Читать книгу Sieben Farben - Anna J. Heeb - Страница 3

In der Ausstellung

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„Also, los geht es. Wir nehmen als erstes den mittleren Gang.“ Herr Krenzler winkte etwas ungelenk mit seinen dünnen Armen, um seine zehn Schützlinge zum Aufbruch zu motivieren. Beinahe hätte er sich dabei mit der einen Hand, die beim mit-den-Armen-Wedeln etwas zu nah am Kopf vorbeistreifte, die Brille von der Nase gestoßen. Im letzten Moment fing er sie aber mit der anderen Hand noch auf und rückte sie hektisch wieder zurecht. Dabei wippte er wie eine Gummipuppe hin und her. Dann schaute er die Kinder etwas verlegen an. Er drehte sich um, stolperte dabei fast über seinen linken Fuß und setzte sich schließlich in Richtung des ersten Ausstellungsraums in Bewegung.

Die Kinder folgten ihm kichernd die Treppe hinauf. Peter schnaufte leise. Er litt unter Asthma und bekam deshalb oft schlecht Luft. Endlich waren sie oben. Ein weiter Gang öffnete sich vor ihnen. Rechts und links gingen mehrere Türen ab, die jeweils in einen Ausstellungssaal führten. Manche Räume hatten hinten Durchgänge zu zusätzlichen Räume. Es war gar nicht so leicht, sich hier nicht zu verlaufen.

Herr Krenzler führte die Gruppe in den ersten rechten Ausstellungssaal. Direkt neben dem Durchgang stand eine Wachsfigur, ein zauseliger Typ mit wuscheligem, verfilztem, dunklem Haar, breiten Augenbrauen, einer dicken Nase, einem unrasierten Kinn und einem dicken Fellumhang. Lara blieb am Eingang des Saales stehen und musste lachen. „Der sieht ja wie mein Onkel Gustav aus“, flüsterte sie Peter zu. Der grinste zurück. Ja, die Ähnlichkeit zu ihrem Onkel war unverkennbar. Wenngleich er diesen noch nie mit einem Fellumhang bekleidet gesehen hatte. Aber die Frisur und der missmutige Blick stimmten schon überein.

Plötzlich hörte Lara, wie jemand mit schweren, energischen Schritten hinter ihr den Gang entlang lief. Sie drehte sich um und sah zwei Museumsmitarbeiter, die mit besorgtem Gesichtsausdruck vorbeieilten. Der ältere von beiden – es war der kleine, untersetzte Mann, der an ihr draußen vorbeigegangen war – murmelte in Richtung des zweiten, jüngeren Mannes: „So etwas habe ich in den 35 Jahren meiner Tätigkeit noch nie gesehen. Und glaub mir, ich hab schon viel gesehen. Wenn das so weiter geht, haben wir wirklich ein Problem.“

Der andere Mann nickte vielsagend. Hinter den beiden kam plötzlich noch ein weiterer Museumsmitarbeiter schnaufend herbeigelaufen. „Warten Sie bitte, meine Herrn!“ rief er sehr aufgeregt. Seine Wangen leuchteten von der ungewohnten Anstrengung ganz rot. Man sah, dass er nur sehr selten lief. Er schwitzte. „In Raum 2b haben wir noch ein befallenes Bild!“ Während er das sagte, wedelte er wild mit den Händen. Die beiden anderen Männer drehten sich energisch um, sahen den dritten Mann entgeistert an und machten sich im Laufschritt auf den Weg. Der dritte Mann tupfte sich derweil mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und hatte nun Mühe, den beiden anderen zu folgen. Schnaubend wankte er ihnen hinterher.

Lara schaute den dreien nachdenklich nach und runzelte die Stirn. Nach einem kurzen Moment zuckte sie dann aber mit den Schultern und wandte sich wieder dem Ausstellungsraum zu. Sie ging weiter hinein.

