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Nur selten kam es vor, dass meine Schüler mich nicht an den Zug begleiteten. In einzelnen Städtchen, in Brugg zum Beispiel, war es recht weit vom neuen Schulgebäude zum Bahnhof: Meine Kinder mussten den Weg nach Hause noch einmal, vielleicht im Dunkeln zurücklegen, denn die Italienerfamilien wohnten fast alle jenseits der Schule in den neuen Blöcken, voll wie Ameisenhaufen auf freiem Feld, oder in den Holzbaracken in den Außenquartieren.

Das war zur Gewohnheit geworden, dieser Abendspaziergang, und ich wusste, dass ich meine Ver­eh­rer enttäuschte, wenn ich ihnen sagte, sie sollten nicht mit­kommen, es sei kalt, ich müsse noch etwas einkaufen, oder es warte jemand auf mich: Sie zogen den Revolver hervor und machten peng peng.

Als ich in Italien unterrichtete, war es anders: Dort gab es, in der Stadt, das Ritual der Mütter und der Dienstmädchen: alle hinter dem Gitter, wartend und schwatzend, mit einem Brötchen in der Hand, dem Mantel, der schriftlichen Entschuldigung, manch­mal stand auch der Chauffeur dabei. Aber dann stieg ich in die Straßenbahn, oder Fabio war da, der auf mich wartete, und ich setzte ein anderes Gesicht auf. Fabio hatte nie unterrichtet, er wusste nicht, was es heißt, den ganzen Tag mit vierzig Kindern verbringen: Er hätte nichts begriffen, wenn ich ihm erzählt hätte, dass ich manchmal ungern das Klassenzimmer betrat, missmutig schon am frühen Morgen, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen, und dass ich dann nach wenigen Minuten merkte, dass ich beim Unterrichten so frisch und klar redete, wie ich nur konnte, weil sie mich alle mit vor Aufmerksamkeit glänzenden Augen anstarrten und mit zusammenge­kniffenen Lippen; er hätte gedacht, ich spräche eine andere Sprache, hätte ich ihm gestanden, dass es meine Kinder waren, die mich Tag für Tag in den Bann ihres Zaubers zogen: dass ich dann schön wurde für sie und redete, in Zorn geriet, in die Falle ging, die ihre Fragen, ihre aufgestreckten Hände stellten. Fabio musste wohl den Eindruck haben, ich unterrichte nur so zum Zeitvertreib, ohne mir dabei den Kopf und die Fingernägel zu zerbrechen. Ihm von den Aufgaben, von irgendwelchen Spielen unter Schülern er­zählen, musste für ihn so sein, als lese man ihm aufs Gera­tewohl die Nachrichten aus dem «Corriere» vor: Er wen­­­­det das Fleisch im Mehl (denn er briet es immer selbst, mit den raffiniertesten Saucen), und ich blättere mit lauter Stimme in dem, was ich gerade auf dem Tisch finde. Für ihn war ich immer die Gleiche, mit diesem andern Gesicht: Wenn er mich von der Schule abholte, stellte er keine Fragen, er war nicht gespannt, was wir uns hätten sagen können; manchmal begleitete er mich morgens im Auto wieder zur Schule.

Ich erinnere mich gut an den Nebel, so in der Früh, der uns wie der Schlaf noch umhüllte, und an die gelben triefenden Augen der Autos; es war nicht weit bis zur Schule, aber zu dieser Zeit fuhr man wegen des Verkehrs und des Nebels fast stehend sehr lang in der Kolonne. Reden war dann nicht nötig: Ich brauchte nur sein Gesicht zu beobachten, wie es sich zu einem Knoten verschloss um die Lippen, die sich vorschoben, schwer, ein reglos starres Wort zu fassen; ich brauchte nur seine am Steuerrad ruhenden, eine Gebärde, einen Gedanken nachzeichnenden Hän­de wiederzuerkennen, die dann aufzuckten mit flinken Griffen bei den Verkehrszeichen; bevor wir uns trennten, grüßten wir uns kaum mit den Blicken, beide darauf bedacht, das Schweigen nicht zu brechen.

