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Wenn der Vorhang fällt
ОглавлениеDas Filmtheater Sendlinger Tor ist Münchens ältestes Kino. Der Vorführraum sieht aus wie ein Opernsaal. Er ist wie gemacht für den Meister der Inszenierungen – Markus Söder. Rote Vorhänge, Plüschsessel, vor der Leinwand drei Stühle, ein Tischchen, darauf drei Gläser, eins gefüllt mit Cola light. »Stadtgespräch« heißt das Veranstaltungsformat, mit dem der CSU-Parteivorsitzende Anfang des Jahres 2020 im Kommunalwahlkampf quer durch den Freistaat tourt.
Die ersten Corona-Infektionen gibt es da schon. In der Zentrale des bayerischen Autozulieferers Webasto hat eine chinesische Mitarbeiterin bei einer Fortbildung mehrere deutsche Kollegen mit Covid-19 angesteckt. Markus Söder hat kurz nach Bekanntwerden der ersten Infektionen einen Krisenstab im Gesundheitsministerium eingerichtet. Noch scheint die Lage unter Kontrolle.
Zur Begrüßung scherzt Söder: »Die Bundeskanzlerin hat gesagt: nicht Hände schütteln!« CSU-Generalsekretär Markus Blume, der Moderator des Abends, zwinkert: »Und dann hören wir auf die Kanzlerin?« Söder: »Nicht immer. Aber in dem Fall schon.« Es ist der letzte Tag, an dem man ihn ausgelassen erlebt, geradezu aufgekratzt wirkt er.
Eigentlich ist er für die männliche Nebenrolle vorgesehen, schließlich geht es darum, Kristina Frank glänzen zu lassen. Sie ist die Kandidatin seiner Partei für das höchste Amt im Münchner Rathaus. Söder aber lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich.
Kinosäle sind Orte mit einer besonderen Aura. Menschen verlieren ihr Herz dort, tauschen erste Küsse oder eine Zwei minus in Englisch gegen freien Eintritt zu einem Science-Fiction-Film. Seine Mutter, erzählt Söder den Münchnern auf den Klappsesseln vor ihm, hätte den Sohn gerne für Bücher begeistert. Er aber sei fasziniert gewesen vom Kino, wollte 1978 unbedingt Star Wars sehen, überredete die Mutter zum Deal mit der guten Note im kritischen Schulfach.
Die Idee, Politik ins Kino zu verlagern, kam dem Star Wars-Fan erstmals im Landtagwahlkampf 2018. »Söder privat« nannte sich das Veranstaltungsformat damals. Der Grund war offensichtlich. Markus Söder wirkte nach dem jahrelangen Kampf mit Horst Seehofer um den Stuhl in der Staatskanzlei wie ein kalter Machtstratege, in dessen Brust statt eines pochenden Herzens ein Maschinenraum rattert. »Söder privat« sollte sein Image korrigieren, ihn nahbarer wirken lassen oder – um im Blockbustermodus zu bleiben – von der dunklen Seite der Macht auf die helle holen.