Der Raum enthielt Nachbildungen vorgeschichtlicher Bilder von Wildtieren. Einige Abbildungen sahen eher aus wie dahin gekrakelte Strichmännchen, andere waren sehr schön ausmodelliert. Sie strahlten in erdigen Tönen. Die Tiere schienen förmlich aus ihrer urzeitlichen Umgebung in die heutige Zeit hinüber zu springen. Lara legte den Kopf in den Nacken. Da entdeckte sie, dass auch die ganze Decke mit urzeitlichen Bildern verziert war. Eine ganze Herde schien da über ihren Kopf hinweg zu traben. Desto länger sie nach oben sah, desto lebendiger wurden die Tiere. Sie konnte förmlich hören, wie sie mit ihren Hufen scharten, sich langsam in Bewegung setzten und mit jedem Schritt leise klapperten.

Peter schaute sich derweil die Strichmännchen an der linken Seitenwand an. Ja, das konnte er auch. „Schon komisch, wenn ich so etwas male, interessiert es niemanden, und wenn das jemand anderes vor tausenden von Jahren an eine Felsenwand gekrakelt hat, dann wird es hier ausgestellt“, murmelte er etwas verärgert.

Leises Kichern durchzog die Kindergruppe. Offensichtlich hatte der urzeitliche Wachsmensch mit noch mehr Verwandten eine gewisse Ähnlichkeit, was nachhaltig für Heiterkeit sorgte.

Herr Krenzler schaute etwas unsicher. Dann begann er doch zu reden. „So, jetzt stellt Euch mal hierhin… Äh… Also, was Ihr hier seht, sind die Anfänge der Kunst. Diese Zeichnungen hier“, er deutete auf mehrere Nachbildungen, die an der Längswand hingen, „also diese Zeichnungen… oder auch Bilder, stammen aus europäischen Höhlen.“

Tobias hob die Hand. „Ja, bitte, Tobias, Du hast eine Frage.“

„Warum haben die denn damals auf Höhlenwände gemalt?“

„Das ist eine sehr gute Frage“, entgegnete Herr Krenzler. „Also, zum einen haben sie ja in Höhlen gewohnt…“ Lara verdrehte die Augen und schüttelte sich. Das musste im Winter ja richtig kalt gewesen sein. „… und zum anderen waren das kultische, magische Orte für sie.“

„Was ist das?“ fragte Sybille, ein Mädchen mit roten Haaren, einer roten Brille und einem roten Wollpulli. Genau genommen war alles an ihr irgendwie rot.

„Also, äh, das waren Orte, die sehr wichtig für sie waren. Dorthin haben sie sich zurückgezogen, wenn sie sich zum Beispiel für die Jagd vorbereitet haben. Das war damals ja eine große Sache… äh… und nicht gerade ungefährlich. Und da haben sie sich eben von ihren Göttern oder Ahnen… so genau weiß man das nicht, war ja keiner dabei… äh… die Kraft erbeten, um ihre Jagd erfolgreich durchführen zu können. Man vermutet, dass sie… äh… hauptsächlich ihre Beutetiere an die Wände gemalt haben, um sie irgendwie zu bannen. Auf alle Fälle hing diese Malerei wohl mit… ähm, äh… kultischen Handlungen zusammen. Ganz sicher ist man sich da aber auch nicht. Gut möglich, dass der ein oder andere auch einfach aus Freude an der Malerei gemalt hat.“ Herr Krenzler gönnte sich ein vorsichtiges Grinsen.

‚Was der wohl gedacht hat’, fragte sich Lara, ‚als er das erste Bild gemalt hat. Der Urmensch. Ob er so bei sich dachte, Mensch, heute ist mir langweilig, heute mal ich einfach mal ein kultisches Bild? Schon komisch. Erst haben die Menschen einfach so vor sich hingelebt, und plötzlich, Knall auf Fall fingen sie an, Farbe auf Wände zu verteilen. Das muss doch aufregend gewesen sein, als dieser Urmensch erkannte, dass er etwas real Existierendes auf die Wand gebannt hatte…’

Die Gruppe ging weiter. Im nächsten Raum hingen Nachbildungen von Wandmalereien aus unterschiedlichen frühen Hochkulturen. Insbesondere die ägyptische Kunst war hier vertreten. Diesmal musste Peter kichern. „Die sehen ja alle wie Freaks aus“, raunte er Lara zu. Sie nickte grinsend. Die Ägypter hatten wirklich einen sehr eigenwilligen Malstil. Die Körper waren in sich verdreht. Das Gesicht wurde im Profil gezeigt, der Körper dagegen war frontal abgebildet, und die Beine und Füße waren dann wieder von der Seite zu sehen. Die Augen waren schwarz umrandet. Neben Menschen zeigten diese Bilder auch seltsame Mischwesen mit Krokodils- oder Vogelköpfen. Manche Nachbildungen waren in wunderbaren Farben ge-staltet.

