitdem unter anderem in einen naturbelassenen Biotopbereich, eine Freizeitlandschaft mit Badebucht und Sandstrand und in einen neuen Bachlauf.
»Nürnbergs Copacabana« oder »Frankens Côte d’Azur« nennt Wortschöpfer Söder sein politisches Gesellenstück. Heute sei der einstige Tümpel, sagt Söder beim Spaziergang, »Nürnbergs ökologisches Leuchtturmprojekt«. Er selbst hat den Imagewandel noch schneller vollzogen. Um vom unbeliebtesten Ministerpräsidenten Deutschlands zur Kanzlerhoffnung zu reifen, brauchte Söder weniger als zwei Jahre.
Der Kanzlermacher, das war der CSU-Chef schon vor Ausbruch der Pandemie. Sein Votum entscheidet, mit wem die Union als Spitzenkandidat in die nächste Bundestagswahl zieht. Wäre die Bundespolitik eine Kirmesbude, wäre Söder der Mann, der am Glückshafen das große Los gezogen, aber nur Trostpreise zur Auswahl hat. Söder kann mit keinem der möglichen Merkel-Nachfolger viel anfangen.
»Ich habe mich oft gewundert«, sagte Söder im Interview mit dem Bayerischen Fernsehen im Februar letzten Jahres, wer in Deutschland alles glaube, »für bestimmte Ämter geeignet zu sein«. Man brauche neben »Erfahrung auch Führungsstärke und Offenheit und die Liebe zu den Menschen«, um für den Job des Bundeskanzlers zu kandidieren. Das ließ sich als Dreifachohrfeige für alle CDU-Kanzlerkandidaten interpretieren: Jens Spahn fehlt die Erfahrung, Armin Laschet die Führungsstärke und Friedrich Merz die Liebe zu den Menschen. Norbert Röttgen hatte seine Kandidatur damals noch gar nicht erklärt.
Zwar steht die CDU in Umfragen ein Jahr vor der Bundestagswahl sehr gut da. Söder sagt aber nicht zu Unrecht: »Das sind Merkel-Werte.« Die Bundestagswahl 2021 werde nicht automatisch gewonnen, im Gegenteil. Die Union müsse im nächsten halben Jahr eine »Philosophie für Deutschland« entwickeln. Eine »wertkonservative Vision« vorlegen, die aufzeige, wo das Land in zehn Jahren stehen solle. Es klingt, als sei er mittendrin in der Entwicklung.
Wenn er außerdem sagt, ein potenzieller Kanzlerkandidat müsse »ökonomische Kompetenz, ökologische Glaubwürdigkeit, Technologieaffinität und eine gewisse Liberalität« verkörpern, kann er vor seinem inneren Auge eigentlich nur sich selbst im Spiegel sehen.
Der starke Staat war schon immer das Spielfeld der Union. Und Markus Söder ist einer der stärksten Stürmer auf dem Platz. Selbst wenn bei der kommenden Bundestagswahl nicht über das beste Corona-Krisenmanagement abgestimmt wird, ist Söders Kandidatenprofil für die Union verführerisch. Als bayerischer Ministerpräsident hat er ein Artenschutzprogramm XXL auf den Weg gebracht und gleichzeitig die Werte der AfD halbiert. Söder kann Grüne umarmen und Rechte abwehren. Etwas, das Friedrich Merz nur behauptet, Armin Laschet bislang nicht bewiesen hat und Norbert Röttgen gar nicht erst versucht. Söder hat in den letzten zwei Jahren einen radikalen Imagewandel durchlaufen – vom Asyl-Hardliner zum Mann, der Bienen rettet. Warum sollte diese Umarmungsstrategie nicht auch im Bund funktionieren?
In seiner Heimat erkennt jeder Spaziergänger den Ministerpräsidenten. Manche nicken ihm nur anerkennend zu, eine ältere Dame mit Kopftuch sagt: »Danke, dass Sie Politik machen.« Eine Frau mit Lockenmähne will aufgeregt wissen, ob der Ministerpräsident ihre CD mit selbstverfasster Klaviermusik zum Entspannen erhalten habe, was Söder nach kurzem Zögern bejaht, um treuherzig zurückzufragen: »Haben Sie mein Dankesschreiben denn noch nicht bekommen?« Ein Jogger ruft unvermittelt: »Sie sind unser Kanzler!« Söders Pressesprecherin scherzt: »Das haben wir nicht arrangiert.«
Anderes schon. Markus Söder auf Algenmähschiffroboter Molly. Markus Söder mit Riesenhammer vor Seenlandschaft. Markus Söder umringt von Kindern beim Durchschneiden eines weiß-blauen Bandes mit Papierschiffen dran. Markus Söder vor rotem Buzzer mit grünen Baggern im Hintergrund. Markus Söder am Strand mit hochgekrempelter Hose in weiß-blauem Liegestuhl beim Wasserballwerfen. Markus Söder mit Spaten vor Uferbepflanzung, Erde in die Luft werfend. Markus Söder auf einer Insel im See, Schilf pflanzend. Markus Söder mit Surfbrett unterm Arm, Frisur und Jackett vom Wind zerzaust. Markus Söder in Anglerhose, braun gebrannt im Bug eines Ruderbootes, visionär in die Ferne blickend. Markus Söder bei der Eröffnung einer Umweltstation, einen Kuscheleisbären streichelnd. Markus Söder in weiß-blauem Tretboot, Wasser in Richtung Kamera des Fotografen schnipsend.