Zwei Jahre später hat Söder die Geschichten aus seinem Leben, mit denen das gelingen soll, perfektioniert. Die Pointen sitzen nicht nur bombensicher, sondern auch laserschwertgenau. Söders Eintritt als 16-Jähriger in die Junge Union 1983 zum Beispiel klingt im Münchner Filmtheater so: »Sankt Leonhard, meine Heimat, ist der roteste Stadtteil von ganz Nürnberg. Hier regierte die SPD, ich aber wollte zur CSU. Am Tag als ich zum ersten Mal an einer Ortsvereinssitzung teilnahm, wurde über Kindergartengebühren debattiert. Vorne in der Wirtschaft standen Spielautomaten, im Hinterzimmer fand die Versammlung statt. Ich habe wenig gesehen, alles war voller Zigarrenrauch. Der Jüngste im Raum, neben mir, war der Referent. Der war über siebzig. Nach zehn Minuten war in Sachen Kindergartengebühren zwar keine Lösung in Sicht, aber alle waren sich einig: Der Gaddafi ist schuld. Mir wurde in dem Moment klar: Entweder ich gehe da nie wieder hin. Oder ich übernehme die Partei.« Großes Gelächter im Raum. Söder schließt: »So ist es ja auch gekommen.«
Von großer staatsmännischer Reife für einen damals 16-Jährigen ist Söders Begründung, warum er in die CSU eingetreten ist: »Mich haben zwei Dinge stark beschäftigt: Wer in Nürnberg aufwächst, hat den Nationalsozialismus vor Augen. Hier stand das Reichsparteitagsgelände. Ich habe nie verstanden, warum das Dritte Reich möglich war. Warum gab es keinen Widerstand? Kein Stoppschild? Wie konnte ein Land in einen Zustand tiefster Barbarei verfallen, obwohl es vorher zu höchster wissenschaftlicher Leistung fähig war? Und das zweite war die Mauer, die DDR war ja nicht weit weg von Nürnberg. Wieso können da Leute rein, aber nicht wieder raus, habe ich mich gefragt? Wieso sagen die jungen Leute bei mir in der Schule, Sozialismus stehe für Freiheit? Wenn das so wäre, warum muss man die eigenen Bürger dann einsperren?«
Heiter klingt dann wieder die Geschichte von Markus Söders Berufung als Generalsekretär der CSU: »In der Woche nach der Landtagswahl 2003, die Edmund Stoiber mit absoluter Mehrheit gewonnen hatte, formte dieser seine neue Mannschaft. Mir wurden gute Chancen auf den Posten des Generalsekretärs eingeräumt, schließlich war ich ein frecher Anführer der Jungen Union. Aber es passierte: nichts. Man wusste, am Dienstag wollte Stoiber seinen neuen Generalsekretär vorstellen. Am Montagfrüh rief Erwin Huber mich an und sagte: ›Du wirst es.‹ Am Montagvormittag aber: nichts. Am Montagnachmittag: nichts. Am späten Nachmittag: immer noch nichts! Um 22 Uhr dann endlich: Anruf aus der Staatskanzlei, ich solle mich bereithalten, der Ministerpräsident wolle mit mir sprechen.«
Söder macht eine Pause. »In so einer Situation steht man starr da, die Augen aufs Telefon gerichtet. Man verbietet der Frau, Gespräche am anderen Apparat zu führen. Kurz vor Mitternacht ist endlich Stoiber am Apparat. Er erzählt in epischer Länge, dass er gerade zwei Stunden mit Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac telefoniert habe, wiederholt alle Details des Gesprächs, bedankt sich für meine Aufmerksamkeit, wünscht eine gute Nacht und legt auf. Ich habe mich gefühlt wie eine Comicfigur, der dickste Fragezeichen um den Kopf kreisen. Ich stand noch eine halbe Stunde vor dem Telefon, hatte schon Spinnweben und Staub auf meinem Jackett. Dann rief Stoiber noch mal an: ›Ach, Markus, ich wollte noch sagen: Selbstverständlich wirst du Generalsekretär.‹«
Was das alles mit der Oberbürgermeisterwahl in München zu tun hat, bei der zum ersten Mal einer Frau Chancen auf den Einzug in die Chefetage des Rathauses nachgesagt werden, bleibt Söders Geheimnis. Anderes tritt umso offener zutage. Neben seinen Entertainerqualitäten und herausragender Pointensicherheit ist es vor allem Söders Rücksichtslosigkeit: Er hält sich offensichtlich und vielleicht sogar zu Recht für den klügsten und witzigsten Geist im Raum. Er redet mühelos fünfzehn Minuten am Stück. Auf die Idee, dass er dabei gerade der eigentlichen Hauptdarstellerin die Show stiehlt, kommt er nicht. Schließlich liefert er die bessere.
Dem amtierenden CSU-Generalsekretär Markus Blume gibt Söder ständig Hinweise, was er als Nächstes fragen soll. Die Rolle des Kommandogebers kann Söder auch denn nicht ablegen, wenn er nur Gast auf der Bühne ist. Während Kristina Frank spricht, formt Söder ein Wort in Blumes Richtung, das lautmalerisch wie »Hoheit« aussieht. Kurz darauf lenkt Blume das Gespräch auf Flugtaxis, und Söder beginnt mit einem erneuten minutenlangen Monolog über seine geplante »Hightech Agenda«. Das war offenbar das Stichwort, auf das er gewartet hatte.