Als Lara sich gerade eine der Abbildungen genauer ansehen wollte, bemerkte sie, wie mehrere Personen an dem Durchgang zu dem Ausstellungsraum hörbar aufgeregt vorbeiliefen. Einer der Männer sagte mit gepresster, abgehakter Stimme:

„Wenn das so weitergeht, können wir den Laden dichtmachen!

Was haben denn Ihre Analysen ergeben?

Wofür bezahle ich Sie überhaupt?!“

Als Lara um die Ecke auf den Flur hinter dem Durchgang schaute, waren die Männer schon weitergegangen. Sie schüttelte den Kopf und ging zurück in den Ausstellungssaal.

Herr Krenzler bat die Gruppe, in der Mitte des Raumes halt zu machen. „Also, das ist die Kunst aus einigen so genannten frühen Hochkulturen. Äh… Wie Ihr seht, hat sich der Malstil stark verändert…“ Peter gähnte. Er musste wieder einmal Medikamente gegen sein Asthma nehmen und war deshalb schon müde. Lara versuchte ihn mit ein paar Faxen aufzuheitern. Herr Krenzler bemühte sich derweil redlich, den Kindern die Schönheit der Ausstellungsstücke zu verdeutlichen. Die meisten konnten ihnen aber nichts Interessantes abgewinnen.

Der Referendar spürte die Langeweile seiner Schützlinge und kürzte seine Ausführungen ab. Nach kurzer Zeit führte er die Gruppe in den nächsten Raum. Sie passierte dabei einen breiten Flur. An den Wänden hingen Nachbildungen, die Menschen dabei zeigten, wie sie über Stiere sprangen. Der anschließende Raum war voll gestopft mit allerlei Vasen. Sie waren mit roter oder schwarzer Farbe verziert. „Das sind griechische Vasen aus unterschiedlichen Epochen“, setzte Herr Krenzler an und langweilte die Kinder diesmal mit Ausführungen über Ursprung und Entwicklung der verschiedenen Stilrichtungen. Als er endlich fertig war, war Peter bei weitem nicht mehr der einzige, der gähnte. Lara schaute sich einige Exemplare genauer an. Seltsame Muster zeigten sie. Wäre nicht auf den kleinen Plexiglasschildchen, die neben den Ausstellungsstücken standen, der Zeitpunkt ihrer Entstehung vermerkt gewesen, man hätte fast meinen können, einige wären gerade erst jetzt fertig geworden…

Aber was war das denn?

Lara drückte die Nase an die Vitrine.

Das war ja seltsam…

Sie wollte gerade Herr Krenzler auf ihre Entdeckung hinweisen, da schickte dieser die Gruppe schon in den nächsten Saal und bemerkte Laras Versuche, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, gar nicht. Sie ging noch mal zu den Vasen… und tatsächlich… das war ja komisch… Aber Herr Krenzler winkte sie mit einer hektischen Handbewegung herbei. Lara folgte unwillig.

„Herr Krenzler…“, hob sie an und zeigte zurück auf eine der Ausstellungsvitrinen. Der Referendar nickte ihr lächelnd zu und entgegnete: „Na, Lara, gefallen Dir die Vasen?“ Dann wandte er sich von ihr ab, um die anderen Schüler nicht aus den Augen zu verlieren. Lara verzog das Gesicht und schwieg. Etwas sehr Merkwürdiges ging hier vor sich.

Der nächste Raum zeigte römische Kunst. Man konnte hier Nachbildungen von Bildern aus Pompeji und allerlei Mosaike bestaunen. Die Kinder bewunderten die aus kleinen bunten Steinchen zusammengesetzten Kunstwerke.

‚Wie lange da wohl einer dran gesessen hat?’ dachte Peter. Lara stand derweil gedankenverloren neben ihm. Er bemerkte, dass sie etwas sehr beschäftigte. Doch ihm blieb keine Zeit nachzufragen, denn schon ging es in den nächsten Raum.