Man kann das alles lustig, plump, anbiedernd finden. Es ist aber vor allem sehr solides politisches Handwerk, das diese Bilder demonstrieren. Sie zeigen einen Minister, der Netzwerke spinnt, dem Bürger vor Ort das Leben verschönert, einen Minister, der dorthin geht, wo es stinkt, und der Dinge anpackt, die der SPD-Bürgermeister vor Ort jahrelang brachliegen ließ. Außerdem zeigen sie einen Mann, dem Ökologie schon wichtig war, bevor sie hip wurde. Jeder neue Bauabschnitt wird gefeiert, immer ist Söder zugegen – auch als er längst nicht mehr »Lebensminister« ist, weil ihn das Leben in der Zwischenzeit ins Amt des Ministerpräsidenten gespült hat.
Die zwei wichtigsten Utensilien für seinen Aufstieg als Politiker hat Söder auch am Wöhrder See stets dabei: einen Geldbeutel und eine Kamera. Unvergessen ist auch der Film auf Facebook, der ihn 2016 beim Durchschwimmen der Norikus-Bucht zeigt. Sein Ganzkörperbadeanzug macht als »Söder-Burkini« Schlagzeilen bis in die die Hauptstadtpresse.
Der Wöhrder See ist nicht nur Söders Experimentierfeld, sein politisches Vermächtnis und seine Bühne. Er ist auch sein Rückzugsort. »Im Büro bekommt man den Kopf oft nicht frei«, sagt Söder. Er muss sich bewegen zum Nachdenken. 2012, als Horst Seehofer ihm auf einer Weihnachtsfeier vor Journalisten öffentlich »Schmutzeleien« unterstellt und ihn als »vom Ehrgeiz zerfressen« charakterisiert hatte, fand Markus Söder am Ufer einen Moment der Ruhe. Er habe damals, erzählt er, ernsthaft darüber nachgedacht, zurückzutreten. »Genau hier« sei er entlang gegangen, als sein Handy klingelte und Oscar Schneider in der Leitung war, ein ehemaliger CSU-Bauminister und eine unangefochtene Parteiautorität. »Herr Söder, in solchen Situationen gibt es nur eine Möglichkeit«, sagte Schneider, »Haltung zeigen, Anstand wahren, Pflicht erfüllen.« Daran habe er, Söder, sich gehalten. Noch so eine Heldengeschichte vom Wöhrder See.
Der Spaziergang endet an einer Statue aus Bronze. Sie stammt noch aus der prähistorischen Söder-Ära, war jahrelang von Ufergestrüpp bedeckt, bis sie bei den Strandausbauarbeiten zufällig wiederentdeckt wurde. »Sehr archaisch und ein bisschen zu groß«, findet Söder die Figur. Sie zeigt einen Mann, der auf einem Surfbrett kniend Diskus zu werfen scheint. Markus Söder unterwegs in Richtung Kanzleramt? Er bleibt eisern: »Mein Platz ist in Bayern.«
Früher, im vergangenen Jahrhundert, waren Inszenierungen vor Seekulisse ein Erfolgsrezept für Männer mit höchsten politischen Ambitionen. Konrad Adenauer und Helmut Kohl haben es beide genutzt. Sie ließen sich im Urlaub mit der Familie fotografieren, der eine am Comer See, der andere am Wolfgangsee, sie präsentierten sich als verantwortungsvolle Väter und bodenständige Landsleute.
Den Mann aus der Provinz muss Söder nicht simulieren. Vor drei Jahren, als Berlin von Nürnberg noch sehr weit entfernt schien, sagte Söder auf einer Tretbootfahrt: »Das Schönste an Berlin ist die Rückfahrt nach Nürnberg.« Es wirkte echt.