Auch ich hatte ein Zimmer mit Küche in der Stadt, alles viel kleiner als bei Fabio. Ich arbeitete gern auf meinem Zimmer, weil ein riesiger Tisch darin stand, ein Zeichentisch vor dem Fenster: Es war das großzügigste Möbelstück in dem Kämmerchen, und ich saß daran und korrigierte und bereitete meine Stunden vor. Seit damals, glaube ich, seit jener ersten Zeit, als ich nicht mehr bei meiner Mutter wohnte, hatte ich gemerkt, dass ich an zu Hause dachte, ich sah es eigentlich zum ersten Mal so von außen, das Haus mit den Zimmern, in denen es we­gen der Bäume im Garten immer ein wenig dunkelte; und ich sah den Garten, kannte ihn auswendig, die entlegensten Dinge kamen mir in den Sinn, jene Haufen von dürrem Laub, die meine Mutter auf dem hinteren Beet schichtete, bevor man davon den letzten Streifen abschnitt, um die Straße zu verbreitern: Als Kind warf ich mich rücklings aufs Laub, im Mantel und in allem, weil es schon bald Winter wurde, und durch das wilde Geknister der toten Blätter spürte ich, wie die Feuchtigkeit des Bodens unter die Haut drang.

Meine Mutter rief oft an, und ich richtete es so ein, dass sie mich zu Hause fand, dass sie sich keine Sorgen machte. Von Fabio wusste sie nichts. Ich be­suchte sie übers Wochenende: Sie hielt die Gläser mit meiner Lieblingskonfitüre bereit, zuckersüße Feigen, stellte mir von den kleinen Röschen aus dem Garten ins Zimmer, die den ganzen Winter blühten; sie kochte mir Kalbshaxen und Leberschnitten mit Marsala; sie ließ mich das Haus und den Garten so unversehrt wiederfinden wie damals, als mein Bruder Gianni und ich noch Kinder waren. Aber sie redete jetzt mit mir wie mit einer Erwachsenen, einem Mädchen, das sich sein Leben selber verdient: Sie war tapfer, war ein wenig stolz, dass sie uns hatte fortziehen lassen, unsere eigenen Wege, ohne uns ihre Einsamkeit zu spüren zu geben. Und jetzt, an den beiden Ta­gen, die wir zusammen verbrachten, lasen wir wieder Giannis Briefe aus der Schweiz: Meine Mutter war in großer Angst, Gianni könnte, launisch, wie er war, Dummheiten anstellen, sich in ein Schweizer Mädchen verlieben: «Wenn er mir nur nicht so eine verrückte Bohnenstange ins Haus bringt»; denn die Schweizerinnen waren für sie hochaufgeschossene, hagere Mädchen in Hosen, gar nichts Rechtes.

In seinen Briefen berichtete Gianni nicht von den Mädchen: Aber er schrieb mitunter irgendein deutsches Wort zum Spaß, «pfui pfui» zum Beispiel, als er zu seinem Entsetzen Grießbrei mit Johannisbeeren hatte essen müssen; oder er erzählte von seinem Chef, der jeden Tag einen kleinen Imbiss mit ins Büro brachte, zwei oder drei halb reife Äpfel, die er aufs Pult neben das weiße Telefon legte; gegen vier verdrückte er einen nach dem andern wie ein hungriges Kind, mitsamt der Schale und allem, ohne auch nur ein einziges Vitamin unter den Tisch fallen zu lassen.

Aber ich wusste genau, dass Gianni, liederlich wie er schien und ein seltsamer Kauz, uns gern ganz andere Briefe geschickt hätte, randvoll mit Dingen von zu Hause: Wenn er es nicht tat, dachte ich mir, dann nur aus dem Grund, weil er nicht mit uns so losheulen wollte wie damals, als wir ihn bis Chiasso begleitet hatten und er die netten lieben Worte, die er uns sagen konnte, bevor wir Abschied nahmen, zurückstieß und hinter der Aufregung um die Reise und das Gepäck versteckte: Der Zug bewegte sich schon, und er fragte die Mutter immer noch nach irgendwelchen blauen Badehosen: Als wäre er da in die Schweiz gefahren, um schwimmen zu gehen.

Ich reiste jeweils am Montag sehr früh wieder weg, mit dem Koffer voll von schönen, gestärkten Sa­chen: Und ich weiß noch, wie während der halben Stunde, die ich im Zug stehen musste, ich mir jedes Mal ausmalte, ich käme nun in eine neue Stadt, wo ich wieder von vorne anfinge, wo Fabio für mich auch dasselbe wäre wie mit meiner Mutter reden und meinem Bruder.

Quasi Heimweh

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