Dieser war sehr groß und dem Mittelalter gewidmet. Bilder mit christlichen Themen hingen hier. Durch ihren goldenen Hintergrund strahlten die Bilder in einem eigentümlichen Glanz. Sie wirkten feierlich, manchmal ein wenig traurig. Ihr Anblick ließ Peter schwer atmen. Weiter hinten gab es dann aber zum Glück Erfreulicheres. In einem breiten Zwischengang, der diesen und den nächsten Ausstellungssaal verband, hingen einige Winterlandschaften. ‚Das passt ja’, dachte Peter und schüttelte sich, weil er an die Kälte draußen denken musste. Lara schien weiterhin nicht ganz bei der Sache zu sein. Beinahe hätte sie ihn im Gehen umgestoßen, weil sie so in ihren Gedanken versunken war.

„Was ist denn los? Hat Dich die Kunst so tief beeindruckt?“ fragte er schließlich mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht.

Lara schüttelte den Kopf. „Nichts. Weiß auch nicht. Muss nachdenken…“

Peter schaute irritiert und dacht: ‚Hoffentlich heckt sie nicht schon wieder irgendwas aus…’

Nun kamen sie in einen weiteren sehr großen Ausstellungssaal. Hier hingen Bilder aus der Renaissance. Wunderschön waren sie. Peter atmete auf. Das gefiel ihm. Die Farben sprangen ihn förmlich an. Er spürte, wie er wieder besser Luft bekam. Auch das Gähnen der restlichen Kinderschar ließ merklich nach.

„So“, hob Herr Krenzler wieder an. „Hier haben wir ein Bild von Botticelli. Schaut mal, er hat den Frühling gemalt.“

„Was sind das denn für Frauen, die da so komisch im Kreis tanzen?“ fragte Christian mal wieder etwas vorlaut.

Herr Krenzler lächelte. „Das sind… äh… die Göttinnen der Schönheit und der Anmut… Und seht mal hier. Das ist ein Bild von Leonardo da Vinci. Die Madonna in der Felsengrotte. Schaut Euch mal an, wie meisterhaft… äh… der alte Leo mit den Farben umgehen konnte…“

Nach ein paar weiteren Ausführungen des Referendars zog die Gruppe weiter.

Im nächsten Raum hingen barocke Gemälde. Auf den Bildern waren auffällig viele wenig bekleidete, füllige Frauen zu sehen.

„Kinder, bleibt mal bitte hier… äh… an der Bank stehen. Genau… Sehr schön… Also, das hier sind Gemälde von Rubens. Äh… Wie Ihr seht, hatte er eine Vorliebe für…“

Lara stand ziemlich weit hinten. Wie immer. Sie war im Drängeln nicht gerade gut. Naja, egal. Sie schaute sich im Raum um und träumte vor sich hin. ‚Der hat ja ziemlich große Bilder gemalt, dieser Rubens’, dachte sie.

Der Referendar führte die Gruppe weiter in den nächsten Raum. Hier hingen ebenfalls Barockbilder, allerdings zeigten sie Gegenstände und Obst und so. „Na, weiß einer, wie man diese Art von Bildern nennt?“ Tobias meldete sich eifrig.

„Ja, bitte.“ Herr Krenzler schaute den Jungen an.

„Ich weiß es. Das sind Obststückchen.“

Die Gruppe lachte. Tobias schaute etwas betreten und grummelte in sich hinein: „Weiß gar nicht, was daran so lustig ist. Man nennt Bilder, auf denen das Meer zu sehen ist, ja auch Seestücke. Dann sollten Bilder, auf denen Obst ist, auch Obststücke heißen. Und wenn sie so klein sind, nennt man sie wohl eher Stückchen…“

Herr Krenzler lachte nicht, er schaute Tobias nur aufmunternd an und sagte. „Nicht ganz, es ist aber trotzdem gut, dass Du Dich getraut hast.“ Dann hob er wieder den Blick über die Gruppe und rief: „Noch jemand?“ Er blickte in zehn erwartungsfrohe Kindergesichter, die alle keine Lust hatten, sich zu melden…

„Na gut, also, das sind so genannte Stillleben.“

„Ihh!“ Marina zuckte zurück.

„Was ist denn passiert?“ fragte Herr Krenzler erschrocken.