»Wenn ich eine Idee habe, sind erst mal alle dagegen«, klagt er. »Am nächsten Tag aber fragen sich alle, warum wir das nicht schon vorgestern eingeführt haben.« Söders Vision ist, im »Sonnenland Bayern« ein zweites Silicon Valley aufzubauen. Den Freistaat vergleicht er mit Kalifornien, des »schönen Wetters und der schönen Leute« wegen, er spricht von künstlicher Intelligenz, Quantencomputern, der Konkurrenz aus Fernost: »In China bauen sie in fünf Wochen ein Krankenhaus und einen Flughafen, und wir brauchen für die Genehmigung eines Funkmasts zwei Jahre.« Dann ist er plötzlich beim Klimaschutz, man dürfe weder Fahrräder von der Straße drängen noch das Auto verteufeln. »Es ist kein Staatsverbrechen, wenn eine junge Mutter nach der Arbeit die Kinder abholt und zum Fußball fährt und dafür ein Auto benutzt.« Innovative Motoren und mehr Radverkehr: »Ich will beides«, jubelt Söder.
Die Besucher hängen an seinen Lippen, spenden Szenenapplaus, klopfen sich auf die Schenkel. Am Ende spannt er einen Bogen von Rosamunde Pilcher zu außerirdischem Leben auf den Monden des Jupiter. Und Kristina Frank? Wird wenig später krachend gegen den Amtsinhaber der SPD verlieren. Aber Söder hat Sympathien gewonnen.
Obwohl der Abend noch eine weitere seiner Charakterschwächen offenlegt: Er lacht am liebsten über andere. Das geht los mit dem Seitenhieb in Richtung des nicht anwesenden Karl-Theodor zu Guttenberg. Er, Söder, habe auch einen Doktortitel in Jura erworben. »Und ihn sogar behalten.« Und über Markus Blume fällt ihm plötzlich ein: »Wir tauschen uns häufig über unseren Comicgeschmack aus.« In Richtung Publikum verrät er: »Glauben Sie mir, Sie würden viel von Ihrem Respekt für Markus Blume verlieren, würde ich Ihnen jetzt verraten, was er in seiner Jugend gut fand.« Um danach so pflichtschuldig wie herablassend zu ergänzen: »Dabei ist er ein Guter, der Markus Blume.«
Als Blume sich etwas später revanchiert und Söder nach dem Poster von Franz Josef Strauß in seinem Jugendzimmer fragt und vor allem danach, wie sich die Wahl dieses Motivs auf Besucherinnen des anderen Geschlechts ausgewirkt habe, dreht Söder den Spieß einfach wieder um. Er fragt Blume und Kristina Frank, was sie denn für Poster im Kinderzimmer hängen hatten.
Kristina Frank antwortet: »Knight Rider.« Gerade als sie die Überleitung vom sprechenden Auto zur Mobilität der Zukunft schaffen will, die mit ihr als Stadtoberhaupt in München anbrechen würde, unterbricht sie Söder. Er will jetzt noch vom im Publikum anwesenden Justizminister und Münchner Georg Eisenreich wissen, was der im Zimmer hängen hatte. Er lässt nicht locker, als dieser ratlos mit den Schultern zuckt. »Sag, Georg! Hast du überhaupt ein Zimmer gehabt?« Söder stichelt weiter: »Hast du etwa die Wände vollgekritzelt?« Schließlich wählt der Justizminister die Selbstironie als Schutzschild und meint sich an eine durchaus dekorative Raufasertapete im Kinderzimmer erinnern zu können. Söder lacht sich schlapp. »Was für eine traurige Kindheit! Das erklärt natürlich manches, Georg.« Schallendes Gelächter. Als Blume schon überzuleiten versucht, unterbricht Söder noch mal, die Hand theatralisch am Kopf: »Eine Tapete hat er gehabt!«