„Da ist ein Käfer auf dem Bild!“ Marina konnte vor Ekel kaum an sich halten. Herr Krenzler ging auf das Bild zu und fing an zu lachen.

„Mensch, Marina, da bist Du aber auf das Bild richtig hereingefallen. Äh… Das ist doch kein echter Käfer. Der ist nur gemalt.“

Marina schaute ihn ungläubig an. Widerwillig näherte sie sich dem Bild und erkannte ihren Irrtum. Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Warum malen die denn so was auf ansonsten so schöne Bilder?“ fragte sie ungläubig.

„Insekten sind ein Zeichen von Vergänglichkeit“, entgegnete Herr Krenzler. „Die Bilder sollen den Menschen an die Vergänglichkeit allen Seins erinnern.“ Die Kinder schauten ihn irritiert an.

Herr Krenzler dirigierte seine Schützlinge in den nächsten Raum. Hier hingen sehr elegant aussehende Gemälde von Damen und Herren in pastellfarbenen Kleidern. Den Mädchen gefiel das gut. Die Jungen fanden es ziemlich öde. Lara stand mal wieder ganz hinten. Sie wurde fast an die Wand gedrückt. Tobias schaukelte vor ihr unruhig hin und her. Sie machte einen weiteren Schritt nach hinten und merkte, wie sie mit ihren Schultern die Wand berührte. Es knarrte leise. Da war gar keine Wand, sondern eine Tür, die sich unter ihrem Gewicht langsam öffnete. ‚Oh je’, dachte Lara. Aber da war die Tür schon auf. Sie konnte durch einen Spalt in den dahinter liegenden Raum schauen. Nun wurde ihre Neugier geweckt. Sie zwängte sich durch den entstandenen Spalt hindurch. Peter schaute ihr ängstlich hinterher. Er verdrehte die Augen. „Was stellt sie denn jetzt schon wieder an?“ flüsterte er mit besorgter Miene.

Lara stand in einem hellen Raum mit fliederfarbenen Wänden, an denen Werke aus allen Epochen hingen. Ein eigenartiger Glanz ging von manchen dieser Gemälde aus. Ihre Farben schienen förmlich aus ihnen herauszuspringen. Lara schaute sich um. Ihr Blick fiel auf ein kleinformatiges Bild. Es zeigte eine hügelige Landschaft, durch die sich ein Fluss schlängelte. Das Gemälde gefiel ihr sehr. Auf einem kleinen Zettel, der etwas lose am unteren Teil des Rahmens hing, stand ein Name: PHILIPP KONSTANTIN. „Philipp Konstantin“, flüsterte Lara. „So heißt ja mein Vater!“ rief sie etwas lauter aus. Das musste es sein! Sie hatte das Bild ihres Vaters gefunden. Wieso hing es denn hier?

Plötzlich hörte Lara aus der hinteren, ziemlich dunklen Ecke ein leises Flüstern, das immer lauter wurde. Lara blickte angestrengt in seine Richtung. Sie konnte aber niemanden erkennen.

„Hat die feine Dame mich immer noch nicht bemerkt, was?“

Lara schaute nach unten. Da stand ein kleines, ziemlich seltsames Männlein vor ihr. Es trug eine rote, samt schimmernde Mütze, einen grünen Umhang, unter dem ein gelbes Seidenhemd hervor schien. Seine Beine wurden von einer blauen Samthose mit orangefarbenen Knöpfen bekleidet. Darunter trug es schwarze Stiefel mit weißen Schnürsenkeln. Alles in allem war es eine sehr bunte Erscheinung. Zu allem Überfluss leuchteten seine Augen violett. Seine Wangen glühten vor Aufregung und unter seiner Mütze lugten braune Haare hervor. Es hatte seine kleinen Hände in die Seiten gestemmt, klopfte unruhig mit einem Fuß auf den Boden und schaute sehr vorwurfsvoll drein.

„Bist du ein Kobold?“ fragte Lara das Wesen erstaunt.

„Ein Kobold, ha, dass ich nicht lache! Wie kommt nur immer alle Welt darauf, dass ich ein Kobold sei? Häh??? Kobolde sind kleine, zu bunt gewandete, ziemlich seltsame Wesen. Ich bin doch kein Kobold, ich bin ein Knonk!“

Lara schaute verdutzt. „Ein Knonk?“ frage sie ungläubig.

„Ist Madame taub?“ entgegnete der Knonk unwirsch. Jetzt war er aber wirklich enttäuscht. Der Knonk stammte vom Stamme der Knonks. Dieses Volk hatte die Eigenart seinen Mitgliedern keine Namen zu geben. Und deshalb hießen sie alle Knonk. Für die Knonks war das kein Problem, da ihre Sprache es ihnen erlaubte, das Wort Knonk auf so viele Arten, wie es Mitglieder ihres Volkes gab, auszusprechen. Daher wusste immer jeder, wer gemeint war, wenn er eine entsprechende Aussprache hörte. Dummerweise funktionierte das aber in anderen Sprachen nicht. Und so hießen sie dann alle gleich, Knonk eben. Dies war wohl auch der Grund, warum der Knonk zeit seines Lebens das Gefühl hatte, nicht ernst genommen zu werden. Immer wieder musste er dagegen ankämpfen, übersehen zu werden. Er selbst wusste, dass er wichtig war. Das musste er ja sein, sonst hätte man ihn sicher nicht auf diese heikle Mission geschickt. Aber schon wieder traf er auf eine Kreatur, der das wohl nicht bewusst war. Ja, die gar nicht wusste, wer er denn überhaupt war. Das ärgerte ihn.

„Lara“, hörte man plötzlich Peter durch den Spalt flüstern, „Lara, komm da raus, es geht weiter!“

„Entschuldigen Sie, Herr Knonk, ich muss dann wohl weiter.“

„Also, das ist ja jetzt wirklich eine Unverschämtheit“, erregt sich der kleine Wicht. „Hier ist wirklich jeder bemüht, mich nicht zur Kenntnis zu nehmen…“

„Lara, komm!“ schalte es nochmals leise durch die Tür.

Da schlüpfte Lara zurück durch den Spalt. Kurz entschlossen folgte ihr der Knonk, leise vor sich hinschimpfend.

Die Gruppe war mittlerweile in den nächsten Raum weitergezogen. Hier hingen Bilder, die antike Gebäude, Römer oder irgendwelche anderen Personen zeigten. Napoleon war auch dabei. Die Bilder waren sehr fein ausgearbeitet. Peter fand sie sehr schön. Lara stand neben ihm und schien noch gedankenverlorener zu sein.

„Sag mal“, flüsterte sie, „hast Du schon mal einen Knonk gesehen?“

Peter schaute sie erstaunt mit großen Augen an. „Geht es Dir nicht gut?“ Was sollte das denn sein, ein Knonk? Peter fing an, sich Sorgen zu machen.

„Nein, ist alles in Ordnung.“ Lara verzog das Gesicht und schlurfte weiter. Komische Sachen passierten hier… wirklich komische Sachen…

Peter schaute ihr kurz nach und folgte ihr dann.

Im nächsten Raum waren einige Gemälde aus der Romantik ausgestellt. Ein Wanderer schwebte verloren über den Wolken. Er sah aus, als wäre er der einzige Mensch auf der ganzen Welt. Peter schauderte es. Er blickte zum nächsten Bild. Ein paar Leute saßen an irgendwelchen Felsen und blickten aufs Meer. Das gefiel ihm. Er ging weiter. Da lag ein Schiff ziemlich kaputt unter einem Haufen von Eisschollen. Das war sehr traurig.

‚Wer hängt sich denn so was ins Wohnzimmer?’ dachte er.

Lara schaute sich derweil das Gemälde von der Felsenküste genauer an. Moment… Das Bild schien von Nahem betrachtet richtig zu flirren. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Das Blau wurde immer milchiger und blasser und dann verschwand es plötzlich ganz. Nur ein ganz blasses Grau mit einem leichten Lilastich blieb erhalten. Die anderen Farben verblassten ebenfalls, eine nach der anderen. Das Bild war innerhalb von Sekunden fahl. Lara stutzte. Das war eben in dem anderen Raum doch auch mit einer Vase passiert. Gerade war sie noch schwarz-rot gewesen und plötzlich hatte sie die Farbe in ein gräuliches Lila gewechselt. Jetzt reichte es aber. Was war das denn hier für ein seltsamer Ort?

Sie ging zu dem Referendar, der sich zum wiederholten Male die Brille zurechtrückte. „Äh, Herr Krenzler, das Bild hier hat gerade die Farbe gewechselt.“

Herr Krenzler drehte sich zu Lara und lächelte freundlich. „Aber Lara, das kann nicht sein. Wahrscheinlich… äh… hat gerade die Sonne durch das Oberfenster geschienen und auf Grund der neuen Lichtverhältnisse hat sich die Farbwirkung des Bildes etwas geändert. Lass uns mal weitergehen.“

Lara schüttelte leicht den Kopf. Sie schaute das Bild nochmals an. Nein, es war wirklich aschfahl mit einem leichten Lilaeinschlag. Sie schaute Herrn Krenzler entgeistert hinterher und folgte ihm widerwillig. Dabei drehte sie sich noch mehrmals nach dem verblassten Bild um.

Im nächsten Raum befanden sich Bilder, deren Maler offensichtlich ein Problem hatten, den Pinsel ruhig zu halten. Alles war getupft, nirgends war eine richtige Linie zu erkennen. Zudem wirkten ihre Farben recht blass. Manche Bilder sahen aus, als wären sie regelrecht vergammelt.

„Was ist denn hier passiert?“ fragte Herr Krenzler den kleinen, untersetzten Mann, der ziemlich entsetzt vor einem sehr ergrauten Bild stand und den er offenbar kannte.

„Hans, Mensch, lange nicht mehr gesehen…“ Der Mann erkannte Herrn Krenzler. „Tja, wir vermuten Schimmel. Das Labor kann aber auch nix genaues sagen. Also, mit einem Wort: Wir haben keine Ahnung.“ Der Mann schaute ziemlich resigniert drein und schüttelte hilflos den Kopf.

„Und warum habt Ihr diesen Raum nicht für Besucher gesperrt? Sieht ja echt schlimm aus.“

„Dieser Raum war bis vor einer Stunde noch nicht befallen, ansonsten hätten wir ihn doch zugemacht. Das hier ist mir gerade aufgefallen, als ich noch mal einen Rundgang machen wollte. Wir müssen den Saal sofort schließen.“

„Habt Ihr denn noch mehr solcher Fälle?“

„Und ob, im rechten Trakt mussten wir schon sechs Säle schließen und im linken drei. Hier in der Mitte waren es bis jetzt zwei. Und wir sind nicht das einzige Museum mit diesen Problemen. Überall verblassen die Bilder über Nacht, wie von Geisterhand. Bis jetzt hat noch keiner herausbekommen, woran es liegt. Wie gesagt, wir tippen bis jetzt auf Schimmel, aber man kann keine Spuren eines Schimmelpilzes an den Bildern feststellen. Man kann genau genommen gar nichts feststellen. Die Oberfläche ist vollkommen unbeschädigt. Die Farbsubstanz ist unverändert. Schau hier, an der Struktur hat sich nichts geändert. Man sieht immer noch die Pinselspuren. Es ist, als wären die Farben einfach aus den Bildern verschwunden und es bleibt nur noch ein seltsames Grau mit einem leichten Lilastich…“

„Ja, dass Ihr Hornochsen das Problem nicht erkennt, ist mir klar. Und das ist erst der Anfang.“ Lara hatte ganz vergessen, dass sie ja einen kleinen Verfolger hatte. Peter schaute erst ihn und dann sie ungläubig an.

„Wo hast Du denn den Kobold her?“

„Ich bin…“ wollte der Knonk gerade in lautem Ton ansetzen, da hielt Lara ihm den Mund zu.

„Pst“, zischte sie ihm zu. Dann schaute sie Peter wieder an. „Das ist ein Knonk. Den hab ich in dem anderen Raum getroffen. Ich weiß auch nicht, wo er herkommt. Aber ich glaube, er ist sehr anhänglich.“

Der Knonk schaute die beiden böse an. Lara warf ihm einen drohenden Blick zu und nahm dann die Hand von seinem Mund. Er verkniff sich weiteres Geschwätz, wirkte aber äußerst entnervt.

Herr Krenzler verabschiedete sich von dem Mann und lotste die Gruppe in einen anderen Ausstellungsraum. Hier hingen Bilder, die zeigten nichts außer Farben. Eine Leinwand war ganz violett. Lara stutzte. Was sollte das denn nun?

Sieben Farben

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